[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 30 (2025), Ausgabe 1]
Die Studie der kanadischen Historikerin Rebecca Clifford „‘Ich gehöre nirgendwohin.’ Kinderleben nach dem Holocaust“ (Berlin, 2022)1 über die jüngsten Holocaustüberlebenden im Alter von ein bis zehn Jahren, steht im Mittelpunk meines Textes für Dich, liebe Luise. Ich habe es ausgewählt, da es für mich in Erinnerung an Dich und die gemeinsame Arbeit zu einem solchen „Comfort Objekt“ – einem tröstenden Objekt – geworden ist, wie es Biri Rottenberg in ihrem Beitrag in dieser Dir gewidmeten Ausgabe des Forum Gemeindepsychologie näher erläutert.2 Denn die Fragen des Buches sind auch die Fragen, über die wir seit fast zehn Jahren mit den Kolleginnen und ihren Studierenden in Israel einen interdisziplinären Dialog zwischen Geschichte, Pädagogik und Psychologie führen: Wie können wir an die Zeugnisse der Kinder als Opfer des Holocaust heute erinnern, wie definieren sie ihr erlittenes Unrecht, welche Rolle spielten für sie Psychologie und Soziale Arbeit auf beiden Seiten – der Täter und der Helfer – und welche Relevanz geben wir ihren Erfahrungen heute? In der Suche nach Antworten müssen wir Dich nun schmerzlich vermissen. Gerade jetzt, da diese Fragen für die Gegenwart so existentiell geworden sind, in Folge des 7. Oktober 2023, dem Attentat der Hamas auf Israel und dem Kriegsgeschehen. So ist mir das Buch ein Trost, da ich, immer, wenn ich es zur Hand nehme, unseren Dialog als Zwiegespräch weiterführe. Ich wollte den historisch begründeten Charakter der Gewalt, die Menschen erlitten haben und die in ihrem Leben nachwirkt, individuell und kollektiv verstehen. Du warst als Psychologin auf der Suche nach Strategien zur Stärkung des Menschen bei der Überwindung von Traumatisierungen, durch Resilienz und in gewisser Weise auch der Heilung. Und ich sehe Dein Lächeln, mit dem das „Aber“ deiner Entgegnung begann.
Als Zwiesprache mit den bislang ungehörten Stimmen der (damaligen) Kinder als Überlebende kann auch Cliffords Herangehensweise bezeichnet werden, mit der es ihr gelingt, nicht nur deren vielfältige Überlebenserfahrungen vor und nach der Befreiung, sondern auch ihr Ringen um die ihnen noch verbliebenen Versatzstücke eigener Erinnerung in eine Sprache zu überführen. Damit erlangt ihre Erfahrungsgeschichte eine wichtige Bedeutung für den historischen wie gesellschaftlichen Diskurs über den Holocaust. Clifford spürt die subjektive Perspektive der (damaligen) Kinder auf der Basis von 50 Interviews und vieler Fallakten von Hilfsorganisationen auf, schält Unterschiedlichkeiten wie Gemeinsamkeiten ihrer Überlebenswege heraus, immer auf der Suche nach deren eigenständigen Positionen gegenüber den übermächtigen Deutungen der (neuen) Familien, den professionellen Helfern wie auch erwachsenen Überlebenden. So legt sie in insgesamt elf Kapiteln – ergänzt durch den Prolog „Über die Namen“, Einleitung und Zusammenfassung „Die letzten Zeugen“ – Formen einer kollektiven Biografie frei.3 Der Anfang der Geschichte aller Kinder ist, dass sie in das Visier der Mordaktionen der Nazis gerieten, weil sie Kinder waren. Mit der Auslöschung ihrer Personen sollte die Zukunft des jüdischen Volkes vernichtet werden.
Als eine ihrer wichtigsten Quellen erwies sich die Interviewsammlung der Kinder-Psychoanalytikerin Judith Kestenberg, die ab den 1980er Jahren entstand und heute im Archive of Testimonies of Child Holocaust Survivors zugänglich ist. Kestenberg musste selbst als Jüdin vor der drohenden Verfolgung im Jahr 1937 von Wien nach New York emigrieren.
