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Handlungsbefähigung als wichtige Ressource für das Altwerden in einer unübersichtlichen Welt

Helga Dill

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 27 (2022), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Die aktuellen gesellschaftlichen Krisen lassen bisherige Normalitätskonstruktionen obsolet erscheinen und verstärken den Verlust von Orientierungspunkten. Gleichzeitig werden Verantwortungen für die Lebensgestaltung den Subjekten zugeschrieben. Dies gilt auch für das Alter und das Altern. Die Notwendigkeit des Zusammenspiels von personalen Ressourcen wie der Handlungsbefähigung und sozialen und materiellen Ressourcen zeigt sich im Alter auf besondere Weise.

 

Schüsselwörter: Krise, Altern, Arbeit, Ressourcen, Handlungsbefähigung, Selbstsorge

 

Summary

Handlungsbefähigung as an important resource for growing old in a confusing world

 

The current social crises make previous constructions of normality appear obsolete and increase the loss of points of reference. At the same time, responsibilities for shaping one’s life are ascribed to the subjects. This also applies to old age and aging. The need for the interaction of personal resources, such as the ability to act, and social and material resources is particularly evident in old age.


Keywords: crisis, aging, work, resources, Handlungsbefähigung, self-care

 

Das Ende der Normalität?

Sozialwissenschaftler:innen beschreiben das 21. Jahrhundert als Zeitalter der Krisen. Seit der friedlichen Revolution von 1989 und dem Zerfall des sozialistischen Blocks zeigen sich verzögert und mit Wucht die Folgen als Erschütterung der bis dahin ordentlich zweigeteilten Welt. Eine Folge, die mit den Krisen unmittelbar zusammenhängt, war der Siegeszug des Kapitalismus, der global und entfesselt die Jahrtausendwende dominierte. Und seither häufen sich die Krisen in bisher ungewohntem Maße: Finanzkrise, Klimakrise, Flüchtlingskrise, Pandemie … Schon vor dem Krieg in Europa, der aktuell die sicher geglaubten Gewissheiten in Frage stellt, war „nichts mehr normal“, wie es Stephan Lessenich in seiner prägnanten, aktuellen Gesellschaftsdiagnose feststellt (Lessenich, 2022).

Normalität war aber schon „früher“ ein vielschichtiger Begriff. Und die nostalgisch motivierte positive Färbung ist eine äußerst subjektive Bestimmung. Es gab eine Zeit, in der war es normal, dass Frauen nicht wählen und ohne Zustimmung eines Mannes keiner Erwerbstätigkeit nachgehen durften. Es war normal als homosexueller Mann für das Ausleben der Sexualität strafrechtlich verurteilt zu werden, als Kind einer alleinerziehenden Mutter in ein Heim zu kommen und dort verschiedensten Gewaltformen schutzlos ausgeliefert zu sein. Alles dies ist natürlich nicht gemeint, wenn die vergangene Normalität verklärt wird. Aber dennoch hat das Normale einen positiven Klang, geht es doch um vermeintliche oder tatsächliche Orientierungen für das alltägliche Leben.

„Was auf der Seite des Normalen verortet wird, wird gebilligt oder ist zumindest hinzunehmen; auf der anderen Seite der Unterscheidung hingegen, jener des Anormalen, findet sich all das wieder, was den Urteilenden als unangemessen und inakzeptabel gilt“ (Lessenich, 2022, S.14).

Diese Normalitätskonstruktionen bieten Halt für die eigene Verortung der Subjekte in der unübersichtlichen Welt.

 

Entgrenzung und Subjektivierungsprozesse – das Ende der Normalbiografie?

Diese Unübersichtlichkeit zog im Gefolge der Individualisierungsprozesse der Postmoderne in die Gesellschaften der westlichen Industrienationen ein. Parallel zum Siegeszug des globalen Kapitalismus lösten sich die gesellschaftlichen Muster für die Lebensführung auf. Die Menschen stehen vor der Notwendigkeit, individuelle Muster für ihre Lebensführung, ihre Alltagsorganisation, für ihr Selbst zu finden. Die „Kinder der Freiheit“, wie Ulrich Beck (2007) sie genannt hat, sind damit befreit von den rigiden Normen gesellschaftlich vorgegebener Lebensentwürfe. Gleichzeitig sind sie damit aber einer neuen Verantwortung für ihre eigene Lebensgestaltung unterworfen. Die Folgen dieser Umwälzungsprozesse waren und sind besonders in der Sphäre der Erwerbsarbeit zu beobachten.

