[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 30 (2025), Ausgabe 1]
Luise Behringer war eine überzeugte Landbewohnerin. Als Wissenschaftlerin hatte sie einen klaren Blick auf die Veränderungen und Entwicklungen in ländlichen Räumen, als engagierte Bürgerin nahm sie diese Entwicklungen aber nicht nur als gegeben hin, sondern war auch immer Teil einer aktiven Community, um mitzudenken und mitzubestimmen, um Entwicklungen auch steuern zu können. Zum Beispiel einen Dorfladen ins Leben zu rufen, der die Abwanderung von Einzelhandel und Gastronomie auffangen sollte/konnte und als genossenschaftlich organisierte Einheit, vom klassischen Gewinndenken emanzipiert war. Diese Themen, rund um die Entwicklung im ländlichen Raum, haben Luise und ich oft besprochen, zunächst vor allem als gemeinsamen Erfahrungshintergrund diskutiert.
Dabei wollten wir es aber nicht belassen, und so entstanden aus unserem Erfahrungsaustausch über das Land- bzw. Kleinstadtleben im bayerischen Schwaben, Gedanken, diese Erfahrungen zu systematisieren und als Forschungsanträge einzureichen. Unsere Überlegungen wurden geleitet von den Konzepten „Teilhabe“, „soziale Zugehörigkeit“ und „soziale Exklusion“.
Wir wollten vor allem die Gruppe derjenigen verstärkt in den Blick nehmen, die bisher wenig Zugang zu bürgerschaftlichem Engagement haben, die aufgrund ihrer Lebensbedingungen vom Engagement ausgeschlossen sind und/oder sich selbst davor verschließen. Unsere zentrale Forschungsfrage lautete:
Wie kann das Zugehörigkeitsgefühl, die soziale Verortung, von „Ausgeschlossenen“ oder von Exklusion bedrohten Bevölkerungsgruppen gestärkt werden und deren Teilhabe, Mitgestaltung und Mitverantwortung für ihre Lebenswelt gefördert werden?
Dazu ist es nötig, als ersten Schritt diejenigen zu erreichen, um die es gehen soll. Wir wollten mit den Menschen sprechen, über die gesprochen wird. Wir wollten verstehen, wie und wo sich die Menschen an Entscheidungen beteiligen, wo sie aktiv sind im Sinne von bürgerschaftlichem Engagement und welche Engagementformen im Stillen und Verborgenen blühen, welche von der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft kaum wahrgenommen werden, weil es um Hilfestellungen in der Nachbarschaft, in der eigenen Community, im Freundes- und Bekanntenkreis geht. Hilfestellungen, die die Beteiligten gar nicht unter Engagement fassen würden. Aber natürlich hatten wir auch den Dorfladen im Blick, die selbst gegründete Kinderkrippe, den Fahrdienst für die weniger mobilen und vieles mehr.
Im großstädtischen Raum schien das einfacher zu sein. München hat beispielsweise eine lebendige Engagement-Szene und eine professionell ausgestattete Engagement-Infrastruktur. Es gibt mehrere Freiwilligenagenturen bzw. Freiwilligenzentren und die Förderstelle für Bürgerschaftliches Engagement (FöBE), die jährlich eine große Freiwilligenmesse ausrichtet. Aber München ist auch dramatisch von Spaltung und Exklusion betroffen – nicht zuletzt aufgrund der immer prekärer werdenden Wohnungssituation. Ein niederschwellig gedachtes Angebot sind beispielsweise die sogenannten Nachbarschaftstreffs. Nachbarschaftstreffs wollen Möglichkeitsräume für Mitgestalten, Teilhabe und Engagement sein und ein Miteinander der Bewohner*innen in einem Quartier ermöglichen (Landeshauptstadt München, 2011). Grundsätzliche Ziele dieser Treffs sind die Verbesserung der Lebensbedingungen und der sozialen und ökonomischen Situation der Bewohner*innen durch Aktivierung und Beteiligung sowie Förderung von Selbstorganisation. Wir wollten am Beispiel eines gewachsenen Stadtviertels nachzeichnen, welche Beteiligungsformen entstanden sind und am Beispiel eines Neubaugebiets betrachten, wie Zusammenwachsen, Beteiligung und nachbarschaftliches Miteinander entstehen können.
