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Die erschöpften Subjekte und die Revolution Arbeit 4.0

Heiner Keupp
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 23 (2018), Ausgabe 1]

 

Zusammenfassung

Wenn man die von allen Krankenkassen gemeldeten Zuwachsraten an psychosozialen Problemen als Hinweis auf ständig wachsende Belastungen in der Arbeit- und Lebenswelt der Menschen versteht, dann stellt sich die Frage, ob sich dieser Trend durch die zunehmende Digitalisierung, die unter Stichworten wie Arbeit 4.0 oder Gesellschaft 4.0 diskutiert wird, verstärken wird. Der Innovationseuphorie, die von der propagandistischen Verkündigung einer neuen industriellen Revolution verbreitet wird, ist eine kritische Analyse entgegenzusetzen. Sie hat nach den psychosozialen Kosten der zu erwartenden technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen zu fragen und Möglichkeiten der Prävention aufzuzeigen.

Schlüsselwörter: Digitalisierung, Arbeit 4.0, Proteische Karriere, erschöpftes Selbst, Burnout, Depression

Summary

The exhausted Self and the revolution Work 4.0
If the growth rates of psychosocial problems reported by all health insurances are understood as an indication of constantly increasing burdens in the working and living environment of the people, then the question arises, whether this trend, discussed under key words like Work 4.0 or Society 4.0, will be intensified by the increasing digitalization. The innovation euphoria, which is spread by the propagandistic proclamation of a new industrial revolution, has to be opposed by critical analysis. We have to ask about the psychosocial costs of the expected technological and social changes and to point out possibilities of prevention.

Keywords: digitalization, Work 4.0, Protean Career, Exhausted Self, burnout, depression



Die Werbung für eine schöne neue Welt ist in vollem Gange: Sie verspricht uns eine neue Revolution, schon die vierte, und sie hat längst ihr Label: Arbeit 4.0 oder Industrie 4.0. Neben der Verkündigung hoffnungsvoller Perspektiven für eine neue Arbeits- und Lebenswelt gibt es auch düstere Prognosen, die vor allem auf die Vernichtung klassischer Arbeitsplätze und Lebensperspektiven zielen.

Eine aktuelle Risikoanalyse hat vor allem die klaren Hinweise zur Kenntnis zu nehmen, dass auch heute schon immer mehr Menschen die Grenzen ihrer Belastbarkeit erleben. Die psychosozialen Grenzüberschreitungen werden in der Zunahme von Burnout und psychischen Störungen, die alle Krankenkassendaten belegen, sichtbar.

Auch wenn ich Zweifel äußere, dass es sinnvoll ist, schon wieder eine neue Revolution auszurufen, finde ich es richtig, die dramatischen Umbrüche in der Arbeits- und Lebenswelt zu analysieren, die seit etwa einem Vierteljahrhundert mit Begriffen wie "Risikogesellschaft", "Zweite Moderne", "Metamorphose", "Spätmoderne", "fluide Moderne" oder "Netzwerkgesellschaft" benannt wurden. Es ist geboten, die in den entsprechenden Analysen benannten Chancen und Risiken aufzunehmen und weiterzuführen.

Meinen Zugang zum Thema möchte ich mit den folgenden Thesen aufzeigen:

  1. Wenn uns eine Revolution mit großem propagandistischen Aufwand angekündigt wird, dann ist erst einmal Skepsis angesagt. Revolutionäre Veränderungen können in aller Regel erst im Nachhinein historisch rekonstruiert werden.
  2. Aus meiner Sicht bedeuten die Prozesse, die unter Arbeit 4.0 angekündigt werden, keinen qualitativen Wandel, sondern eher eine Intensivierung und Beschleunigung der "Metamorphose der Welt" (Beck, 2016) der letzten Jahre.
  3. Von daher ist es notwendig, diese Entwicklungen genauer zu analysieren und ihre Folgen für das Leben und Arbeiten aufzuzeigen.
  4. Diese Folgen erkennen wir vor allem in der ständigen Zunahme von psychischen Belastungen und massiven psychosozialen Problemen.
  5. Was zu tun ist, um diese fatalen Folgen zu verhindern, ist zugleich eine wichtige Antwort auf die weitere digitale Transformation und ihre Folgen für unseren Alltag.