Noch vor der Einleitung wird unter der Überschrift „Die Namen“ das Anliegen der Studie, ein Gedenkbuch für die jüngsten Opfer des Holocaust zu sein, eingeführt. Als Symbol dafür stehen die Namen der Kinder, die sie von ihren Eltern erhielten und vor ihrer Verfolgung trugen. Clifford (2022) erläutert, wie sie versuchte, die Vielfalt ihrer Geburtsnamen zu bewahren, die „das Siegel sämtlicher Länder und Kulturen auf dem Kontinent“ (ebd., S.11) trugen, soweit sie diese ermitteln konnte. Denn die späteren Namen wurden dem Sprachgebrauch der anderen Länder angepasst oder durch eine Eheschließung geändert. Es ist auch ein persönliches Gedenkbuch an ihre Mutter Julia, geboren 1944 als Tochter einer jüdischen Familie in Budapest. Mit Blick auf die Quellen wäre an dieser Stelle auch wichtig gewesen zu erwähnen, dass die Studie vor allem an die Erfahrungen jüdischer Kinder aus West- und Mitteleuropa anknüpft. Für die Situation aus Osteuropa hätte es eines eigenen Projekts der Spurensuche vor allem in den Regionen der ehemaligen Sowjetunion bedurft.
In der „Einleitung“ werden die zentralen Fragestellungen und Herangehensweisen eingeführt. Aufgrund der Besonderheit der sehr jungen Kinder, die, wie in den Interviews deutlich wurde, meist nur eine verschwommene Erinnerung an die ersten Jahre ihres Lebens haben, ist es vor allem ein Buch über die Suche nach der eigenen Identität: Wie kann es gelingen, dem eigenen Leben einen Sinn abzugewinnen, wenn man keinerlei Gewissheit davon hat, woher man kommt? Was bedeutet es, diese Splitter der Vergangenheit mühsam zu suchen und zusammenzusetzen, um zu verstehen, wer man ist? Diese Suche erstreckte sich auf das gesamte weitere Leben, auf das Erwachsenwerden, die Ausbildung, auf Beruf und Ehe, auf eigene Elternschaft und schließlich auf das Alter. Aufgezeigt werden soll der Prozess dieser Suche, die immer auch geprägt war von der sich verändernden gesellschaftlichen Haltung gegenüber Verfolgten und Opfern des Holocaust. In den ersten fünf Kapiteln rekonstruiert Clifford die Sozialisation als Kinder und Jugendliche in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Kontext der Geschichte ihrer Helfer – jüdische Flüchtlings- und Wohlfahrtsorganisationen, Sozialarbeiter und Psychologen – im Bemühen, die „Kriegswaisen“ in die Normalität zurückzuführen. In „Ein anderer Krieg beginnt“ geht es um die Wege der Kinder aus den vielfältigen Situationen des Überlebens in die ersten Orte des Schutzes: in die Lager der Displaced Persons (DP) – Bezeichnung für die Überlebenden der Nazi Lager – innerhalb der eben noch existierenden NS Gesellschaft, in die Kinderheime der Vereinten Nationen wie der jüdischen Überlebensorganisationen, heimgeholt zu ihren Familien, bzw. zu denjenigen, die überleben konnten, oder in die neuen Adoptivfamilien. In „Der Blick der Erwachsenen“ geht es um das Verständnis der Erwachsenenwelt für die Child Survivors mit ihren schmerzhaften Erinnerungen und die Prägungen, die sich daraus für die Suche der Kinder nach ihrer Identität entwickelten. Clifford zeichnet nach, wie sich allmählich innerhalb der helfenden Professionen, vor allem der Psychologie, die Kenntnis um die Nachwirkungen der psychischen Verletzungen erweiterte – ausgehend von den Erfahrungen mit den erwachsenen Überlebenden. Im Kapitel „Wem gehört dieses Kind“ geht es um die unterschiedlichen neuen Heimaten der Kinder, meist in Folge einer Emigration, und darum, wer die Entscheidungen dafür traf. Clifford stellt anhand von Fallbeispielen vor, in welcher Weise die Bedürfnisse und die Wünsche der Kinder nicht gehört wurden, und wie sich dieser Konflikt im Laufe ihres weiteren Lebens bemerkbar machte. In dem Kapitel „Wiedervereinte Familien“ wird dieser Konflikt gerade dort untersucht, wo es gelang, dass die Kinder wieder in ihre Familien zurückkommen konnten. Mit „Die Kinder aus dem Château“ unternimmt Clifford eine Art Rückblende kurz nach der Befreiung und stellt das Konzept der „therapeutischen Gemeinschaft“ des Kinderheims der OSE (Œuvre de secours aux enfants; jüdisches Kinder-Hilfswerk) in Taverney in Frankreich vor. Das Heim, in dem auch Elie Wiesel als Jugendlicher Schutz fand, steht beispielhaft für das pädagogische Engagement von Überlebenden. Entwickelt wurde es von Judith Hemmendinger, einer in Frankreich lebenden deutschen Jüdin, die mit ihrer Mutter in der Schweiz aufgegriffen und dort interniert worden war. Der Vater wurden in Auschwitz ermordet.