Kontrastierend dazu wollten wir die Teilhabemöglichkeiten und Teilhabebarrieren in drei ländlich strukturierten Gebieten untersuchen. Eines dieser Gebiete lag im prosperierenden bayerischen Oberland, eines im bayerischen Schwaben und eines im bayerischen Norden. Die Regionen unterschieden sich nach demografischer Entwicklung, wirtschaftlichen Kennzahlen und vorgehaltener öffentlicher Infrastruktur. Wir wollten in diesen Regionen vergleichend erkunden, was unter Engagement verstanden wird und an welchen Knotenpunkten es sich zeigt. Gibt es in diesen unterschiedlich strukturierten ländlichen Räumen verschiedene „Engagementkulturen“, beispielsweise traditionelles, langfristig angelegtes Ehrenamt in einem Verein oder zeitlich begrenztes projektförmiges Engagement? Wie wirken sich diese Engagementkulturen auf Teilhabechancen aus? Welche Personen sind (nicht) engagiert? Was sind die Gründe dafür? Wie können Personen erreicht werden, die sich ausgeschlossen oder nicht zugehörig fühlen? Welche Bedarfe haben diese und welche Angebote benötigen sie? Welche Engagementförderung wäre dafür erforderlich? Wie kann ein Dialog in Gang gesetzt werden, der sich mit den Fragen von Gemeinwohl, von Mitverantwortung und Mitgestaltung auseinandersetzt? Diesen Fragen wollten wir nachgehen.
Als wesentliches Element der sozialen Teilhabe und damit der sozialen Verortung, der Zugehörigkeit, haben wir das freiwillige Engagement in seinen vielfältigen Facetten identifiziert (Behringer, 1993). Dabei geht es – wie schon der erste Freiwilligensurvey (Rosenbladt, 2001) gezeigt hat – nicht mehr nur um Formen der Wohltätigkeit (etwas für andere tun), sondern vermehrt auch um Formen der Beteiligung, des „Sicheinmischens“ in verschiedenen Feldern (Soziales, Umwelt, Sport und Gesundheit, Bildung usw.) des gesellschaftlichen Lebens. Modernes Engagement zeichnet sich durch Mitgestalten aus und richtet sich auch auf das eigene Wohlbefinden. Es ist projektförmig angelegt und damit häufig zeitlich befristet.
Einigkeit herrscht in der Literatur darüber, dass Engagement zu Anerkennung führt (vgl. z.B. Zimmermann, 2015), wobei Honneth (2018) auf die kulturellen Unterschiede von Anerkennungskonzepten hinweist. Gleichzeitig wird eine soziale Schieflage des Engagements konstatiert. Der 4. Freiwilligensurvey (Simonson et al., 2017) hat bestätigt, dass Engagement von individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen abhängt. Je höher die Bildung, das Einkommen, die Gesundheit, desto höher ist jeweils der Anteil der Engagierten. Damit ist aber auch verbunden, dass die Partizipationschancen derjenigen, die über geringere Ressourcen verfügen, abnehmen. So hat etwa Heinz Bude schon 2008 gezeigt, wie der wachsende Graben zwischen den „Ausgeschlossenen“ und den „Inkludierten“ den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufweichen (Bude, 2008), ebenso wie das Gefühl der sozialen Zugehörigkeit, der sozialen Verortung (Höfer & Knothe, 2014). Hummel hat darauf hingewiesen, dass Mittelstandsbürger*innen ihre Position und ihre Interessen besser stärken können als Benachteiligte (Hummel, 2018a).
Die „Ausgeschlossenen“ müssen Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können, sich sozial zugehörig verorten, um Teilhabechancen im doppelten Sinne wahrnehmen (erkennen und realisieren) zu können. Dazu bietet der soziale Nahraum die größten Chancen, auch weil hier das Alltagsleben stattfindet. Diese soziale Verortung in neuen Nachbarschaften herzustellen, ist sowohl in städtischen wie auch in ländlichen Räumen eine Herausforderung.
Insgesamt hat sich die Bereitschaft, sich für das direkte Wohnumfeld, die Nachbarschaft einzusetzen seit Ende der 1990er Jahre deutlich erhöht (BMFSFJ, 2017) . Allerdings sind in städtischen Gebieten mit komplexen sozialen Problemlagen quartiers- und sozialraumorientierte Ansätze und Konzepte zur Förderung des Engagements und des sozialen Zusammenhalts von hoher Bedeutung (Hummel, 2018b). Quartiersbezogenes Engagement bekommt angesichts des Fachkraftmangels in der Pflege und der Kinderbetreuung eine geradezu unbedingte Notwendigkeit.