Das jahrzehntelang gültige Paradigma von der Normalbiografie wird abgelöst durch weitreichende Flexibilisierungs- und Auflösungsprozesse (Dill & Keupp, 2015). Flexible Arbeitsformen setzen sich mehr und mehr durch. Aber auch das erlernte berufliche Wissen reicht nicht mehr für ein ganzes Berufsleben. Technische Innovationen in rascher Folge führen dazu, dass ständige Fort- und Weiterbildungen nötig sind. Lebenslanges Lernen kann auch bedeuten, dass der erlernte Beruf nicht mehr marktgängig ist. Flexibilität wird somit nicht nur für die Arbeitszeiten verlangt. Spätestens in der Corona-Pandemie haben wir gelernt, dass in vielen Arbeitsfeldern die Arbeitsorte flexibel gewählt werden können.

Die Notwendigkeit zur Flexibilität hat aber ihren Preis. Entgrenzte Arbeit, das Verschwimmen der Grenzen von Arbeit und privatem Leben, waren schon vor der Pandemie ein zentrales Thema der Gesellschaftsdiagnosen. Fritz Böhle spricht von der Subjektivierung von Arbeit (Böhle, 2010). Neue Managementformen verlagern Verantwortlichkeiten in das arbeitende Subjekt. Ulrich Bröckling hat dafür den Begriff des „unternehmerischen Selbst“ geprägt (Bröckling, 2007). Ein unternehmerisches Selbst sollen wir alle werden – von der Projektleiterin im IT-Startup bis zum Rider beim Lieferdienst. Das unternehmerische Selbst ist die ideologische Unterfütterung für den „Arbeitskraftunternehmer“, den Günther Voß und Hans Pongratz schon Ende der 1990er Jahre als neues Leitbild der Arbeitswelt beschrieben haben. Die Arbeitskraftunternehmerin managt ihr Produkt, das sie zu Markte tragen kann – ihre Arbeitskraft (Voß & Pongratz, 1998). Dazu müssen sich die Arbeitenden Selbstorganisationsinstrumente aneignen.

„Die Selbstverantwortung führt auf diese Weise zu einer Selbstökonomisierung der eigenen Arbeit und hierüber wiederum vermittelt zur Selbstrationalisierung. Unternehmerisches Denken rangiert daher mit an oberster Stelle der in der Arbeitswelt neu geforderten Kompetenzen“ (Böhle, 2010, S.87).

Diese schöne neue Arbeitswelt (Beck, 2007) hat die Prekarisierung weiterer, bis dato angesehener Tätigkeiten im Gefolge. Und birgt gleichzeitig hohes Überforderungspotenzial.

Schon vor der Corona-Pandemie war die „erschöpfte Gesellschaft“ eine der zentralen Gesellschaftsdiagnosen. Alain Ehrenberg hatte die Depression als Gesellschaftskrankheit der zweiten Moderne identifiziert: „Depression ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative“ (Ehrenberg, 2008).

Die Unübersichtlichkeit der Welt, die Anforderungen an das Selbst, die auch im privaten Leben keine Misserfolge dulden, führen dazu, dass die psychischen Erkrankungen seit der Jahrtausendwende zunehmen und in den Statistiken der Krankenkassen Spitzenplätze bei den Fehlzeiten einnehmen (s. z.B. Techniker Krankenkasse, 2021). Den zunehmenden individuellen Erschöpfungsdiagnosen auf der einen Seite stehen neue Anforderungen an die jungen Alten auf der anderen Seite gegenüber.