Vom Revolutionspathos der Arbeit 4.0-Propaganda

Wenn schon eine Revolution verkündet wird, dann braucht sie auch ein neues Sprachspiel. In dem sehr lesenswerten Buch des IG-Metall-Vorsitzenden Detlef Wetzel (2015) Arbeit 4.0, in dem er sich durch Gespräche mit Wissenschaftler_innen, Arbeitnehmervertreter_innen und Arbeitgeber_innen ein Bild der zu erwartenden Veränderungen in der Arbeitswelt zu verschaffen versucht, wird er mit einer Kaskade trendiger Begriffe konfrontiert. Hier eine Auswahl: Cyber-Physische Systeme, Mechatronische Systeme, Adaptronische Systeme, Smart Services, Just-in-time-Produktion, SocialMedia@Production, Data@Industry, NextGen Produktionstechnologien, Predictive Maintenance, Cloud Computing, Ambidextrie. Aus der Trendforschung kennen wir diese Tendenz, durch Sprachspiele den Eindruck zu vermitteln, dass etwas ganz revolutionär Neues auf uns zukommt und uns zu Wissenden macht, die auf große Umbrüche vorbereitet sind. Unter dem Titel "Future Values" gibt es etwa eine Publikation von Heiner Barz und einem Team des Heidelberger Instituts GIM (Barz et al., 2001). In diesem Buch wird u.a. mit der "Futurität" eine Schlüsselqualifikation für das begonnene Jahrhundert, die "Zukunftskompetenz" als "überlebensnotwendig" eingeführt und so charakterisiert: "Innovationsbereitschaft und ein fortwährendes Navigieren und Neupositionieren wird für Individuen wie Organisationen, für das Selbstmanagement wie das Produktmarketing unverzichtbar" (ebd., S. 24). Und wer es noch nicht mitbekommen hat, dem sei es ausdrücklich versichert: Es geht um die Überlebensnotwendigkeit, wenn es um "den Besitz von ‚Future Tools' als Accessoires eines zukunftsorientierten Lebensstils" geht und "der immer neue Beweis der eigenen ‚Updatability' gewinn[t] an Bedeutung" (ebd.). Ist das eine Vision oder beschreibt es erst einmal nur den Zeitgeist der Multioptionsgesellschaft, mehr Ideologie als gelebte Realität? Es ist keine Realitätsbeschreibung, aber es schafft Sichtweisen, die wirkmächtig werden können. Wie wir spätestens seit Wittgenstein wissen, transportieren wir mit unseren Sprachspielen mehr als nur Wörter, wir konstruieren immer auch Weltbilder, also Bilder unserer Welt.

Die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (2016) hat sich diese "Zukunftskompetenz" längst angeeignet und in einer Broschüre "11 Fakten zur Arbeit 4.0. Wie die Digitalisierung unsere Jobs verändert" wird ein rundherum positives Bild der schönen neuen Arbeitswelt gezeichnet. Zwar wird konstatiert, dass unsere Welt längst von der Digitalisierung bestimmt wird, aber da noch immer Zweifel und Ängste dominant sind, muss man für eine positive Einstellung zur aktuell sich vollziehenden vierten industriellen Revolution werben. Sie würde viele Chancen eröffnen, neue Freiräume schaffen, eine bessere Vereinbarung von Familie und Beruf ermöglichen oder von körperlicher Arbeit entlasten. Die Digitalisierung würde in hohem Maße neue Jobs schaffen (bis 2025 in Deutschland 390.000 neue Stellen), die Arbeit würde sicherer und flexibler und man hätte mehr Zeit für die eigenen Projekte, es gäbe längere Arbeitsbiografien und soziale Kompetenzen würden wichtiger werden. Es gäbe also keinen Grund, vor dieser digitalisierten Welt und ihren Veränderungen Angst zu haben und die Mehrheit der Deutschen würde eher Vorteile als Nachteile darin sehen.

Die Deutsche Telekom (2015) und die Universität St. Gallen befragten weltweit 60 Experten zu den Megatrends digitaler Arbeit. Fazit der Befragung: Die Digitalisierung wird Arbeit dramatisch verändern. Die Personalressorts in den Unternehmen müssen handeln. Befragt wurden Top-Manager aus der TK- und ICT-Branche, Fachleute von amerikanischen und deutschen Universitäten, Unternehmensberater sowie Vertreter von Verbänden und Gewerkschaften. In 24 Thesen werden die Megatrends der Digitalisierung als Ergebnisse dieser Befragung präsentiert. Die Digitalisierung wird hier nicht als rosarotes Zukunftsszenarium präsentiert. Sie käme nicht "als laues Lüftchen daher, sondern als Sturm. Sie ist disruptiv", bewertet Christian P. Illek, Personalvorstand der Deutschen Telekom AG, die Ergebnisse der Untersuchung. Prognostiziert wird eine Erosion bisheriger Organisationsstrukturen, es werden immer mehr liquide netzwerkartige Systeme entstehen. Hierarchien werden überflüssig. Es kommt zu einer Öffnung und Entgrenzung vormals geschlossener Unternehmensstrukturen. Übergänge zwischen innen und außen werden flüssig, Herrschaftswissen, wie z.B. Patente, verlieren an Wert. Arbeit kennt keine Grenzen mehr, weder in geografischer Hinsicht noch in geregelten Arbeitszeitgrenzen. Die Grenzen zwischen beruflicher und privater Welt verschwimmen immer mehr. Gefordert ist von den Menschen ein hohes Maß an Selbstmanagement. Das Bild der neuen Arbeits- und Lebenswelten, das hier gezeichnet wird, enthält eine bemerkenswerte Mischung von positiv klingenden Facetten, aber viele lösen auch höchst am-bivalente Gefühle aus. Aber auch in diesen 24 gelisteten Trends fehlt die Dimension, die am meisten Ängste auslösen kann. Neben der Verkündigung hoffnungsvoller Perspektive für eine neue Arbeits- und Lebenswelt gibt es auch düstere Prognosen, die vor allem auf die Vernichtung klassischer Arbeitsplätze und Lebensperspektiven zielen. Innerhalb der kommenden zwanzig Jahre sind laut Frey & Osborne (2013) 47 Prozent und damit fast jeder zweite beschäftigte Amerikaner einem hohen Risiko ausgesetzt, den Arbeitsplatz durch Automatisierung und Digitalisierung zu verlieren. Das wären über den Daumen gepeilt 70 Millionen Menschen. Die Inga Bank (2015) sieht 59 Prozent der deutschen Arbeitsplätze bedroht. Gerade solche Prognosen liefern für angstvolle Reaktionen auf die Programmatik von Arbeit 4.0 oder Gesellschaft 4.0 den Nährboden. Auch wenn man diese Angst nicht teilt, wird auf jeden Fall klar, dass wir einen gesellschaftlichen Entwicklungspfad vor uns haben, der auf allen denkbaren Ebenen Ambivalenzen auslöst.

