1-2023
1-2022
1-2021
1-2020
2-2019
1-2019
1-2018
1-2017
1-2016
2-2015
1-2015
2-2014
1-2014
1-2013
1-2012
1-2011
3-2010
2-2010
1-2010
2-2009
1-2009
2-2008
1-2008
1-2007


Sie befinden sich hier: Ausgaben » 1-2025 » fg-1-2025_02

 

Abschied von Luise Behringer - Sie hat Gemeindepsychologie gelebt.

Heiner Keupp

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 30 (2025), Ausgabe 1]

 

 

Lieber Toni, lieber Samuel, liebe Franziska und verehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer an dieser Gedenkveranstaltung für Luise Behringer,

Sie dürfen heute von mir keine reine akademische Leistungsbilanz einer erfolgreichen Wissenschaftlerin erwarten, das war Luise Behringer auch, aber für mich war sie eine ehemalige Studentin, Doktorandin, Kollegin und Freundin und vor allem aus dieser freundschaftlichen Bindung, die fast immer auch mit gemeinsamen Projekten und Wertvorstellungen erfüllt war, möchte ich über Luise heute sprechen. Ich hoffe, dass mir das auch hilft, den Abschied von ihr zu begreifen. Das ist mir nämlich bisher noch nicht gelungen.

Auch einige Wochen nach diesem schrecklichen Verkehrsunfall, der Luise das Leben gekostet hat, habe ich ihren Tod noch nicht begriffen. Wie kann es sein, dass ich sie noch wenige Tage vorher in ihrer Lebendigkeit und Zugewandtheit erlebt habe, sie von ihren Zukunftsplänen erzählt hat und wir uns gemeinsam darauf gefreut haben, dass sich Luise nach ihrer aktiven Phase an dieser Hochschule noch stärker in unserem Institut für Praxisforschung und Projektberatung engagieren wollte. Auch ihre Tochter Franziska wird dort im Frühjahr nach ihrem Hochschulabschluss Projektmitarbeiterin. Was für schöne Perspektiven von Mutter und Tochter, die uns seit langem verbunden sind!

Mir gehen seit der Todesnachricht immer wieder Bilder durch den Kopf und damit verknüpfte Geschichten. Sie beginnen in den 1980er Jahren, als Luise mir im Studium begegnete. Sie hat sich für unser sozialpsychologisches Projektstudium entschieden und hoffte, dass nach dem drögen Grundstudium jetzt endlich das möglich sein würde, was sie sich von dem Studium erwünscht hatte. Sie hoffte, dass sich die Psychologie mit dem Alltag der Menschen beschäftigt. Das hat sie später so beschrieben: „Nach vier Semestern, in denen ich die Psychologie v.a. als nomothetische Wissenschaft kennen gelernt hatte, in der wir in experimentalpsychologischen Praktika psychologische Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Verhalten herausdestillierten und alltägliche Gegebenheiten allenfalls als Störvariable auszuschalten versuchten, war jetzt in allen Seminaren, von psychischem Leiden über Helfer-Krisen bis zu Sozialen Netzwerken, der Bezug zum alltäglichen Lebenszusammenhang der Menschen ein zentrales Thema.“

Ihr eigener Alltag war die bäuerliche Lebenswelt, in der ihre Herkunftsfamilie verortet war. Mit dem Studienbeginn hat sie München als Kontrastprogramm erlebt. In den studentischen und akademischen Milieus der Großstadt hat sie Erfahrungen gesammelt, aber nie den Bezug zum schwäbischen Ustersbach verloren – im Gegenteil: Sie ist dortgeblieben und ihre eigene Familie hat sich dort beheimatet. Sie hat aber auch kritisch nachgefragt, inwiefern die unterschiedlichen Normalitätsmodelle Befremdung zwischen den sehr unterschiedlichen Lebenswelten erzeugen, aber auch wie diese Normalitätserwartungen in einer gesellschaftlichen Umbruchsperiode in Frage gestellt werden. Ein wichtiger Beitrag dazu war ihre Diplomarbeit zur Situation ehemaliger psychiatrischer Patienten im dörflichen Alltag, wo traditionelle Lebensmodelle mit einem spezifischen, aus der bäuerlichen Geschichte der Dörfer entstandenen sozialen Regelwerk noch ein relativ enges Spektrum akzeptabler Normalität vorgeben. Auch wenn die dörfliche Lebenswelt starken gesellschaftlichen Wandlungen unterworfen ist und sich immer stärker vom traditionellen Dorf zum modernen Wohndorf verändert, finden sich hier im Kern noch typische Netzwerk-, Beobachtungs-, Kommunikations- und Interaktionsstrukturen, die die Einhaltung von Normalität im dörflichen Alltag vermitteln und kontrollieren sowie Abweichung sanktionieren. Der verlässliche Rahmen des Alltagslebens kann sich hier schnell ins Gegenteil verkehren und zu einer Bedrohung werden, wenn Menschen nicht den Erwartungen an Normalität entsprechen.