Die letzten fünf Kapitel widmen sich dem Prozess der Suche nach der Identität als Überlebende ab dem Alter als junge Erwachsene: Im Kapitel „Die Verwandlung“ geht es um den Beginn der schwierigen Suche nach Hinweisen und Informationen, aus denen sich Versatzstücke ihres Lebens vor und während der Verfolgung ergaben. Diese Suche erfolgte noch gegen Widerstände aus der eigenen Familie wie auch der Gesellschaft. Im Kapitel „Trauma“ geht es um die Fortsetzung der Entwicklung der Psychologie als Helfer bei der Aufarbeitung und Heilung der psychischen Wunden. Clifford stellt hier die Kluft zwischen den psychiatrischen bzw. psychoanalytischen Deutungen und dem Selbstverständnis der Überlebenden dar, die sich gegen eine Pathologisierung ihrer Erfahrungen wehrten und sich nicht als „passive Opfer“ sahen. Dieses Ringen um die Emanzipation ihres Selbstverständnisses mit den gesellschaftlichen Zuschreibungen wird in dem Kapitel „Die sich glücklich schätzen müssen“ am Beispiel des lange prägenden Mythos, sie seien im Gegensatz zu den erwachsenen Überlebenden die „glücklichen“ Überlebenden, vertieft. Clifford legt dar, dass dieser Mythos in der vorherrschenden Auffassung begründet war, dass ihre angebliche Resilienz als Kinder sie davor bewahrt hätte, die Schrecken der Verfolgung bewusst zu realisieren und sich wie ein Schutzmantel um sie gelegt hätte. Die Zugewandtheit zum Leben hätte ihre Erinnerung ausgelöscht. In den Kapiteln „Zu Überlebenden werden“ und „Geschichten“ wird dieser Prozess der Emanzipation als Prozess der Formierung eines eigenen Erinnerungskollektivs erzählt, und zwar in beiderlei Hinsicht: Mit den weltweit gegründeten Vereinigungen der Kinder als Opfer des Holocaust entstanden auch eigene Narrative und Erzählformen, mit denen sie eine Sprache für ihre Geschichte fanden. Das letzte Kapitel behandelt „Das Schweigen“ hinsichtlich des Diskurses in der Erinnerungskultur im Kontext von „Verdrängung“ und „Abwehr“ der Erfahrungen der Überlebenden wie auch als individuelle und kollektive Erfahrung des Überlebens in der Nachkriegszeit.
Im Folgenden werden wichtige Aspekte und Befunde der Studie, insbesondere die Beziehungsgeschichte zwischen den überlebenden Kindern und den helfenden Professionen kurz zusammengefasst. Falls notwendig zum Verständnis und zur Einordnung weitere Literatur herangezogen wird, wird diese ausgewiesen.
Das Ringen der Child Survivors um ihre Vergangenheit und Erinnerung
Litzi wurde im Alter von drei Jahren gemeinsam mit ihrem fünfjährigen Bruder Herschel und den Eltern nach Theresienstadt deportiert. Nach der Befreiung kam sie allein in ein Kinderheim für Holocaustüberlebende nach Weir Courtney in Südengland. Dort holten sie ein Mann und eine Frau ab, die erklärten, sie seien ihre Eltern. Litzi lebte mit beiden fortan, litt aber daran, dass sie sich nicht an sie erinnern konnte, aber manchmal Erinnerungen auftauchten, die für sie keinen Sinn ergaben. Und dass die Eltern ihren Fragen auswichen. Im Alter von 18 Jahren schrie sie in einem Streit mit ihren Eltern voller Wut: „Ich wünschte, du wärst nicht mein Vater!“ Worauf er antwortete: „Ich bin es nicht.“ So erfuhr sie, dass er ihr Onkel war und sie mit seiner Frau angelogen hatte, um ihr die Grausamkeit des Todes der Eltern zu ersparen (Clifford, 2022, S. 15-16).