 

Altern als individuelles und gesellschaftliches Risiko

Der demografische Wandel ist als Krisenszenario derzeit von den aktuellen Mega-Krisen überlagert. Pandemie, Energiekrise und Krieg in Europa lassen die alternde Gesellschaft in den Hintergrund treten. An der Tatsache der Zunahme der Altersbevölkerung hat sich aber nichts geändert. So nimmt der Anteil der jüngeren Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung stetig ab. 1970 waren noch 29,7 % unter 20 Jahre alt. Im Jahr 2018 sank deren Anteil auf 18,7 %. Gleichzeitig wächst der Anteil der Menschen, die 67 Jahre oder älter sind. 1970 traf das für 11,1 % zu. 2018 waren es 19,2 %. Nach den Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes wird sich dieser Trend bis ins Jahr 2060 fortsetzen. Bis dahin reichen momentan die Modellrechnungen.

Dies hat Folgen für die sogenannte mittlere Generation, also diejenigen, die zwischen 20 und 66 Jahre alt und somit im erwerbsfähigen Alter sind. Diese mittlere Generation hat Versorgungsaufgaben gegenüber den Jungen und gegenüber den Alten. Es geht zum einen um die Sicherstellung der Sozialleistungen durch die erwerbstätigen Jahrgänge, zum anderen aber auch um die Sicherstellung von Pflege und Betreuung. Im Jahr 2018 entfielen auf 100 Personen im erwerbsfähigen Alter 29,4 Menschen unter 20 Jahren und 30,5 über 67-jährige. Insgesamt hatten statistisch also 100 Menschen der mittleren Generation für 59,9 Jüngere und Ältere zu sorgen. Dies könnte nach der Modellrechnung bis ins Jahr 2060 anwachsen. Dann könnten 100 Menschen der mittleren Generation für 33 Jüngere und 50,2 Ältere zu sorgen haben, insgesamt also für 83,2 (bpb, 2020). Für die Älteren ist damit das Risiko verbunden, dass Hilfe- und Pflegebedarf nicht mehr gedeckt werden können – weder familiär noch professionell.

Der demografische Wandel geht auf verschiedene Faktoren zurück. Sinkende Geburtenraten, steigende Lebenserwartung durch verbesserte medizinische Versorgung und steigenden Wohlstand sind zentrale Einflussgrößen. Dazu kommen aber noch viele andere Faktoren. Sozialpolitische wie Zuwanderung und Lebensbedingungen sowie biografische wie Bildung, Berufsbiografie und Lebensgestaltung. Einfluss hat aber auch das jeweilige gesellschaftliche Altersbild und wie es sich in der Selbstwahrnehmung niederschlägt.

Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren Lebensübergänge klar markiert und mit den jeweils passenden Entwicklungsaufgaben versehen. Erikson sah diese Entwicklungsaufgaben zunächst mit der Adoleszenz abgeschlossen, erweiterte in seinem epigenetischen Schema der Identitätsentwicklung diese Entwicklung aber bis in höhere Lebensalter (Erikson, 1966).

Wir leben heute in einer Welt, die zusehends unübersichtlich wird, immer neue Entscheidungen von jedem einzelnen Individuum verlangt und immer wieder neu die Verortung in pluralisierten Lebensformen erfordert. In dieser Welt wird der Prozess der Persönlichkeitsentwicklung als diskontinuierlicher lebenslanger Prozess beschrieben. Identitätsarbeit wird zum „Patchworking“ (Keupp et al., 20135). Die Fragen „Wer bin ich?“, „Wer war ich?“ und „Wer will ich sein?“ müssen in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich beantwortet werden. Die subjektive Selbstthematisierung der eigenen Erfahrungen führt zu einem Bündel von Teilidentitäten, die im Lebensverlauf in unterschiedlichen Gewichtungen zueinanderstehen, unterschiedliche Entwicklungsaufgaben verlangen.