Im Sinne einer Brückenbauerin hat sie untersucht und reflektiert, wie sich das Verhältnis von Stadt und Land immer stärker veränderte, die Grenzen zwischen ihnen sich verschoben und die ökonomische und kulturelle Anziehungskraft der Städte München und Augsburg auch deren Umlandgemeinden immer mehr durchdrungen haben, ohne dass deren Identität verloren gegangen wäre, aber sie hat sich verändert. Die populistische Debatte, die gerade in diesen Tagen von Aiwanger und anderen befeuert wird, reißt ja den Graben zwischen urbanen und ländlichen Lebensformen auf fragwürdige Weise auf. Luise würde dazu ganz sicher eine kritische Diskussion führen, um diese Spaltungsversuche zu verhindern!

Die Berufseinstiegsphase war für Luises Generation alles andere als einfach. Die Debatte um Fachkräftemangel war weit entfernt. Luise hat durch das Projektstudium Erfahrungen in einem Sozialpsychiatrischen Dienst sammeln können, aber eine volle Stelle ist daraus noch nicht geworden. Aber es war typisch für Luise, dass sie nicht in eine depressive Klage über die ungerechte Welt verfiel, sondern mit einigen ehemaligen Kommiliton*innen ein Instrument nutzte, das sie im Projektstudium kennengelernt hatte. Sie organisierten eine Zukunftswerkstatt, um eigene Initiativen entwickeln zu können. 1985 war Luise bei einer gemeindepsychologischen Erzählwerkstatt die jüngste Teilnehmerin und in einem paper, das ich entdeckt habe, beschreibt sie ihre Eindrücke als „young girl“ und ihre Zweifel, ob sie im Kreise etablierter Hochschulprofessor*innen und erfahrener Praktiker*innen überhaupt etwas beitragen könne. Und dann betont sie: „… ich habe ja doch einiges zu erzählen“. Das ist Luise, die immer selbstkritisch war, aber dann auch den Mut hatte, sich einzubringen und zu positionieren. Die Gemeindepsychologie ist ihre Heimat geworden und viele ihrer Projekte und Aktivitäten hatten hier ihre Basis. Es ging um Fragen der Gerechtigkeit, Hilfsangebote für sozial Benachteiligte und Minderheiten, um die Förderung von dem, was ich als „aufrechten Gang“ bezeichne, ein Bild, was wir im Fachjargon als Empowerment verstehen.