Verfalls- oder Zerfallsdiagnosen haben in Phasen gesellschaftlichen Umbruchs immer Hoch-konjunktur und das ist nicht erstaunlich, denn das ist ja ein Wesensmerkmal jeder dynamischen Entwicklung, dass etwas aufbricht, bislang selbstverständliche Muster nicht mehr tragen und neugestaltet werden müssen, und das ist immer auch Zerstörung. Das Neue entsteht in den Ruinen des bisher Selbstverständlichen. Nicht alles Neue kann für sich beanspruchen, eine neue Normalität zu begründen und nicht alles Vergangene verdient allzu heftige Trauerbekundungen. Gleichwohl gilt, dass gesellschaftliche Umbrüche höchst ambivalente Prozesse darstellen, in denen sich der Abschied von eingelebten und vertrauten Lösungen und die Hoffnung auf neue Potentiale und Chancen mischen. Aber es bleibt nicht bei solchen verständlichen Formen des Abschiednehmens, sondern es entstehen kulturelle Begleitchöre. Einige haben sich auf Untergangsszenarien oder auf die Artikulation regressiver Perspektiven im Sinne von "Retrotopia" (Bauman, 2017) spezialisiert. Es ist notwendig sowohl zu den Marketing- als auch zu den Untergangsgesängen eine nüchterne sozialwissenschaftliche Analyse des globalen Kapitalismus und seiner Folgen für die Berufs- und Alltagswelt als Alternative zu formulieren. Diese Analysen gibt es und sie lassen zweifeln, dass der revolutionäre Bruch gerade jetzt stattfinden soll. Sie zeigen Veränderungsdynamiken auf, die durch Arbeit 4.0 intensiviert werden.

Von dem Marketing für eine Gesellschaft 4.0 zu seriösen sozialwissenschaftlichen Gegenwartsanalysen

Die Digitalisierung ist ein integraler Teil eines seit mehreren Jahrzehnten sich vollziehenden Globalisierungsprozesses und die mit ihm verbundenen Veränderungen sind entsprechend lange schon Gegenstand sozialwissenschaftlicher Gegenwartsanalysen (vgl. die Übersicht von Stalder, 2016). Ein besonders scharfsinniger Interpret des entstehenden globalisierten Netzwerkkapitalismus ist Manuel Castells. Er hat schon 1991 seine tiefgreifenden Folgen so ausgedrückt: Seine Konsequenzen "breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus, und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben" (Castells, 1991, S. 138). Und in seiner großen Studie über den Netzwerkkapitalismus charakterisiert er die Netzwerkgesellschaft über ihren "qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung" (1996, S. 477).

Die Ambivalenzen, die oben angesprochen wurden, hat vor allem Jürgen Habermas (1998) klar benannt. In seinem Büchlein "Die postnationale Konstellation" hat er eine großartige Gegenwartsdiagnose geliefert. Aus ihr will ich nur seine Diagnose eines "Formenwandels sozialer Integration" aufgreifen, der in Folge einer "postnationalen Konstellation" entsteht: "Die Ausweitung von Netzwerken des Waren-, Geld-, Personen- und Nachrichtenverkehrs fördert eine Mobilität, von der eine sprengende Kraft ausgeht" (1998, S. 126). Diese Entwicklung fördert eine "zweideutige Erfahrung": "... die Desintegration haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjudizierenden und gefangennehmenden Verhältnissen. Kurzum, die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entlässt die Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen. Aber es sind dann wenigstens die eigenen Fehler, aus denen sie etwas lernen können" (ebd., S. 126f.).