Menschen auf dem Land engagieren sich generell stärker als jene in Städten. Am höchsten ist das Engagement in Gemeinden unter 20.000 Einwohnern (Simonson et al., 2017). Allerdings unterscheiden sich auch die ländlichen Räume erheblich. Die bloße Abgrenzung von Stadt und Land ist demnach eine Schimäre. Wir haben uns deshalb entschieden, in Anlehnung an Ilse Helbrecht (Helbrecht, 2014), von einem Stadt-Land-Kontinuum zu sprechen. Ländliche Landkreise unterscheiden sich z.B. in Abwanderungs- und Zuwanderungsgebiete. Damit verbunden sind Fragen, wie die nach der wirtschaftlichen Prosperität, der demografischen Entwicklung oder dem Erhalt bzw. Ausbau von Infrastruktur. Die „abgehängten“ ländlichen Räume, von denen aktuell viel die Rede ist, weisen in der Regel wenig Wirtschaftskraft, Bevölkerungsabnahme, vor allem der jüngeren Generationen, und Rückbau der Infrastruktur auf. Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe verringern das Gefühl des Abgehängtseins bei der Bevölkerung (Deppisch et al., 2023).
Bürgerschaftliches Engagement ist eine zentrale Säule ländlicher Infrastruktur, v.a. in den Bereichen Freizeit und Kultur, und nimmt auch in der Daseinsvorsorge einen immer höheren Stellenwert ein (BMEL, 2016). Studien weisen darüber hinaus darauf hin, dass auf Freiwilligkeit basierende soziale Strukturen im Dorf, wie etwa die Nachbarschaftshilfe, Hilfe zur Selbsthilfe oder das soziale Engagement im Vereinswesen, eine wichtige Funktion zur Verhinderung von sozialer Ausgrenzung haben können (Wiesinger & Machold, 2001).
Luises Engagement stand beispielhaft dafür, passgenaue, aus der Kenntnis der Region und der Menschen geborene Initiativen anzustoßen – etwa die Gründung eines selbstverwalteten Dorfladens als Antwort auf die sterbende ländliche Infrastruktur. Sie nutzte so die Möglichkeiten bzw. Gelegenheitsstrukturen in einem Nahraum, so dass Angebote zu gesellschaftlicher Teilhabe entstanden.
Darüber hinaus sind soziale Zugehörigkeit und soziale Verortung eine Dimension der Handlungsbefähigung, eines Konzepts, das von Florian Straus und Renate Höfer im IPP entwickelt wurde und das Luise Behringer in verschiedenen Arbeiten immer wieder aufgegriffen hat (Straus, 2011; Straus & Höfer, 2024). Die ressourcenorientierte, optimistische Handlungsbefähigung entsprach ihrem Blick auf die Menschen und die Welt in wunderbarer Weise. Bleibt noch zu sagen, dass unsere Forschungsanträge aus den Jahren 2017/2018 nicht angenommen wurden, dass aber die gemeinsame Arbeit und Diskussion daran Luises sozialer Zugehörigkeit im IPP ein neues und stabiles Fundament gegeben hat. Zugleich konnte Luise das Thema in verschiedenen Kontexten in die Lehre an der Katholischen Stiftungshochschule München integrieren. Im Rahmen eines Fachtags (Dill, 2019) stellten wir unsere Thesen zur Diskussion und konnten fruchtbare Anregungen gewinnen. Nach einer „Coronapause“ wollten wir noch in 2024 die vertiefende Arbeit an diesen Themen wiederaufnehmen. Luise – es wird vielleicht 2025, aber dein Thema ist nicht vergessen.
Literatur
Behringer, L. (1993). Leben auf dem Land, Leben in der Stadt. Stabilität durch soziale Einbindung. In K. Jurczyk & M. S. Rerrich (Hrsg.), Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung (S. 175–194). Freiburg: Lambertus-Verlag.
BMEL (2016). Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung der ländlichen Räume 2016. Zweiter Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung der ländlichen Räume (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Hrsg.). Verfügbar unter: https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Broschueren/Regierungsbericht-Laendliche-Raeume-2016.pdf?__blob=publicationFile [31.10.2018].