Diese Grundhaltung hat Luise auch in einen Kontext mitgenommen, von dem sie ganz sicher auch nicht geträumt hatte, der sich ihr auf einmal bot: Beteiligung an einem Projekt der von der DFG geförderten Spitzenforschung. Im Sonderforschungsbereich (SFB) 333 „Entwicklungsperspektiven der Arbeit“ der LMU gab es ein von Prof. Martin Bolte geleitetes Projekt zur alltäglichen Lebensführung in einer sich dramatisch wandelnden Gesellschaft. Es war ein soziologisches Projekt, aber es war Bolte wichtig, auch eine Psychologin im Team zu haben und ich schlug ihm Luise Behringer vor. Für sie eine große Herausforderung, aber auch eine gute Jobperspektive. Parallel zu diesem Projekt gab es unser eigenes zur Identitätsentwicklung in der Spätmoderne, besser bekannt unter dem Markenzeichen „Patchwork-Identität“. Ich habe oben schon einmal Luise als Brückenbauerin bezeichnet, und das ist sie auch in der Vermittlung zwischen diesen beiden SFB-Projekten geworden. Das kommt im Titel ihrer Dissertation zum Ausdruck: „Lebensführung als Identitätsarbeit: Der Mensch im Chaos des modernen Alltags“. Die beiden Teilprojekte hatten ihre jeweils eigene Agenda und obwohl sie thematisch und methodisch sehr ähnliche Fragestellungen verfolgten, gab es keine gute Zusammenarbeit, das hat dann aber Luise nach Beendigung der Förderphase geschafft. Sie setzte an den aktuellen gesellschaftlichen Erosionsprozessen an, die einem gleichförmigen Alltag den Boden ebenso entziehen wie einer Identitätsplattform am Ende der Adoleszenz, von der aus ein Individuum zuversichtlich in die Zukunft blicken kann. Als Psychologin setzte sie die beiden Konzepte „Alltägliche Lebensführung“ und „Identität“ miteinander in Beziehung. Sie werden zu reflexiven Projekten, mit dem Ziel, Kohärenz und Kontinuität herzustellen. Alltägliche Lebensführung mit der Betonung der Praxis konkreter Alltagstätigkeiten kann als Außenregulierung betrachtet werden, die den Rahmen für die sinnstiftende Innenregulierung und Identitätsarbeit bereitet. Alltägliche Lebensführung kann aber auch als praktischer Ausdruck der Identität sowie in ihrem reflexiven Charakter selbst als Strategie der Identitätsbildung verstanden werden. So entsteht analog zur „Arbeit des Alltags“ die „alltägliche Identitätsarbeit“. Als Betreuer dieser Dissertation war ich begeistert von dieser Studie, die vor allem die Stichprobe der Journalist*innen aus ihrem Projekt aufgriff. Viele aus diesem Berufsfeld haben keine feste berufliche Einbindung, sind also „Freelancer“, eine berufliche Existenzform, die seither noch deutlich zugenommen hat. Luise konnte aufzeigen, wie unterschiedlich Lebensführungsmuster darauf Bezug nehmen. Ein stabiles berufliches Handlungsfeld ist kaum mehr gegeben, die Subjekte erleben eine innere Zerrissenheit – „immer auf zwei Hochzeiten tanzen, das eine machen und an das andere denken“ –, Unsicherheit und Entscheidungsunfähigkeit – „so unentschieden zwischen zwei Welten rumzuhüpfen“ – sowie Lebensführungsmuster, in denen die Chancen ergriffen und Veränderungen zum Prinzip erhoben werden – „man sollte sich wirklich nicht wiederholen (…) ich finde es wichtig, dass man halt immer was andres macht.“ Dafür wird die Lebensphilosophie „an die Umstände kompatibel gemacht“. Die Studie zeigt auch auf, dass die Anfang der 80er Jahre formulierte These vom Ende der Arbeitsgesellschaft von der Realität widerlegt wurde. Beruf und Arbeit blieben unverändert zentrale Koordinaten von Normalitätserwartungen, in der Stadt und auch auf dem Land. Luise beschreibt das Verhalten eines jungen Mannes, der sich täglich an die Schreibmaschine setzte und wahllos in die Tastatur tippte, um den Nachbarn kontinuierlich seine „Alibiberufsbezeichnung Journalist“ vorzuspielen, der „an irgend einem Buch“ arbeitet. So versuchte er nach außen der Normalität eines regelmäßig arbeitenden Dorfbewohners zu entsprechen, um wenigstens in dieser Hinsicht ein traditionales Lebensführungsmuster aufrecht zu erhalten.

Wenn an der LMU die Promotionsurkunden verteilt werden, dann werden in der Großen Aula alle erfolgreichen Doktorand*innen eingeladen und sie dürfen Verwandte und Freunde mitbringen. Luise kam mit ihrer Mutter, deren bäuerliche Herkunft gut zu erkennen war, und mit ihren Kindern Samuel und Franziska, die geduldig dieses leicht gestelzte Ritual ertragen mussten. U.a. einen abgehobenen Vortrag eines Germanisten. Mich hat beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit Luise ihre eigene Lebenswelt in diesen akademischen Kontext einbrachte, in dem die so oft beschworene Kampagne, die Bildung katholischer Mädchen vom Lande zu fördern, noch nicht besonders erfolgreich war.

