[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 30 (2025), Ausgabe 1]
Die vorliegende Ausgabe des Forum Gemeindepsychologie ist Luise Behringer gewidmet, die am 26. November 2023 bei einem Autounfall tödlich verunglückte. Da Luise seit Mitte der 1980er Jahre der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis (GGFP) nicht nur eng verbunden war, sondern diese auch entscheidend mitgestaltete, kam die Redaktion des Forum Gemeindepsychologie sehr schnell zu der Entscheidung, ihr ein eigenes Heft zu widmen. Sowohl der Entstehungsprozess dieser Ausgabe als auch die jetzt vorliegenden Artikel machen deutlich: Wenn wir über Luise Behringer und ihre Arbeit reflektieren, wird Gemeindepsychologie lebendig. Wir nähern uns Antworten auf die häufig gestellte Frage nach der Identität der Gemeindepsychologie an, die auch durch das 2023 veröffentlichte Handbuch, an dem auch Luise mitwirkte, adressiert wurde. Luise hat vielleicht wie kaum jemand anderer deutlich gemacht, dass die Frage „Was ist Gemeindepsychologie?“ nicht einfach nur mit abstraktem wissenschaftlichen Denken erfassbar ist, sondern auch durch Handeln – man könnte auch sagen: durch Lebensführung.
Die folgenden Beiträge legen davon Zeugnis ab: Sie beschäftigen sich mit zentralen gemeindepsychologischen Zugängen zu (psychischer) Gesundheit, Netzwerken, Engagement, Empowerment und Identität. Sie widmen sich der Analyse des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, um soziale Probleme verstehbar zu machen, die häufig auf individuellen Zuschreibungen als „behindert“, „krank“, „alt“, „bildungsfern“ verkürzt werden. Die meisten Beiträge beziehen sich auf Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen Belastungen und gesellschaftlichen Marginalisierungen ausgesetzt sind. Zentral ist dabei, dass zugleich eine Perspektive der Sensibilisierung und Bewältigung eingenommen wird. Dabei lassen sich zwei Aspekte hervorheben, die zeigen, dass Luise Behringer immer daran interessiert war, den Raum gemeindepsychologischen Denkens und Handelns über „klassische“ Themen hinaus zu erweitern: Sie beschäftigte sich intensiv mit Entwicklungspsychologie und arbeitete vor allem in den letzten Jahren viel zum Thema Trauma. Beide Bereiche finden in den Beiträgen ihren Niederschlag. Neben diesem inhaltlichen Facettenreichtum werden starke persönliche Bezüge der Autor*innen zu Luise spürbar. Auch das ist Gemeindepsychologie: Wir erkennen die Autor*innen als trauernde Subjekte, die nicht nur eine Kollegin verloren haben, von der sie in ihrem Handeln und Denken inspiriert wurden, sondern auch eine Freundin, von der viel über Bewältigung und Zuversicht zu lernen ist.
Zu den einzelnen Artikeln:
Am 25. Januar 2024 hielt Heiner Keupp anlässlich der Trauerfeier für Luise an der Hochschule Benediktbeuern, wo sie als Professorin für Psychologie in der Sozialen Arbeit tätig war, eine Rede. Wir haben ihn um Erlaubnis gebeten, diese Rede in der vorliegenden Ausgabe veröffentlichen zu dürfen, da sie auch als Einblick in eine gemeindepsychologisch inspirierte Biografie gelesen werden kann.
Die Verbindung zwischen gemeindepsychologischem Wirken und privater Biografie wird in dem Beitrag von Luises Tochter Franziska Behringer besonders deutlich. Die Autorin beschreibt die ressourcen- und netzwerkorientierte Arbeit in der Langau e.V., ein Projekt zur Unterstützung von Eltern von Kindern mit Behinderung. Da hier die Praxis der Frühförderung durch Erfahrungen von Zugehörigkeit und Empowerment entscheidend erweitert wird, eröffnen sich sowohl für die Kinder als auch ihre Familien vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten. Franziska Behringer zeigt zudem, wie sie selbst davon profitierte, dass ihre Mutter als Mitinitiatorin dieses Projekts die private und berufliche Sphäre auf fruchtbare Weise miteinander verband.