Im globalisierten Kapitalismus vollziehen sich dramatische Veränderungen auf allen denkbaren Ebenen und in besonderem Maße auch in unseren Lebens- und Innenwelten. Im Titel des posthum erschienenen letzten Werks von Ulrich Beck (2016) ist von der "Metamorphose der Welt" die Rede und damit will er einen grundlegenden Wandel der Lebensverhältnisse im Zuge der Globalisierung kennzeichnen. Anthony Giddens (2001), einer der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostiker, hat folgende Diagnose gestellt: "Die wichtigste der gegenwärtigen globalen Veränderungen betrifft unser Privatleben - Sexualität, Beziehungen, Ehe und Familie. Unsere Einstellungen zu uns selbst und zu der Art und Weise, wie wir Bindungen und Beziehungen mit anderen gestalten, unterliegt überall auf der Welt einer revolutionären Umwälzung. (...) In mancher Hinsicht sind die Veränderungen in diesem Bereich komplizierter und beunruhigender als auf allen anderen Gebieten. (...) Doch dem Strudel der Veränderungen, die unser innerstes Gefühlsleben betreffen, können wir uns nicht entziehen" (S. 69). Globalisierung verändert also den Alltag der Menschen in nachhaltiger Form und damit auch ihre psychischen Befindlichkeiten (vgl. Hantel-Quitmann & Kastner, 2004; Conzen, 2016).

Der mächtige neue Kapitalismus, der die Containergestalt des Nationalstaates demontiert hat, greift unmittelbar auch in die Lebensgestaltung der Subjekte ein. Auch die biographischen Ordnungsmuster erfahren eine reale Dekonstruktion. Am deutlichsten wird das in Erfahrungen der Arbeitswelt. Einer von drei Beschäftigten in den USA hat mit seiner gegenwärtigen Beschäftigung weniger als ein Jahr in seiner aktuellen Firma verbracht. Zwei von drei Beschäftigten sind in ihren aktuellen Jobs weniger als fünf Jahre. Vor 20 Jahren waren in Großbritannien 80 Prozent der beruflichen Tätigkeiten vom Typus der 40 zu 40 (eine 40-Stunden-Woche über 40 Berufsjahre hinweg). Heute gehören gerade noch einmal 30 Prozent zu diesem Typus und ihr Anteil geht weiter zurück.

Kenneth J. Gergen sieht ohne erkennbare Trauer durch die neue Arbeitswelt den "Tod des Selbst", jedenfalls jenes Selbst, das sich der heute allüberall geforderten "Plastizität" nicht zu fügen vermag. Er sagt: "Es gibt wenig Bedarf für das innengeleitete, ‘one-style-for-all' Individuum. Solch eine Person ist beschränkt, engstirnig, unflexibel. (...) Wie feiern jetzt das proteische Sein (...) Man muss in Bewegung sein, das Netzwerk ist riesig, die Verpflichtungen sind viele, Erwartungen sind endlos, Optionen allüberall und die Zeit ist eine knappe Ware" (2000, S. 104). Was hier als neuer Menschentypus gefeiert wird, könnte man im Sinne von Robert Lifton (1993) auch ein "proteisches" Selbst nennen. Dabei wird auf die griechische Mythologie zurückgegriffen, die den Gott Proteus kennt, der in sich zwar nicht die wahre Bestimmung findet, Authentizität würden wir das heute nennen, der aber von einer fluiden Offenheit ist und jede beliebige Gestalt annehmen kann. Die neoliberal getönten Narrationen betonen die grenzenlose Plastizität der menschlichen Psyche und die Steuerungsverantwortung des Ego-Taktikers, der sich endgültig von allen institutionellen Sicherheitsgarantien verabschiedet hat und die Regie über seine Arbeitskraft vollkommen selbst übernommen hat, der "Arbeitskraftunternehmer". Interessanterweise ist bereits von einer "proteischen Karriere" die Rede (Hall, 2004; Briscoe & Hall, 2006). Rosina Gasteiger (2007) greift die US-amerikanische Diskussion auf und schreibt: "In dieser Arbeit wird die Metapher des Proteus verwendet, um die zunehmend in der Arbeitswelt geforderte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zum Ausdruck zu bringen. Während sich Berufslaufbahnen traditionell in ein bis zwei Organisationen entwickelten und durch verhältnismäßig hohe Arbeitsplatzsicherheit gekennzeichnet waren, kristallisieren sich gegenwärtig neue, individualisierte Laufbahnformen heraus. Erwerbstätige müssen immer häufiger mit Veränderungen in der Arbeitswelt zurechtkommen. Gleichzeitig verschieben Organisationen die Verantwortung für die Karriereentwicklung immer mehr auf die Arbeitnehmer. Die Herausforderung für den Einzelnen ist dabei, sich nicht nur flexibel auf immer wieder neue Bedingungen einstellen zu können, sondern zugleich die eigene Identität zu wahren und persönliche Werte und Ziele mit der beruflichen Tätigkeit in Einklang zu bringen. Der amerikanische Laufbahnforscher Douglas Hall (2004) bedient sich in diesem Zusammenhang des Proteus-Mythos der Antike, um zu verdeutlichen, dass berufliche Laufbahnen angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt zunehmend einen proteischen Charakter aufweisen" (S. 15). Die Ambivalenz der Vorlage aus der griechischen Mythologie wird nicht genutzt, um eine solche Entwicklung kritisch zu reflektieren. Sie wird vielmehr zu einer affirmativen Normalität verklärt (Keupp, 2016; Keupp & Dill, 2010).