Der Forschungsetappe folgten in der Berufsbiografie von Luise wichtige psychologische Handlungsfelder, die vor allem ihr Interesse auf die frühen Entwicklungsprozesse von Kindern richtete und sie hat in diesem Bereich ein eindrucksvolles Kompetenzprofil entwickelt. Sie hat an der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern in München sowie im Nachsorgezentrum „Bunter Kreis“ an der Kinderklinik Augsburg gearbeitet und ist zu einer vielgefragten Entwicklungspsychologin geworden, die vor allem die Bindungsforschung vermittelte, aber immer gemeindepsychologisch eingebettet. Denn sichere Bindungen zwischen Eltern und Kindern gelingen oder scheitern im sozialen Kontext und es war ihre tiefe Überzeugung, dass man zum Gelingen durch gute Beratung und Begleitung von Eltern sehr viel tun kann, nicht nur in Fällen akuter Notlagen, sondern durch Präventionsprojekte und Familienbildung sowie durch Fort- und Weiterbildung pädagogischer und psychologischer Fachkräfte. Luise hat hier aus der gemeindepsychologischen Überzeugung gehandelt, dass das Gelingen solcher Praxisansätze eine Empowermentperspektive erfordert. Das Modell des „Nürnberger Trichters“ war längst entzaubert. Die Gemeindepsychologie leitet ihre Handlungsprinzipien nicht aus Wissensformen ab, die die Forschung erarbeitet und die dann nach dem Modell des „Nürnberger Trichters“ von der Praxis aufgenommen und umgesetzt werden müssen. Gute gemeindepsychologische Praxis und Forschung setzen einen herrschaftsfreien Dialog zwischen beiden voraus. Erforderlich ist deshalb eine Fachkultur, in der die Bedingungen für diesen Dialog entstehen und gemeinsame Lernprozesse ermöglicht werden.

In diesem mehrjährigen Tätigkeitsfeld der angewandten Entwicklungspsychologie hat sich Luise Behringer das Kompetenzprofil erarbeitet, das Ihre Hochschule gut erkannt hat und sie 2007 als Professorin berufen haben. Über das, was sie hier geleistet hat, haben Sie hier als Kolleg*innen und Student*innen einen besseren Einblick als ich. Aber ihre wissenschaftlichen Aktivitäten habe ich gut verfolgen können und bin zum Teil auch mit ihr gemeinsam aktiv gewesen. Als ich 2007 die Verantwortung zur Erstellung des 13. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung zur Prävention und Gesundheitsförderung hatte, war es gut zu wissen, dass wir auf die Expertise von Luise zurückgreifen können. Zusammen mit Renate Höfer vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hat sie eine Forschungsübersicht über Die Bedeutung von Gesundheitsförderung und Prävention in Kindertageseinrichtungen vorgelegt. Den Tod von beiden Kolleginnen mussten wir im letzten Jahr erleben. Luises Kooperation mit dem IPP hat sich über die Jahre immer mehr vertieft. Eindrucksvoll ist die Studie „Väter an Bord. Arbeit mit Vätern von Kindern mit Behinderung“, die sie zusammen mit IPP-Kollegen (Wolfgang Gmür und Gerhard Hackenschmied) durchführte und in der Väter befragt wurden, die an der Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V. Unterstützung gesucht haben, eine Einrichtung, in der Luise auch Mitglied des Trägervereins war. Das war nicht ihr einziges Amt in wichtigen Begleitgremien bei Trägern der Kinder- und Jugendhilfe. Zu nennen ist vor allem ihre Tätigkeit im Aufsichtsrat des SOS-Kinderdorf Vereins. Gerade in dieser Funktion war sie für mich außerordentlich wichtig. Der Vorstand des Vereins hatte mir 2021 die Aufgabe übertragen, den Meldungen von jungen Erwachsenen nachzugehen, die in einem SOS-Kinderdorf sexualisierte Gewalt erlebt hatten. Ich bildete einen Beirat, in dem nicht nur drei ehemalige Heimkinder mitarbeiteten, sondern auch Vertreter*innen des Trägervereins und Luise Behringer. Sie war mir deshalb so wichtig, weil sie mich in der Absicht, alle Vorfälle konsequent aufzuklären, immer unterstützt hat und vor allem mit großer Sensibilität und Offenheit einen vertrauensvollen Kontakt zu den Betroffenen herstellen konnte. Der Trägerverein tat sich sehr schwer, die Befunde der Aufklärung zu akzeptieren. Auch der Aufsichtsrat hatte erhebliche Bedenken, die ganze „Wahrheit“ zu veröffentlichen. Aber Luise hat in diesem Gremium heftig dafür gekämpft, dass nichts mehr vertuscht werden konnte. Dafür ist sie auch angegriffen worden, aber sie ist konsequent bei ihrer Linie geblieben.