Auch Gila Amitay beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit entwicklungspsychologischen Fragen und dem Thema „Behinderung“. Dabei sensibilisiert sie zunächst für Zusammenhänge zwischen Lernbehinderungen und traumatischen Erfahrungen bei Kindern und Jugendlichen. Hier wird unter anderem deutlich, dass junge Menschen mit (Lern)Behinderungen besonders stark gefährdet sind, aversiven Lebensereignissen ausgesetzt zu sein und dass ihre Potenziale zu deren Bewältigung eingeschränkt sein können. Diese Probleme werden mit dem Konzept Trauma informed care (TIC) adressiert, das in hohem Maße als gemeindepsychologisch inspiriert verstanden werden kann. Im Zentrum stehen eine Entpathologisierung betroffener junger Menschen und eine Verbesserung ihrer sozialen Positionen.
Von gesellschaftlicher Marginalisierung bedrohte junge Menschen spielen auch im Beitrag von Florian Straus eine wichtige Rolle. Er beschäftigt sich mit der Bedeutung von Narrationen für Identitätsentwicklung und Lebensbewältigung, wobei er vor allem auf empirische Befunde aus der Kinder- und Jugendhilfe zurückgreift. Unter Bezugnahme auf einen Text von Luise Behringer diskutiert Straus, wie das von ihm und Renate Höfer erarbeitete Konzept der Handlungsbefähigung von narrativen Zugängen profitiert.
Helga Dill bezieht sich in ihrem Beitrag auf das für Luise Behringers Identität so bedeutsame Thema des ländlichen Raumes. Sie präsentiert Überlegungen zu der Frage, wie bürgerschaftliches Engagement jenseits „klassischer“ Milieus der urbanen Mittelschichten verwirklicht werden kann. Dem gesellschaftlichen Trend zur zunehmenden infrastrukturellen „Verarmung“ ländlicher Räume wird mit der Frage begegnet, wie sich Menschen durch soziale Teilhabe und Erfahrungen von Zugehörigkeit ihre ländliche Lebenswelt wieder „aneignen“ können.
Daran schließen zwei Beiträge an, die sich mit der Frage der Bewältigung traumatischer Erlebnisse beschäftigen. Besonders erkenntnisreiche Verbindungen zwischen historischen und psychologischen Perspektiven werden in dem Beitrag von Annette Eberle sichtbar. Die enge Kollegin von Luise Behringer beschreibt anhand eines Buches von Rebecca Clifford, in welchem Ausmaß die Biografien von Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebt haben, von gesellschaftlicher Abwehr geprägt wurden. Bemerkenswert sind hier u.a. die Darstellungen von Unterstützungsangeboten unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, die eine Erweiterung medizinisch-pathologisierender Herangehensweisen auf psychosoziale orientierte Interventionen erkennbar werden lassen.
Fragen der Traumabewältigung stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Biri Rottenberg. Sie stellt ein Projekt zur Unterstützung von Personen vor, die den Angriff der Hamas auf israelische Siedlungen am 7. Oktober 2023 überlebten. Dabei arbeitet sie die zentrale Bedeutung von comfort objects heraus, die eine heilende Verbindung zwischen dem inneren Raum des Individuums und seiner äußeren Umgebung herstellen. Rottenberg formuliert ihren Beitrag als „Letter to Luise“, der auf diese Weise selbst zum comfort object wird, das ihr bei der Bewältigung des Verlustes ihrer Kollegin und Freundin hilft.
Die Ausgabe schließt mit einem Beitrag von Alf Trojan zu quartiersbezogenen digitalen Netzwerken. Dieser Artikel war für ein Heft zum Thema „Digitalisierung“ geplant, das leider nicht zustande kam. Da Netzwerkarbeit auch bei Luise Behringer eine große Bedeutung zukommt, liefert Trojans Artikel Impulse für weitere Überlegungen, wie Netzwerke sowohl gemeindepsychologisch als auch digital gedacht und realisiert werden können.
Peter Caspari
Herausgeber für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie
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