In seinem viel beachteten Buch "Der flexible Mensch" liefert Richard Sennett (1998) eine weniger positiv gestimmte Analyse der gegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt. Der "Neue Kapitalismus" überschreitet alle Grenzen, demontiert institutionelle Strukturen, in denen sich für die Beschäftigten Berechenbarkeit, Arbeitsplatzsicherheit und Berufserfahrung sedimentieren konnten. An ihre Stelle ist die Erfahrung einer (1) "Drift" getreten: Von einer "langfristigen Ordnung" zu einem "neuen Regime kurzfristiger Zeit" (S. 26). Und es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie dann überhaupt noch Identifikationen, Loyalitäten und Verpflichtungen auf bestimmte Ziele entstehen sollen. Die fortschreitende (2) Deregulierung: Anstelle fester institutioneller Muster treten netzwerkartige Strukturen. Der flexible Kapitalismus baut Strukturen ab, die auf Langfristigkeit und Dauer angelegt sind. "Netzwerkartige Strukturen sind weniger schwerfällig". An Bedeutung gewinnt die "Stärke schwacher Bindungen", womit zum einen gemeint ist, "dass flüchtige Formen von Gemeinsamkeit den Menschen nützlicher seien als langfristige Verbindungen, zum anderen, dass starke soziale Bindungen wie Loyalität ihre Bedeutung verloren hätten" (S. 28). Die permanent geforderte Flexibilität entzieht (3) "festen Charaktereigenschaften" den Boden und erfordert von den Subjekten die Bereitschaft zum "Vermeiden langfristiger Bindungen" und zur "Hinnahme von Fragmentierung". Diesem Prozess geht nach Sennett immer mehr ein begreifbarer Zusammenhang verloren. Die Subjekte erfahren das als (4) Deutungsverlust: "Im flexiblen Regime ist das, was zu tun ist, unlesbar geworden" (S. 81). So entsteht der Menschentyp des (5) flexiblen Menschen, der sich permanent fit hält für die Anpassung an neue Marktentwicklungen, der sich nicht zu sehr an Ort und Zeit bindet, um immer neue Gelegenheiten nutzen zu können. Lebenskohärenz ist auf dieser Basis kaum mehr zu gewinnen. Sennett hat erhebliche Zweifel, ob der flexible Mensch menschenmöglich ist. Zumindest kann er sich nicht verorten und binden. Die wachsenden (6) Gemeinschaftssehnsüchte interpretiert er als regressive Bewegung, eine "Mauer gegen eine feindliche Wirtschaftsordnung" hochzuziehen (S. 190). "Eine der unbeabsichtigten Folgen des modernen Kapitalismus ist die Stärkung des Ortes, die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Gemeinde. All die emotionalen Bedingungen modernen Arbeitens beleben und verstärken diese Sehnsucht: die Ungewissheiten der Flexibilität; das Fehlen von Vertrauen und Verpflichtung; die Oberflächlichkeit des Teamworks; und vor allem die allgegenwärtige Drohung, ins Nichts zu fallen, nichts ‘aus sich machen zu können', das Scheitern daran, durch Arbeit eine Identität zu erlangen. All diese Bedingungen treiben die Menschen dazu, woanders nach Bindung und Tiefe zu suchen" (S. 189 f.). Im Rahmen dieses Deutungsversuchs räumt Sennett dem "Scheitern" oder der mangelnden kommunikativen Bearbeitung des Scheiterns eine zentrale Bedeutung ein: "Das Scheitern ist das große Tabu (...). Das Scheitern ist nicht länger nur eine Aussicht der sehr Armen und Un-terprivilegierten; es ist zu einem häufigen Phänomen im Leben auch der Mittelschicht geworden" (S. 159). Dieses Scheitern wird oft nicht verstanden und mit Opfermythen oder mit Feindbildkonstruktionen beantwortet. Aus der Sicht von Sennett kann es nur bewältigt werden, wenn es den Subjekten gelingt, das Gefühl ziellosen inneren Dahintreibens, also die "drift", zu überwinden. Für wenig geeignet hält er die eine Zeitlang so gerne angebotenen postmodernen Erzählungen. Er zitiert Salman Rushdie als Patchworkpropheten, für den das moderne Ich "ein schwankendes Bauwerk ist, das wir aus Fetzen, Dogmen, Kindheitsverletzungen, Zeitungsartikeln, Zufallsbemerkungen, alten Filmen, kleinen Siegen, Menschen, die wir hassen, und Menschen, die wir lieben, zusammensetzen" (S. 181). Solche Narrationen stellen ideologische Reflexe und kein kritisches Begreifen dar, sie spiegeln "die Erfahrung der Zeit in der modernen Politökonomie": "Ein nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen öffnet - das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, ständigen Risiken entsprechen" (S. 182). Für Sennett befindet sich eine so bestimmte "Psyche in einem Zustand endlosen Werdens - ein Selbst, das sich nie vollendet" und für ihn folgt daraus, dass es "unter diesen Umständen keine zusammenhängende Lebensgeschichte geben (kann), keinen klärenden Moment, der das ganze erleuchtet" (ebd.). Daraus folgt dann auch eine heftige Kritik an postmodernen Narrationen: "Aber wenn man glaubt, dass die ganze Lebensgeschichte nur aus einer willkürlichen Sammlung von Fragmenten besteht, lässt das wenig Möglichkeiten, das plötzliche Scheitern einer Karriere zu verstehen. Und es bleibt kein Spielraum dafür, die Schwere und den Schmerz des Scheiterns zu ermessen, wenn Scheitern nur ein weiterer Zufall ist" (ebd.).