Eine besonders fruchtbare Zusammenarbeit mit Luise erlebte ich bei der Erstellung einer Expertise zum freiwilligen Engagement im Bereich der frühen Förderung und Unterstützung von Kleinkindern und ihren Familien, die wir im Auftrag des Nationalen Zentrums für frühe Hilfen erstellt haben. Wir konnten in dieser Expertise unsere Erfahrungen aus der Entwicklungspsychologie mit Konzepten von Prävention und Empowerment und mit der immer wichtiger gewordenen Perspektive der Förderung bürgerschaftlichen Engagements zusammenführen. Und wir konnten vor allem an konkreten Praxisbeispielen aufzeigen, was es schon an überzeugenden Beispielen im internationalen Kontext gibt. Wir argumentierten, dass Innovationen im sozialen Bereich meist von engagierten Bürgerinnen und Bürgern ausgingen, die auf Defizite im professionellen System reagierten. Zudem gelinge es Freiwilligen eher, lebensweltlich Zugänge zur Zielgruppe zu schaffen. Damit sollte aber kein Gegensatz zu professioneller Arbeit aufgemacht werden, sondern die Differenz zwischen ehrenamtlichem und professionellem Handeln präzise benannt und die Aufgaben von Professionellen im Sinne einer konsequenten Empowermentstrategie herausgearbeitet werden. Wir sind zusammen bei vielen Veranstaltungen aufgetreten und es war so erfüllend, dass wir gemeinsam Überzeugungsarbeit leisten konnte, denn gerade in diesem Hybridbereich von Haupt- und Ehrenamt gibt es viele Ängste, Vorurteile und Missverständnisse. Es erinnerte mich an die Frühphase der Selbsthilfeförderung, in der – nicht ohne gute Gründe – die Sorge bestand, staatliche Förderung von Selbsthilfe könne ein Mittel des Sozialabbaus werden.

Es war uns wichtig, die innovative Rolle von neuen Initiativen aufzuzeigen und das kann man besonders klar am Bereich Familien zeigen. Traditionelle Familienformen verlieren seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung. Hier spielen gesellschaftliche Strukturveränderungen wie Individualisierungsprozesse, die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen und Mobilität eine Rolle. In „sozialen Experimentierbaustellen“ haben vor allem Frauen neue zivilgesellschaftliche Lösungen für das moderne Familienleben erprobt. Entstanden sind innovative Formen der Familienselbsthilfe wie Mütter- und Familienzentren, Nachbarschaftshilfen und Mehrgenerationenhäuser. Dabei hat Familienselbsthilfe für die öffentliche Förderung ihrer Infrastruktur gekämpft und diese auch erhalten. Zivilgesellschaftliche Prinzipien wie Selbstorganisation und Partizipation sind in den Projekten der Familienselbsthilfe zentral. Sozialabbau gab es hier keinen, sondern eher die Initiierung neuer Ausgangspunkte beruflicher Handlungsfelder. Es ging uns um eine thematisch übergreifende zivilgesellschaftliche Perspektive. Die Enquetekommission des Deutschen Bundestags zur „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ (2002) hat freiwilligem Engagement eine zentrale Rolle für den Zusammenhalt der Gesellschaft zugewiesen: Freiwilliges Engagement „eröffnet Bürgerinnen und Bürgern Möglichkeiten für selbst organisierte Mitgestaltung und Beteiligung“. Es schafft „eine Atmosphäre der Solidarität, der Zugehörigkeit und des gegenseitigen Vertrauens“. Gerade weil diese demokratiepolitischen Basics in den letzten Jahren und insbesondere in allerjüngster Zeit gefährdet sind, will ich darauf noch einmal explizit eingehen. Sie bildeten die zentrale gemeinsame Überzeugung von Luise und mir. Entgegen weit verbreiteter Einschätzungen geht freiwilliges Engagement nicht zurück. Vielmehr vollzieht sich ein Wandel: weg vom klassischen Ehrenamt, das seinen „Nachschub“ aus traditionsreichen sozialen und weltanschaulichen Milieus bezogen hat, hin zu einem Engagement, das sich aus dem Wunsch nach selbstbestimmter Lebensführung speist.

Aus dieser Überzeugung haben wir in München für die Einrichtung eines Fachbeirates Bürgerschaftliches Engagement gekämpft, den der Stadtrat 2008 berufen hat. Wir hatten das Recht, alle zwei Jahre dem Stadtrat einen Bericht vorzulegen, in dem wir Vorschläge für eine Weiterentwicklung der vorhandenen Ansätze unterbreiten konnten. In den 10 Jahren, in denen ich den Vorsitz dieses Gremiums hatte, ist neben den ganz praktischen Förderideen immer stärker auch das Thema Rechtspopulismus und Demokratiegefährdung (in München gab es Pegida, aber auch wirksame Aktivitäten dagegen). Dieser Tage hat der Bundespräsident in einem SZ-Interview (13./14. Januar 2024) ausgeführt: „Die Demokratie ist nicht vom Himmel gefallen. Die Demokratie ist nie auf Ewigkeit garantiert. Sie lebt nicht vom Grundgesetz, sondern auch vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Dieses Engagement brauchen wir. Die Qualität der Demokratie in Deutschland zeichnet sich eben auch dadurch aus, dass Hunderttausende sich Zeit nehmen, um ihre Gemeinde, ihre Stadt besser zu machen.“