 

Verlängerte Lebensarbeitszeit braucht positive Altersbilder

Auch die sozialwissenschaftlichen Alterstheorien passen sich diesen veränderten gesellschaftlichen Lebensformen an und spiegeln gesellschaftliche und arbeitsmarktpolitische Entwicklungen wider. Am hartnäckigsten hat sich im gesellschaftlichen und individuellen Bewusstsein das Defizitmodell festgesetzt. Obwohl diese Theorie des kontinuierlichen geistigen und körperlichen Abbaus mehrfach widerlegt worden ist, obwohl andere Alterstheorien die (neuen) Aktivitäten und Kompetenzen im Alter betonen, hält sich das Bild vom Altern als Ansammlung von Defiziten – wie in unzähligen, launigen Gedichten, Liedern und Volksweisheiten überliefert. In der Realität spielt sich Altern aber im Spannungsfeld verschiedener Diskurse (und gesellschafts- wie arbeitspolitischer Entwicklungen) ab. Momentan erleben wir eine große Ambivalenz gegenüber Alter und Alterungsprozessen.

Der skizzierte demografische Wandel führt zu einem Mangel an Fachkräften in vielen Branchen. Was sich vor der Pandemie bereits angedeutet hat, hat in der pandemischen Zeit geradezu dramatische Auswirkungen bekommen. Fachkraftmangel erschwert die Aufrechterhaltung des Betriebs in etlichen Arbeitsfeldern: Erzieher:innen, Pflegekräfte, Lehrer:innen, Techniker:innen und IT-Expert:innen fehlen schon seit längerem. Mittlerweile sind auch andere Arbeitsfelder durch den Arbeitskräftemangel bedroht. Eine Kompensation liegt darin, die Arbeitszeit, den Arbeitseinsatz der verbliebenen Arbeitskräfte zu verlängern. Die Wiedereinführung der 40 und mehr Stunden Wochenarbeitszeit gehört ebenso dazu, wie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Eine stufenweise Anhebung des Regelrentenalters auf 67 ist bereits seit 2012 erfolgt. Derzeit wird über einen Rentenbeginn ab 70 nachgedacht.

Eine verlängerte Lebensarbeitszeit erfordert ein positives Altersbild. Zumindest müssen die altersbedingten Abbauprozesse nach hinten verschoben werden. Propagiert werden also die Best Ager, die Silver Ager – vitale, leistungsfähige Menschen, die nicht mehr ganz jung sind, aber im Berufs- und Privatleben aktiv.

„Die Älteren auf dem Arbeitsmarkt werden künftig nicht mehr als ruhebedürftige Auslaufmodelle gelten können. Sie werden zu einer wichtigen Personalressource im Kampf gegen Fachkraftmangel“ (Dill & Keupp, 2015, S. 12).

Gleichzeitig behalten negative Altersbilder ihre Prägekraft. In der Pandemie haben wir wieder gelernt, alte Menschen als Risikogruppe wahrzunehmen, die besonders geschützt, aber dadurch auch besonders ausgegrenzt wurden (Schulz-Nieswandt, 2021). Und ein medial angeheizter Generationenkonflikt lässt die Älteren mitunter als egozentrische, selbstgerechte Katalysatoren der Klimakrise erscheinen.

Auch im Erwerbsleben stehen die beiden Altersbilder nebeneinander. Die Älteren als wichtige Personalressourcen werden vor allem bei den Wissensarbeitern verortet, die in ihrem Berufsleben wenig körperlichem Verschleiß ausgesetzt waren. Gerade die Wissensarbeiter:innen sind aber in besonderem Maße von der fluide werdenden Arbeitswelt betroffen. Projektförmiges Arbeiten, befristete Verträge und rasch aufeinander folgende Innovationen erfordern eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von den Beschäftigten. Und das erfordert auch, den älteren Menschen Innovations- und Kreativitätspotenziale zuzuerkennen und gleichzeitig Erfahrungswissen als wertvolle Ressource zu erkennen. Auch die Generation, die heute in das Rentenalter kommt, hatte sich zu Teilen bereits von der Normalbiografie verabschieden müssen. Diskontinuierliches Arbeiten wird mehr und mehr zur Norm. Auch hier ist nichts mehr normal, wie Stephan Lessenich (2022) konstatiert.