Der Turbokapitalismus hat sich längst in unseren Lebenswelten, in Menschenbildern und in Ideologie verankert. Deshalb sehen wir schon oft gar keine Alternativen und arrangieren uns mit dem scheinbar naturhaften Ablauf der Dinge. Und genau in dieser Mischung von "innerer Kolonisierung" und dem fatalistischen Arrangement mit der Unabwendbarkeit der gesellschaftlichen Abläufe werden wir immer wieder auch zu Komplizen des Status quo und verlieren die Hoffnung, dass es auch sein könnte, dass man etwas gegen die Verhältnisse unternehmen könnte und dass Utopien motivierende Handlungsqualitäten haben können.

Das proteische Menschenbild fördert das "erschöpfte Selbst"

Die Botschaften der Arbeit 4.0-Propheten lassen vermuten, dass mehr vom Gleichen unter den Vorzeichen innovativer Technologien zu erwarten ist und die schon hinreichend beschriebenen psychosozialen Probleme potenziert werden. Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit dem neoliberalen Menschenbild des "modularen Menschen", der mit seiner IKEA-Identität ein "Wesen mit mobilen, disponiblen und austauschbaren Qualitäten darstellt" (Bauman, 1999, S. 158). Oft genug aus der Angst1 heraus, nicht "dabei zu sein", passt er sich in seinen Lebensformen der unaufhaltsamen Beschleunigungsdynamik an (Rosa, 2013). Aber der gesellschaftliche und berufliche Fitness-Parcours hat kein erreichbares Maß, ein Ziel, an dem man ankommen kann, sondern es ist eine nach oben offene Skala, jeder Rekord kann immer noch gesteigert werden. Hier ist trotz Wellness-Industrie keine Chance eine Ökologie der eigenen Ressourcen zu betreiben, sondern in einem unaufhaltsamen Steigerungszirkel läuft alles auf Scheitern und einen Erschöpfungszustand zu.

Die einseitige Vereinnahmung des Proteus in seiner faszinierenden Verwandlungskunst und die Vernachlässigung seines Scheiterns macht diese Figur besonders interessant und führt uns zu der Frage, ob nicht die Fitnesskultur engstens mit der dramatischen Zunahme von Erschöp-fungszuständen und Depressionen zu tun hat. Ines Geipel (2010), ehemalige Weltklassesprinterin aus der Retortenwelt der DDR und reflektierte Wissenschaftlerin, beschäftigt sich nach dem Tod von Robert Enke mit dem Zusammenhang von Depression und Leistungsdruck. Für sie "erzählt sich" die "Depression (...) nicht nur als Metapher oder generischer Begriff, nicht nur als Forschungsmaterial oder Fall für die klinische Psychiatrie", sondern sie eröffnet den Blick auf eine "dunkle Grammatik des Selbst" (S. 8).

Die uns vorliegenden epidemiologischen Daten, die immer stärker die Einschätzung stützen, dass die Depression zur Volkskrankheit Nr. 1 wird, legen die Frage nahe, was dafür die Ursachen sein könnten (vgl. dazu Keupp & Dill, 2010). Der Frankfurter Psychoanalytiker Heinrich Deserno schreibt dazu: "Seit etwa 15 Jahren zeichnet sich deutlich ab, dass Depressionen für den spätmodernen Lebensstil beispielhaft werden könnten, und zwar in dem Sinne, dass sie das Negativbild der Anforderungen beziehungsweise paradoxen Zumutungen der gesellschaftlichen Veränderungen darstellen und deshalb in besorgniserregender Weise zunehmen könnten, wie von der Weltgesundheitsorganisation hochgerechnet: Im Jahr 2020 sollen Depressionen weltweit und in allen Bevölkerungsschichten die zweithäufigste Krankheitsursache sein." Und die deutsche Stimme der WHO, Ilona Kickbusch, hat sich so zu diesem Thema geäußert: "Immer mehr Menschen haben mit einem immer schnelleren Wandel von Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen zu kämpfen. Sie können das Gleichgewicht zwischen Belastungs- und Bewältigungspotentialen nicht mehr aufrechterhalten und werden krank. Depression ist zum Beispiel nach den Statistiken der Weltgesundheitsorganisation eine der wichtigsten Determinanten der Erwerbsunfähigkeit. (...) Schon heute sind weltweit ca. 121 Millionen Menschen von Depressionen betroffen. Denn unser Leben gewinnt zunehmend ‚an Fahrt‘, sei es zwischenmenschlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich oder im Informations- und Freizeitbereich" (2005, S. 15).

