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Berufliche Identitätssuche oder das Verhältnis von Psychologie, Psychotherapie und Gemeindepsychologie – eine Versuchungs-Versagungs-Situation?

Cornelia Caspari

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 26 (2021), Ausgabe 1]

 

 

Im folgenden Artikel wird anhand einer exemplarischen Laufbahn die Entwicklung einer psychologischen und psychotherapeutischen Berufsfindung und -ausübung im Kontext berufspolitischer Meilensteine veranschaulicht.

Wir stellen uns eine junge Frau vor, die im Jahr 1992 mit ihrem Studium der Psychologie begann. Wie viele ihrer Kommiliton*innen unterlag sie dem Irrtum, Psychologie und Psychotherapie zu verwechseln. Im Laufe des Grundstudiums wurde immer klarer, dass man mit einem Psychologiestudium noch lange nicht den Beruf einer Psychotherapeut*in ausüben kann. Zweifelnd nahm sie den sich immer deutlicher abzeichnenden Unterschied zur Kenntnis, wobei sie dies damals aber noch nicht wirklich berührte, da sie das Fach Psychologie spannend fand und der Beruf der Psychotherapeutin ihr keineswegs vorschwebte. Bedenklich fand sie nur, dass sie ein Studium beginnt, an dessen Ende man einen großen Anteil des Berufsfeldes nicht unmittelbar ausfüllen kann, sondern dies erst nach einer jahrelangen zusätzlichen Ausbildung mit einem enormen privaten Kostenaufwand möglich sein würde. Nun mag man sich fragen, mit welchem Ausmaß an Naivität sie ihr Studium begonnen hatte, doch war sie mit dieser Fehleinschätzung keineswegs alleine.

1998 war nicht nur das Jahr, in dem sie ihr Studium mit dem Diplom abschloss, sondern auch das Jahr der Einführung der Psychotherapierichtlinie. Diese stellte für einen Teil der Psycholog*innen und schon tätigen Psychotherapeut*innen einen Gewinn dar, da nun endlich auch psychologische Psychotherapie (schon der Begriff eine grandiose Tautologie!) als gesetzliche Kassenleistung anerkannt wurde. Man benötigte fortan nicht mehr Ärzt*innen, die Patient*innen delegierten, sondern konnte selbst die Indikation für eine Behandlung stellen. Doch mit diesem Fortschritt musste die Psychotherapie (hier vor allem der psychologische Zugang zu diesem Feld) eine recht große Kröte schlucken.

Wer ein Stück vom Kuchen abhaben will, muss sich eben mit an den Tisch setzen und das Benehmen bzw. die Regeln der Gastgeber respektieren. Im vorliegenden Zusammenhang bedeutete dies, dass finanzielle Zuteilungen an die Übernahme eines bestimmten Krankheitsverständnisses psychischen Leids gekoppelt waren. Fortan wurden Psychotherapien bezahlt, wenn Patient*innen unter einer seelischen Krankheit litten, die durch eine Behandlung geheilt bzw. deren Behandlung mindestens zu einer Symptomverbesserung führen sollte. Der Krankheitswert psychischen Leids musste im Sinne einer psychischen Störung durch die Vergabe einer psychiatrischen Diagnose und durch den Nachweis einer entsprechenden Behandlungsindikation festgestellt werden, um eine Finanzierung von Psychotherapien durch die Krankenkassen zu erreichen

Diese Vereinbarung hatte zur Folge, dass seelisches Leid seither in Krankheitsentitäten verschlüsselt werden muss und man sich zugleich von einer Krisenperspektive und einem Beratungsmodell verabschiedete. Weiterhin wird dadurch ein ausschließlich individuumszentrierter Ansatz der Psychotherapie finanziert, was erst mit der Zulassung der systemischen Therapie als Kassenleistung Ende 2019 etwas gelockert wurde. Dadurch wurde die bis dahin geltende – und auf einem bestimmten Wissenschaftsverständnis basierende – methodische Beschränkung auf lediglich drei Psychotherapieverfahren (Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse) durch zumindest eine weitere Behandlungsoption ergänzt. Andere Verfahren, wie zum Beispiel die Gesprächspsychotherapie, körperorientierte Verfahren und die Gestalttherapie sind nach wie vor nicht als Kassenleistung zugelassen, was das Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten stark einschränkt.