 

Die Alterskraftunternehmer:innen

Die oben skizzierten Prozesse der Selbststeuerung, die Entwicklung des unternehmerischen Selbst führen ebenso wie sozialversicherungsrechtliche Veränderungen dazu, dass immer mehr Menschen ihre Erwerbstätigkeit im Alter fortsetzen – die einen freiwillig, die anderen aus ökonomischen Notwendigkeiten heraus. Diskontinuität – aus welchen Gründen auch immer – führt in der Regel zu Einbußen bei der Alterssicherung. Das heißt, die Notwendigkeit, fit und aktiv dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, besteht für viele auch jenseits der Regelaltersgrenze. Selbststeuerung und Selbstmanagement bleiben damit auch Altersaufgaben. Der Arbeitskraftunternehmer/die Arbeitskraftunternehmerin können in das Alter verlängert werden als Alterskraftunternehmer/Alterskraftunternehmerin (Denninger et al., 2014; Dill & Keupp, 2015).

Die Alterskraftunternehmer:innen müssen ihre Kompetenzen und Erfahrungen managen, müssen sowohl Erfahrungswissen ins Feld führen als auch Flexibilität, Lernfähigkeit und Innovationskraft sichtbar machen. Sie müssen mit zunehmenden Unsicherheiten zurechtkommen und steigende psychische Belastungen, Distress abfedern. Und bei all dem soll die Selbstsorge nicht zu kurz kommen. Das klingt nach einer kaum zu bewältigenden Aufgabe.

 

Handlungsbefähigung als Metakompetenz

Für die Bewältigung von Risikoerfahrungen, Unsicherheiten und die Bewältigung von Unplanbarem ist vielmehr ein Bündel von Ressourcen notwendig. Neben den materiellen und sozialen Ressourcen gehören dazu auch personale Ressourcen. Hier scheint Handlungsbefähigung als Metakompetenz eine besondere Rolle bei der Lebensbewältigung zu spielen.

Das Konzept der Handlungsbefähigung wird seit den 1970er Jahren verwendet, um ein Bündel von Persönlichkeitseigenschaften zu beschreiben, das den Subjekten erlaubt, Handlungsoptionen situativ angemessen einzuschätzen. In der soziologischen Diskussion wird Handlungsbefähigung vor allem in bildungs- und sozialisationstheoretischer Perspektive behandelt. Nach Grundmann ist zentraler Bestandteil der Handlungsbefähigung „eine pragmatische Handlungsorientierung, die objektive und subjektive Ressourcen angemessen erkennt“ (S. 57) und die kontextbezogen eingesetzt werden kann, also in den verschiedenen Lebensbereichen bzw. Sozialisationspraxen wie Familie, Schule etc. (Grundmann, 2006). Eng verknüpft mit dem Theorem der Handlungsbefähigung sind erziehungswissenschaftliche (Otto & Ziegler, 2009), wirtschaftswissenschaftliche (Sen, 1985) und sozialpsychologische Konzepte (Bandura, 1977). Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen die Frage nach der Lebens- und Alltagsbewältigung. Die verschiedenen Forschungen dazu zeigen immer wieder, dass Personen mit gleicher oder ähnlicher Ausstattung an äußeren Faktoren (materielle, soziale Ressourcen) mit Belastungen unterschiedlich umgehen. Vereinfacht ausgedrückt gelingt es manchen besser als anderen, Belastungen zu bewältigen. Bei der Frage nach den Ursachen stößt man auf verschiedene Forschungstraditionen: Resilienzforschung (Entwicklungspsychologie), Kohärenzgefühl und Salutogenese (Gesundheitsforschung), Selbstwirksamkeitskonzepte aus der kognitiven Psychologie sowie soziale Verortung, Netzwerkforschung und das sozialökonomisch grundierte Konzept des Capabilities Approach.

Ausgehend von Aaron Antonovsky (1998), der mit dem Kohärenzgefühl eine wichtige Grundlage für diese personalen Bewältigungsressourcen entwickelt hat, haben Florian Straus und Renate Höfer (2017) das Konzept der Handlungsbefähigung entwickelt. Diese Metakompetenz als dynamisches und zugleich andauerndes Gefühl ist in sechs verschiedene Dimensionen ausdifferenzierbar:

 

Sinnhaftigkeit: Die Anforderungen, vor denen man steht, lohnen Anstrengung und Engagement. Ein subjektiver Sinn ist erkennbar.