Und in der letzten Woche sind Hunderttausende auf die Straße gegangen. Die Zivilgesellschaft ist aus dem „Winterschlaf“ erwacht. Als ich, den Vorsitz des Fachbeirates 2019 aufgegeben habe, war ich glücklich, dass Luise Mitglied des Fachbeirates und inzwischen Kovorsitzende wurde. Auf der Homepage des Fachbeirates kann man die Reaktion auf Luises Tod lesen: „Der Fachbeirat für Bürgerschaftliches Engagement trauert um Professor Dr. Luise Behringer. Sie war seit 2019 eine der beiden Vorsitzenden und sachkundige Vertreterin der Wissenschaft in diesem Gremium. Mit ihrer Klugheit und Herzenswärme hat sie neben ihrer Fachlichkeit die Arbeit des Beirates enorm bereichert. Wir vermissen Dich schrecklich.“

Das tun wir alle und ich möchte schließen mit meinen letzten Erinnerungsbildern. Am 17.11. hat das IPP seinen 40. Geburtstag gefeiert und Luise hat den Abschlussvortrag gehalten und in einer ansteckenden Fröhlichkeit und mit großer didaktischer Kunstfertigkeit das zentrale Theorieprojekt des IPP, eine Theorie der Handlungsbefähigung, vorgestellt. Im Zentrum dieser Theorie steht die Frage nach Bedingungen gelingenden Lebens und da steht im Zentrum die Frage nach Bedingungen für ein „andauerndes und dynamisches Gefühl der Zuversicht“. Ein großes Potential sozialwissenschaftlicher Forschung trägt das Konzept, aber es war vor allem die lebensfreudige Vermittlung durch Luise. Alle, die diesen Vortrag gehört haben, werden diesen Eindruck in ihren Herzen bewahren.

Ich bekam noch zwei besondere Tage von Luise und zwei weiteren ehemaligen Doktorand*innen geschenkt. Sie hatten ein zweitägiges biografisches Interview mit mir geführt und so habe ich Luise in ihrer zuversichtlichen, warmherzigen, zugewandten, nachdenklichen und klugen Art erlebt. Dass sie eine Woche später aus ihrem Leben gerissen wurde, ist erschütternd.

Aber meine Bilder von ihr transportieren dieses Gefühl der Zuversicht. Das ist ihr Erbe.

 

Heiner Keupp

Die Rede wurde am 25. Januar 2024 anlässlich der Erinnerungsfeier gehalten, die an der Katholische Stiftungshochschule München, Campus Benediktbeuern zum Gedenken an Frau Prof. Dr. Luise Behringer gehalten wurde, die am 26. November 2023 ums Leben kam.

 

 

Autor

Heiner Keupp

heinerkeupp@bitte-keinen-spam-psy.lmu.de

Heiner.Keupp@bitte-keinen-spam-unibz.it

Prof. Dr. Heiner Keupp, geb. 1943, war von 1978 bis 2008 Hochschullehrer für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Universität München. Seit den 60er Jahren engagiert er sich in der Psychiatriereform. Seit 2000 ist er Gastprofessor für Sozialpsychologie an der Freien Universität Bozen. Er war der Kommissionsvorsitzende des 13. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung zu Prävention und Gesundheitsförderung. Zusammen mit einem Team des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) hat er in den letzten Jahren Aufarbeitungsstudien zur sexualisierten Gewalt in den Klöstern Ettal und Kremsmünster sowie in der Odenwaldschule durchgeführt und ist aktuell in weiteren Aufarbeitungsprojekten des IPP aktiv. Seit 2016 ist er Mitglied in der vom Deutschen Bundestag beschlossenen Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Im März 2025 wird ein biografisches Interview in Buchform erscheinen: Heiner Keupp – Der widerständige (Lebens-)Weg eines Psychologen. Ein Gespräch mit Luise Behringer und Peter Caspari. Tübingen: dgvt-Verlag.

 



alttext    

 

Mark Galliker: Sozioökonomie und Psychotherapie
Felix Tretter: Wissensgesellschaft im Krisenstress