Doch zurück zur Verschränkung der Berufsbiographie der hier vorgestellten Kollegin mit den politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit einem klinischen Verständnis des Psycholog*innenberufs. 1998 wurde mit der Finanzierung von Leistungen im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie durch die gesetzlichen Krankenkassen (mit den oben genannten Einschränkungen) auch die Ausbildung für Psycholog*innen zu Psychotherapeut*innen festgelegt. Vor allem die darin vorgeschriebene, so genannte PIA-Zeit (Psychologen in Ausbildung, sic!), die aus einem psychiatrischen Praktikum im Ausmaß von 1200 bzw. 1800 Stunden (mit Psychosomatik) bestand und die größtenteils nicht finanziert wurde, schreckte viele Psycholog*innen von dieser Ausbildung ab. Wer kann nach einem abgeschlossenen Diplom- bzw. Masterstudium unentgeltlich über ein Jahr arbeiten, wenn man nicht ein entsprechendes finanzielles Polster hat? Da die nur mit hohem Aufwand erreichbare psychotherapeutische Qualifikation auch im Rahmen klinischer Angestelltenverhältnisse zunehmend als Einstellungskriterium gefordert wurde, wurde es für „Nur-Psycholog*innen“ immer schwieriger, eine entsprechende Stelle zu finden. Nur einzelne Nischen, in denen noch nicht zu viele Psycholog*innen bzw. Psychotherapeut*innen arbeiteten, boten noch eine Lücke, wie zum Beispiel die Arbeit mit Krebspatient*innen, für die man sich mit einer im Vergleich zur Psychotherapieausbildung kürzeren Zusatzfortbildung als Psychoonkolog*in qualifizieren konnte. Doch ist mittlerweile auch dieses Berufssegment für klinisch tätige Psycholog*innen dem Qualifizierungswahn zum Opfer gefallen, da nur noch solche onkologischen Zentren zertifiziert werden, in denen Psychoonkolog*innen mit einer Psychotherapieausbildung und mindestens ein/e approbierte/r Psychotherapeut*in im Team tätig sind. Keinesfalls soll hier gegen eine gute Fort- und Weiterbildung argumentiert werden, vielmehr könnte es ganz im Gegenteil viele spannende und hilfreiche Weiterbildungsangebote für die Arbeit mit Schwererkrankten mit einem entsprechenden Selbsterfahrungsanteil geben. Dies müsste auch jenes notwendige Ausmaß an Inter- und Supervisionen beinhalten, das für diese  anspruchsvolle Arbeit notwendig ist. Doch drängt sich die Frage auf, warum psychoonkologisch Tätige in einer Klinik, die meist einen hohen Durchlauf an Patient*innen und deren Angehörigen mit vielen einzelnen Begegnungen und Beratungen haben, eine Ausbildung benötigen, die auf lange und individuumszentrierte Therapieprozesse fokussiert. Hier ist deutlich eine Fehlqualifizierung zu erkennen, die nach Erlangung einer Approbation durch das Auseinanderdriften zwischen Berufsausbildung und Berufsausübung in Frustration enden kann. Darüber hinaus kann gefragt werden, warum Psycholog*innen durch diese Forderung in ihren Tätigkeitsfeldern weiter eingeschränkt werden und das Studium der Psychologie dadurch weiter disqualifiziert und degradiert wird?

Doch zurück zur Berufslaufbahn der psychologischen Kollegin: Ohne zusätzliche Psychotherapieausbildung fand sie eine Anstellung in einem zertifizierten Brustzentrum eines Klinikums und arbeitete mit Krebspatient*innen. Zum Glück wurde ihr Tätigkeitsspektrum durch die Arbeit in einer psychosomatischen Abteilung erweitert, wo sie Einzel- und Gruppentherapien durchführte. Da aber auch hier der Qualifizierungsdruck stieg, begann sie schlussendlich (trotz Bedenken aufgrund ihrer gemeindepsychologischen Sichtweise) eine Psychotherapieausbildung in einem Richtlinienverfahren, damit sie den mittlerweile vorgeschriebenen Qualifizierungsanforderungen genügen konnte und „unabhängig“ wurde. Wie zuvor von vielen auszubildenden Psychologischen Psychotherapeut*innen berichtet, stellte sich vor allem die PIA-Zeit als eine enorme Belastung dar. Von ihrer bisherigen fünfzehnjährigen klinischen Tätigkeit wurde ihr, wie bei anderen Auszubildenden auch, nichts anerkannt. Das bedeutete, dass sie unentgeltlich (bzw. für 1 € pro Stunde) als Praktikantin, die Einzel- und Gruppentherapien in der Psychiatrie durchführte, arbeitete. Auf diese Weise spart sich die Psychiatrie seit vielen Jahrzehnten enorme Kosten bei der Durchführung von Psychotherapien. Nach sechs Jahren schloss sie die Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin ab. Zeitgleich wurde die Abteilung für Psychosomatik, an der sie arbeitete, an einen Psychiatriekonzern verkauft. Die Kollegin wurde nicht übernommen, da sie nun als approbierte Psychotherapeutin für die im Stellenplan vorgesehene Tätigkeit zu teuer geworden war und man die Stelle mit den nachfolgenden PIAs ausfüllte. Sie arbeitete fortan wieder als „Nur-Psychoonkologin“ und suchte sich eine Anstellung in einer Psychotherapiepraxis, um als Assistentin ihrer Ausbildung entsprechend ambulante Psychotherapien durchführen zu dürfen.