Verstehbarkeit: Trotz der zunehmenden Unübersichtlichkeit der Welt und der existenziellen gesellschaftlichen Krisen können die Ereignisse, die Dinge, die einem zustoßen, erklärt und verstanden werden.

Selbstwirksamkeit: das subjektive Gefühl, die Anforderungen von außen aktiv beeinflussen zu können, eigene Absichten und Ziele verwirklichen zu können und Probleme aus eigener Kraft meistern zu können

Perspektivität/Interessen: Konkrete Situationen können aus verschiedenen Perspektiven und mit Interesse, Neugier und Offenheit betrachtet werden.

Sich selbst mögen/Optimismus: Mit einem grundsätzlich positiven Verhältnis zu sich selbst ist das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten verbunden, Empathie und Verständnis – auch für eigene Schwächen.

Zugehörigkeit: Mit Zugehörigkeit ist die soziale Integration verbunden, als Teil eines tragfähigen sozialen Netzwerks kann man sich Unterstützung holen. Andere Menschen, auf die man sich verlassen kann, die einen nicht enttäuschen, geben Vertrauen.

 

 

 

Handlungsbefähigung und Alter(n)

Diese Metakompetenz ist auch im Alter(n) eine zentrale Ressource – sowohl für die aktuellen Anforderungen bzw. Entwicklungsaufgaben als auch für den Rückblick auf die biografischen Erfahrungen. Dies gilt sowohl für die „jungen Alten“ als auch für die Hochbetagten. Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Machbarkeit ermöglichen es den Subjekten, die Herausforderungen des Alters für sich zu verstehen, ihnen Sinn zu geben und eigene Handlungsspielräume zu erkennen. Der positive Selbstwert, sich selbst zu mögen und mit Nachsicht zu behandeln, korrespondiert im Alterungsprozess mit einer eher positiven Lebensbilanz. Dazu trägt auch die Perspektivität bei, also die Fähigkeit, Vergangenes und Aktuelles aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen (Mead, 19783). Und nicht zuletzt die soziale Integration, das Eingebundensein in ein tragfähiges soziales Netzwerk ist eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Altern, denn Einsamkeit ist ein großer Risikofaktor im Alter.

Immer mehr Menschen, vor allem in den Städten, leben alleine. Dieser Trend zur Singularisierung ist im jüngeren bis mittleren Lebensalter vielleicht noch Ausdruck von Individualität und Unabhängigkeit, bekommt aber im Alter existenzielle Auswirkungen: keine Ansprache, kein Austausch, keine Betreuung.

Gerade die aktuelle Situation der sich in rascher Folge abwechselnden Krisen zeigt, dass auf gelernte und gewohnte Normalitätskonzepte kein Verlass mehr ist. Handlungsbefähigung als Metakompetenz ist im Sinne von Aaron Antonovsky (1998) Schwimmunterricht, um in den Strudeln des Lebens zu bestehen. Die These ist, dass die hier analysierte Metakompetenz Menschen überhaupt erst in die Lage versetzt, die ihnen zur Verfügung stehenden sozialen, kulturellen und materiellen Ressourcen angemessen zu nutzen. Nötig ist ein Zusammenspiel zwischen der Handlungsbefähigung und den aktuell zur Verfügung stehenden sozialen, kulturellen und materiellen Ressourcen, damit ein Mensch neue biografische Herausforderung positiv wahrnehmen kann.

 

Weiterführende Forschungsfragen

Handlungsbefähigung bleibt auch für den Prozess des Alterns eine wichtige Metakompetenz, um die spezifischen Herausforderungen der verschiedenen Altersübergänge gestalten zu können. Dabei ist das Inbeziehungsetzen von personalen, materiellen und sozialen Ressourcen wichtig, um die gesellschaftliche Dimension im Blick zu behalten. Werden doch je nach gesellschaftlichen Notwendigkeiten (Erwerbstätigkeit, Betreuungsaufgaben etc.) immer wieder neue gesellschaftliche Entwicklungsaufgaben für die höheren Lebensalter propagiert.