Große Aufmerksamkeit hat Ehrenberg (2008) mit seiner Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen zunehmender Depressionsraten gefunden. In seinem Buch "Das erschöpfte Selbst" will er zeigen, dass depressive Verstimmungen, Erschöpfung und Verzweiflung keine Unregelmäßigkeiten, sondern so etwas wie der unvermeidliche Schatten des Karriere- und selbstverwirklichungssüchtigen Selbst der kapitalistischen Moderne um die Jahrtausendwende sind. Dieses Selbst wird gesteuert von der Annahme, dass alles möglich sei. Und dass es ausschließlich in seiner Verantwortung liege, aus der Fülle der Möglichkeiten das je eigene "gelingende" Leben zu stricken. Ehrenberg hält diese Behauptung nicht für richtig, sondern für mächtig. Sie wirkt wie eine innere Stimme, die den Unzufriedenen allerorten hämisch einflüstert, dass es anders hätte kommen können, wenn sie nur die richtige Wahl getroffen hätten. Unter der Last der Verantwortung brechen die solcherart malträtierten Selbste oft zusammen. Die sich epidemisch ausbreitenden depressiven Störungen sind, so Ehrenbergs Diagnose, der folgerichtige Reflex auf eine Gesellschaft, die in immer größerem Maße von den Individuen fordert, ein kreatives, produktives und flexibles Selbst zu sein. Die Parole: "Machen Sie aus sich die Ich-AG!" bringt die Verbindung aus Wertschätzung und Wertschöpfung des allzeit fähigen Individuums auf den Punkt. Das individuelle Selbst hat im selben Maß eine Aufwertung erfahren, wie bestimmte überkommene Normen an Orientierungskraft verlieren.

Auf Ehrenberg aufbauend hat Han (2010) die Gegenwartsgesellschaft als "Müdigkeitsgesell-schaft" charakterisiert. Das beginnende 21. Jahrhundert zeichne sich durch mentale Erkrankungen aus. Depressionen, Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität, Borderline- und Burnout-Syndrome sind nicht mehr mit Antibiotika zu heilen, wie die Krankheiten des historisch gewordenen «bakteriellen Zeitalters». Die neuronalen Verschiebungen können verstanden werden als eine große latente Müdigkeit, die sich auf der Hinterseite der globalen Hyperaktivität der Gegenwart festzusetzen beginnt. Während früher ein Infekt als ‘Anderes‘ und ‚Fremdes‘ erkannt und aus dem System herausgeschafft wurde, gibt es heute kein ‚Außen‘ mehr. Die Lebenswelten der müdigkeitskranken Menschen sind durchsetzt von innen, vom Zuviel des Gleichen. Die allgemeine Beschleunigung führt zur Erschöpfung als Grundzustand des Daseins. Der in den Hamsterrädern der Betriebsamkeit trabende Dauergestresste endet in einer Müdigkeit, die keine positive Potenz mehr hat. Um zu verstehen, wie es zu der "Gewalt der Positivität" in unserem Inneren kommt, nimmt Han die Arbeitswelt in den Blick, die auf Eigenmotivation, Initiativgeist und Selbstverantwortung setzt: Die Disziplinargesellschaft, von der Stechuhr regiert, wurde von der Leistungsgesellschaft abgelöst, in der jeder sich konditioniert, als sei er sein eigener Unternehmer. Die "Negativität des Sollens" hat sich zu einer viel effizienteren "Positivität des Könnens" entwickelt. Obamas millionenfach reproduzierter Slogan "Yes, we can" hat darin seine alptraumhafte Kehrseite. Das sich selbst ausbeutende Subjekt ist Täter und Opfer zugleich, Herr und Knecht in einer Person. Es führt einen Krieg gegen sich selbst und bleibt so oder so als dessen Invalide zurück. Nicht eine erschöpfte, sondern eine ausgebrannte Seele ist das Resultat.