Endlich am Ziel?

Als approbierte Psychologische Psychotherapeutin könnte sie sich nun endlich niederlassen und die Ausgaben der teuren Ausbildung durch einen eigenen Kassensitz wieder wettmachen. Aber auch hier gilt die Maxime, dass man schon ein gutes finanzielles Polster mitbringen sollte, um sich zum Beispiel in Köln einen halben Kassensitz für 70.000 € leisten zu können. Abgesehen davon, dass man ohne Beziehungen meist keinen bekommt, da die Kassensitze – ungeachtet der offiziellen Zulassungsmodalitäten – unter der Hand vergeben werden. Zu beobachten ist darüber hinaus die zunehmende Anzahl von Gründungen Medizinischer Versorgungs-Zentren (MVZ), die häufig von Betriebswirten oder ähnlichen fachfremden Berufsgruppen aufgebaut werden, von denen psychotherapeutische Fachkräfte kostengünstig eingestellt werden. Der Gewinn bleibt dabei häufig beim Gesellschafter. Aktuell wurde der in diesem Beitrag vorgestellten Kollegin die Möglichkeit unterbreitet, als Geschäftsführerin in ein MVZ einzusteigen. Ein interessantes Angebot, wenn man das Ziel hat, Geld zu verdienen. Dies führt recht unmittelbar zu dem schönen – aus der Psychoanalyse bekannten – Ausdruck einer so genannten Versuchungs-Versagungs-Situation, in der die ambivalente Konfrontation mit einem Luxusproblem einen intrapsychischen Konflikt auslöst, der zur Dekompensation führen kann.

Bleibt die Frage, warum gesundheitliche Versorgung privatisiert werden muss? Warum gibt es Niederlassungen? Warum verdienen Menschen und Institutionen an der Behandlung von Krankheiten? Und warum wird der Gesundheitsbereich nicht durch eine rein öffentliche Versorgungsstruktur repräsentiert? Seit vielen Jahren möchte die Kollegin an der Klinik (eine der letzten kommunal geführten Häuser in der Region) eine psychoonkologische Ambulanz etablieren, aber dies ist schwer durchzusetzen, da eine solche in Konkurrenz zum niedergelassenen Versorgungssektor stehen würde und die Krankenkasse keine weiteren Zulassungen vergeben möchte.

Somit ist die Einführung des neuen Studiengangs „Psychotherapie“ nur ein kleiner Tropfen, um die Ausbildung für Psycholog*innen zu verbessern und der Ausbildung der Mediziner*innen anzunähern. Es bleiben grundlegende Bedenken und Schwierigkeiten in Bezug auf die Versorgung so genannter „Patient*innen“, die einer Psychotherapie bzw. psychosozialen Unterstützung bedürfen.

Um eine Versorgungslandschaft zu schaffen, in der Menschen mit psychischen Problemen und in Krisen aufgefangen werden können, ist diese erneute Reform kein wirklicher Ansatz. Das Anliegen kann nur sein, dass Gesundheit eine Aufgabe der Gemeinschaft wird und Gewinnoptimierung bei der Versorgung von beeinträchtigen Menschen und Kranken keine Rolle spielen darf.

So gesehen, müsste die Kollegin ihre Konsequenzen ziehen, aber wer weiß, noch laufen ihre Bewerbungen für eine eigene Niederlassung …

Autorin

Cornelia Caspari
corncasp@bitte-keinen-spam-gmx.de


Dr. phil., Psychologische Psychotherapeutin, München

 

 

 



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