Die Entwicklung dieser Metakompetenz mit dem Älterwerden und im Kontext von biophysischen Abbauprozessen wäre empirisch noch genauer in den Blick zu nehmen.

Wie gestaltet sich die Wechselwirkung der verschiedenen Dimensionen von Handlungsbefähigung bei altersbedingten Verlusterfahrungen (Verlust von Ansehen, von Wohlstand, von Menschen, von Fähigkeiten, von Erinnerungen)? Dazu kommen die Verlusterfahrungen, die angesichts der aktuellen Krisen die gesamte Gesellschaft treffen. Ändert sich die Bedeutung der einzelnen Dimensionen im Alterungsprozess? Kann man beispielsweise auch bei dementiellen Veränderungen noch von Verstehbarkeit, Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit für die davon Betroffenen sprechen?

Wie kann die Handlungsbefähigung im Alter(n) gestärkt oder zumindest erhalten werden, um die Herausforderungen der späteren Lebensphasen gut bewältigen zu können? Und um die Krisenfolgen abzumildern, denn neben der individuellen Erfahrung, dass sich im Alter gewohnte Normalitäten der Mitte des Lebens verändern, erleben wir aktuell den Zerfall der gesellschaftlichen Normalität. Stephan Lessenich konstatiert in Anlehnung an das, was Helmut Dubiel schon Mitte der 1980er Jahre diagnostiziert hat: „Wir erleben heute (…) die Lösung von Affektbindungen an die alte Ordnung. Diese wird getrieben durch <kollektive Kränkungserfahrungen …. Statusängste und frustrierte Glückserfahrungen>“ (Lessenich, 2022, S. 128). Für die Generationen, die in Deutschland heute an der Schwelle des Alters stehen oder diese gerade überschritten haben, ist dieser Zerfall der Normalität deswegen besonders erschütternd, weil sie bisher – anders als die Vorgängergenerationen – kaum gesellschaftlich existenzielle Krisen erlebt haben. Sie hatten vielmehr große Gestaltungsspielräume, mussten dafür aber den Preis bezahlen, für Erfahrungen des Scheiterns auch selbst verantwortlich gemacht zu werden.

Da liegt die Gefahr nahe, auch für Erwerb, Erhalt und Verbesserung der materiellen, sozialen und personalen Ressourcen selbst verantwortlich gemacht zu werden. Scheitern ist in einer auf Erfolg programmierten Lebenswelt besonders bitter und wird in den Augen der anderen und in den eigenen Augen schnell zum persönlichen Versagen. Da liegt es nahe, Zuflucht in Strategien der Selbstoptimierung zu suchen und an den personalen Ressourcen zu arbeiten. Dabei sind die Grenzen zwischen marktorientierter Selbstoptimierung und Selbstsorge fließend. Während Selbstsorge sich im Rahmen von boundary management abspielt, ist die Selbstoptimierung als Ausfluss der Coachinggesellschaft auf Erfolg programmiert. Ohne Zugang zu materiellen und sozialen Ressourcen, ohne Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltung der eigenen Lebenswelt bleibt sie aber ein oberflächlicher Werbetrick. Wie zentral gesellschaftliche Teilhabe und soziale Zugehörigkeit in der Biografie waren, lässt sich an den Risiken des Alters in Deutschland ablesen:

 

Armut im Alter als Ausdruck ungenügender Teilhabechancen am Erwerbsleben. Dies ausschließlich in die Eigenverantwortung der Subjekte zu legen wäre angesichts von arbeitsmarktlichen und familienpolitischen Entwicklungen/Entscheidungen zynisch.