Auf die Grenzen der "unternehmerischen Anrufung" und des "Subjektivierungsregimes" weist auch Bröckling (2007, S. 289) hin: "Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt der Einzelne stets hinter ihnen zurück." Oder an anderer Stelle "Im Unglück der Depressiven wird die Kluft zwischen dem Anspruch an die Individuen und ihren stets unzureichenden Anstrengungen sichtbar" (ebd., S. 290). "Depressive Erschöpfung (ist) die dunkle Seite der auf Dauer gestellten Hyperthymie des unternehmerischen Selbst" (ebd., S. 291). Diesen persönlichkeitsgefährdenden Grenzüberschreitungen des neoliberalen Aktivierungsregimes arbeiten Schule und Hochschule zu. Wie Freytag (2008) aufzeigt, werden sie unter tatkräftiger Mithilfe von Beratungsfirmen umgebaut. In ihrer ursprünglichen begrifflichen Bedeutung sollten sie Orte der Muße sein. Sie werden jetzt zu knowledge-factories für Funktionswissen; ihr persönlichkeitsbildender Ehrgeiz gilt dem unternehmerisch denkenden Selbstvermarkter, der unter den noblen Begriffen der "Selbstständigkeit und Souveränität" die Fähigkeit zum Selbstvollzug heterogener Fremdinteressen erlernt: Im fortgeschrittenen Kapitalismus übernehmen die Beherrschten das Geschäft ihrer Beherrschung selbst.

Wir brauchen eine "Kultur des Scheiterns", weil Scheitern vermehrt zu unserer Erfahrung gehört, weil Scheitern die Basis für Lernprozesse ist, weil Scheitern die Chance zum Neuanfang enthält und weil Scheitern ein Tabu ist. Unsere Kultur wird zunehmend eine "Winner"-Kultur, sie will vor allem Sieger- und Erfolgsgeschichten hören und sie verdrängt die andere Seite der Medaille. Notwendig sind Trauerarbeit und Empowerment. Empowerment heißt, die eigenen Ressourcen und Kräfte wahr- und ernst zu nehmen. Dies heißt auch, sich von den dominierenden ideologischen Menschenbildvorgaben des neoliberalen Herrschaftsmodells ebenso zu befreien wie von der Hoffnung auf eine obrigkeitliche Lösung.

Was folgt aus der Analyse?

1. Subjekte einer individualisierten und globalisierten Gesellschaft können in ihren Identitätsentwürfen nicht mehr problemlos auf kulturell abgesicherte biographische Schnittmuster zurückgreifen. In diesem Prozess stecken ungeheure Potentiale für selbstbestimmte Gestaltungs-räume, aber auch das Risiko und die leidvolle Erfahrung des Scheiterns. Die Zunahme der Depression verweist auf dieses Risiko. Sie ist aber nicht ein "Fluch der Freiheit", sondern verweist auf einen Mangel im "Handwerk der Freiheit".

2. Erforderlich ist eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Menschenbildannahmen. Die Figur des "unternehmerischen Selbst" ist auf den kritischen Prüfstand zu stellen. Sie verweist auf ein neoliberales Menschenbild, das eine maximierte Selbstkontrolle als Fortschritt anpreist. Ausbeutung und Entfremdung wird zunehmend weniger als fremd gesetzter Zwang von Menschen erlebt, sondern wird mehr und mehr zu einer Selbsttechnologie, zu einer Selbstdressur, die allerdings in den Ideologien des Neoliberalismus in einem Freiheits- oder Autonomiediskurs daherkommt.

3. Ein einseitig neoliberal gestalteter Zukunftspfad 4.0 wird die schon klar benennbaren psy-chosozialen Belastungsfolgen verstärken. Es ist wichtig, an den Wertvorstellungen anzuknüpfen, die Menschen in der Studie "Wertewelten Arbeiten 4.0" formuliert haben. Letztlich brauchen wir wieder eine Neuauflage der Projekte zur "Humanisierung der Arbeit", die zugleich auch eine Vision für die Gestaltung einer sozialen und humanen Gesellschaft werden sollte.

4. Die Gestaltung einer sozialen und humanen Gesellschaft kann nicht der Technik und Wirtschaft überlassen werden, sondern erfordert die aktive Beteiligung der zivilgesellschaftlichen Kräfte. Einer technologisch-ökonomischen "Sachzwangargumentation" darf nicht die Regie über zukunftsbezogene Entwicklungsprozesse überlassen werden. Die aktive Bürgergesellschaft generiert die demokratischen Experimentierbaustellen, die zukunftsfähige Lösungen erproben.

Endnoten

  1. Wie die DAK-Daten gezeigt haben, steigen auch Angststörungen erheblich an.

Literatur

Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values. Düsseldorf/Berlin: Metropolitan.

Bauman, Z. (1999). Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg: Hamburger Edition.

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Autor

Heiner Keupp
heinerkeupp@bitte-keinen-spam-psy.lmu.de

Nach 40 Jahren als Hochschullehrer für Sozial- und Gemeindepsychologie lehrt Heiner Keupp jetzt als Gastprofessor an der Universität Bozen. Aktuell forscht er über traumatisierende Folgen von sexualisierter und physischer Gewalt in kirchlichen und pädagogischen Institutionen.



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