BMFSFJ (2017). Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland. Schwerpunktthema: Demographischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hrsg.). Verfügbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/115624/d6da5ce2163c59600f48a7a5d360a3b2/2-engagementbericht-und-stellungnahme-br-data.pdf [07.11.2018].
Bude, H. (2008). Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft (4. Auflage). München: Hanser.
Deppisch, L., Osigus, T. & Klärner, A. (2023). „Gefühle des Abgehängtseins“ in ländlichen Räumen? Braunschweig: Thünen-Institut für Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen, 2 p, Project Brief Thünen Inst 2023/38. Verfügbar unter: https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn066762.pdf [15.10.2024].
Dill, H. (2019). Handlungsbefähigung. Personale Metaressource und ihre Dimensionen. Vortrag beim Fachtag „Orte der Begegnung – Generationen verbinden – Zusammenhalt stärken“ am 21.11.2019 in der Katholischen Stiftungshochschule Benediktbeuern.
Helbrecht, I. (2014). Urbanität und Ruralität. In J. Lossau, T. Freytag & R. Lippuner (Hrsg.), Schlüsselbegriffe der Kultur- und Sozialgeographie (UTB, Bd. 3898, S. 167–181). Stuttgart: Ulmer.
Höfer, R. & Knothe, H. (2014). Subjektives Zugehörigkeitsbegehren in Zonen gesellschaftlicher Verwundbarkeit. In W. Kraus & W. Schneider (Hrsg.), Individualisierung und die Legitimation sozialer Ungleichheit in der reflexiven Moderne (S. 69–101). Opladen: Budrich.
Honneth, A. (2018). Anerkennung – eine europäische Ideengeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hummel, K. (2018a). Soziale Ungleichheit, lokale Demokratie und Engagement. Impulsbeitrag. In Arbeitskreis Bürgergesellschaft und Demokratie (Hg.), Protokoll der 63. Sitzung. Schwerpunktthema „Soziale Ungleichheit, Demokratie und Engagement“ (S. 15–17). Verfügbar unter: http://www.b-b-e.de/fileadmin/inhalte/aktuelles/2018/08/2018-06-08_dokumentation_ak_fes_63._sitzung.pdf [08.11.2018].
Hummel, K. (2018b). Den Blick für die Demokratie schärfen! Der Appell von Mannheim. BBE-Newsletter für Engagement und Partizipation (12). Verfügbar unter: http://www.b-b-e.de/fileadmin/inhalte/aktuelles/2018/06/newsletter-12-hummel.pdf [08.11.2018].
Landeshauptstadt München (Oktober 2011). Nachbarschaftstreffs. ein gemeinsamer Weg des Sozialreferats mit der Wohnungswirtschaft (Landeshauptstadt München & Hochschule München, Hrsg.). Verfügbar unter: http://tinyurl.com/ybneat3y [08.11.2018].
Rosenbladt, B. v. (Hrsg.) (2001). Freiwilliges Engagement in Deutschland. Freiwilligensurvey 1999. Ergebnisse der Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement. Band 1: Gesamtbericht. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Band 194.1. Stuttgart: Kohlhammer. Verfügbar unter: http://www.dza.de/fileadmin/dza/pdf/fws/BMFSFJ_2001_FWS [08.11.2018].
Simonson, J., Vogel, C. & Tesch-Römer, C. (2017). Freiwilliges Engagement in Deutschland. Der Deutsche Freiwilligensurvey 2014 (Empirische Studien zum bürgerschaftlichen Engagement). Verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-12644-5 [08.11.2018].
Straus, F. (2011). Handlungsbefähigung als Konzept zur Stärkung junger Menschen. In SOS-Kinderdorf e.V. (Hrsg.), Fertig sein mit 18? (SPI-Schriftenreihe, Dokumentation, Bd. 8, S. 110–130). München: SOS-Kinderdorf e.V., Sozialpädagogisches Institut.
Straus, F. & Höfer, R. (2024). Handlungsbefähigung. Empirische Grundlagen zur Konstruktion von Zuversicht. München: Verlag Barbara Budrich.
Wiesinger, G. & Machold, I. (2001). Dörfliche Gemeinschaften und soziale Integration. Bundesanstalt für Bergbauernfragen. Wien.
Zimmermann, G. (2015). Anerkennung und Lebensbewältigung im freiwilligen Engagement. Bad Heilbrunn: Julius Kinkhardt.
Autorin
Helga Dill
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Helga Dill ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) München.