Einsamkeit und Ausgrenzungsprozesse im Alter. Die sozialen Beziehungen sind eingebettet in soziale Zugehörigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Wenn alte oder alternde Menschen aussortiert oder ausgegrenzt werden, hat das viel mit gesellschaftlichen Altersbildern zu tun. Biophysische Abbauprozesse sind unvermeidlich, müssen aber bis in das hohe Alter verschoben werden. Vorher sollen die Alterskraftunternehmer:innen vital und leistungsfähig bleiben, Arbeitskräftemangel und eventuelle Lücken in der eigenen Alterssicherung kompensieren und Care-Aufgaben für die Hochbetagten und die Kinder in der eigenen Familie oder in der Nachbarschaft übernehmen. Selbstsorge tut Not, benötigt aber auch gesellschaftliche Akzeptanz. In den Altersphasen wird so noch einmal deutlich, wie wichtig das Zusammenspiel von personalen, sozialen und gesellschaftlichen Ressourcen ist.

 

Literatur

Antonovsky, A. (1998). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: Dgvt-Verlag.

Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review, 84(2), 191-215.

Beck, U. (2007). Tragische Individualisierung. Blätter für deutsche und internationale Politik. Nr. 5, 577-584.

Böhle, F. (2010). Neue Anforderungen an die Arbeitswelt – neue Anforderungen an das Subjekt. In H. Keupp & H. Dill (Hrsg.), Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt (S. 77-95). Bielefeld: transcript.

Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2020). Demografischer Wandel. Verfügbar unter: https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/147368/demografischer-wandel [9.10.22].

Bröckling, U. (2007). Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt: Suhrkamp.

Denninger, T., Dyk, S. van, Lessenich, S. & Richter, A. (2014). Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft. Bielefeld: transcript.

Dill, H. & Keupp, H. (2015). Der Alterskraftunternehmer – ein neues Altersbild für die flexible Arbeitswelt? In: Dill, H. & Keupp, H. (Hrsg.): Der Alterskraftunternehmer. Ambivalenzen und Potenziale eines neuen Altersbildes in der flexiblen Arbeitswelt. Bielefeld: transcript.

Dill, H. & Keupp, H. (Hrsg.) (2015). Der Alterskraftunternehmer. Ambivalenzen und Potenziale eines neuen Altersbildes in der flexiblen Arbeitswelt. Bielefeld: transcript.

Ehrenberg, A. (2008). Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt: Suhrkamp.

Erikson, E. (1966). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Grundmann (2006). Sozialisation. Skizze einer allgemeinen Theorie. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

Keupp, H., Ahbe, T., Gmür, W., Höfer R., Mitzscherlich, B., Kraus, W. & Straus, F. (20135). Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Postmoderne. Erweiterte Neuauflage, Reinbek: Rowohlt.

Lessenich, S. (2022). Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Berlin: Hanser.

Mead, G. H. (19783). Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt: Suhrkamp.

Otto, H.-U. & Ziegler, H. (Hrsg.) (2009). Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Schulz-Nieswandt, F. (2021). Grundrechtverletzungen durch eine Kultur der Kasernierung in Pflegeheimen – zur Psychodynamik von Angst, Solidarität und Ausgrenzung. In M. Mai (Hrsg.), Die Pflege und die Coronapandemie in Deutschland. Folgen für Profession und Versorgung (S. 48-66). Stuttgart: Kohlhammer.

Sen, A. (1985).Commodities and Capabilities. Amsterdam: North-Holland.

Straus, F. & Höfer, R. (2017). Handlungsbefähigung und Zugehörigkeit junger Menschen. Ergebnisse aus einer Längsschnittstudie in SOS-Kinderdörfern. Thema 1 der SPI-Schriftenreihe. München: Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e.V.

Techniker Krankenkasse (Hrsg.) (2021). Gesundheitsreport 2021 – Arbeitsunfähigkeiten. Hamburg. Verfügbar unter: https://www.tk.de/resource/blob/2103660/ffbe9e82aa11e0d79d9d6d6d88f71934/gesundheitsreport-au-2021-data.pdf [10.2022].

Voß, G. G. & Pongratz, H. (1998). Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1, 131-158.

 

Autorin

Helga Dill
dill@bitte-keinen-spam-ipp-muenchen.de
Helga Dill ist Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Geschäftsführerin im Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München.

 

 



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