Felice wurde im Alter von einem Jahr mit ihrer Familie nach Gurs, einem Lager in Frankreich deportiert, dort von den Eltern getrennt und bei katholischen Familien versteckt. Sie überlebte. Im Jahr 1983 war sie als 40-Jährige bei einem Treffen von Holocaustüberlebenden in Washington (USA). Sie erinnert die Kluft zu den älteren Überlebenden, die im Gegensatz zu ihr im Lager waren, und dort Grausamkeiten ausgesetzt waren, die sie selbst nie erlitten hatte. Sie sagte im Interview: „Ich hatte das Gefühl, keine Überlebende zu sein, aber dann dachte ich: Auf meine Art bin ich sehr wohl eine Überlebende. Meine Eltern sind tot, meine ganze Familie ist tot, abgesehen von meiner Schwester und mir ist niemand mehr da“ (ebd., S. 26).
Leora überlebte den Zweiten Weltkrieg als kleines Mädchen, versteckt von einer Bäuerin in Frankreich. Sie erinnert im Interview, dass die Frau sehr arm war, dass sie gemeinsam hungerten und froren, wenn es Winter wurde. Und sie weiß, dass sie einander zugetan waren. Nach Kriegsende wurde Leora – wie viele andere gerettete Kinder – von ihrer Beschützerin getrennt, ohne dass sie gefragt wurde. Diesem persönlichen Verlust sollte ein für ihr zukünftiges Leben noch ungeheuerlicherer folgen. Sie wusste ihren Namen nicht und niemand konnte ihr helfen. Es gab keine Hoffnung für sie, ihre Eltern, die vielleicht noch am Leben waren, ihre Geschwister oder Angehörige zu finden. So war und blieb sie ein „aus dem Nichts gekommenes“ Kind (ebd., S. 318-319).
Diese Geschichten sind nur drei der insgesamt bis heute bekannten 180.000 Kinder und Jugendliche, die den Mord an den europäischen Juden überlebten. Dass diese Zahl, die bereits unmittelbar nach Kriegsende vom Jewish Joint Distribution Committee (JDC) nach Meldungen der Anzahl der von Hilfsorganisationen betreuten Kinder ermittelt worden war, bis heute nicht erweitert wurde, macht die Randstellung der Child Holocaust Survivors als Opfergruppe in der historischen Forschung wie auch in der Öffentlichkeit deutlich. Ihre Überlebenschancen hingen vor allem auch davon ab, ob sie aus Ost- oder Westeuropa stammten und welchen Orten der Verfolgung sie ausgesetzt waren. So überlebten elf Prozent jüdischen Kinder in gesamt Europa (ebd., S. 54), in Polen aber nur etwa drei Prozent. Ghettos zählten ab dem Beginn der großen Deportationswellen in die Vernichtungslager zu den gefährlichsten Orten. Von den insgesamt 51.458 Kindern unter 10 Jahren im Warschauer Ghetto überlebten die ab 22. Juli 1944 einsetzenden Massendeportationen lediglich 498 von ihnen. Hinter den Erfahrungen der skizzierten quantitativen Dimension der Verfolgung der Kinder lagen folgende vier möglichen Wege des Überlebens: Überleben in einem Versteck, Flucht in ein neutrales oder von den Alliierten kontrolliertes Land, Überleben in Ghettos und Durchgangslagern und Überleben in Konzentrationslagern, wie in Theresienstadt, Auschwitz oder Buchenwald. Und oft überlagerten sich diese Wege.
Diese Wege des Überlebens wären ohne die Tatkraft von mutigen Hilfs- und Widerstandsaktionen nicht möglich gewesen. So ist die Geschichte des Überlebens der Kinder eng verbunden mit der – insbesondere im deutschsprachigen Raum – weitgehend unbekannten Geschichte der jüdischen Hilfsorganisationen und der sie prägende Fürsorger*innen, Sozialarbeiter*innen, Kinderpsycholog*innen und Ärzte. Eine von ihnen, die Clifford ausführlicher würdigt, war die 21-jährige Marianne Cohn. Sie wurde im Mai 1943 auf dem Weg mit einer Gruppe von Kindern in die rettende Schweiz in den französischen Alpen verhaftet und von der Gestapo brutal erschlagen (Clifford, 2022, S. 41f.). Was bis heute kaum erforscht ist: Nach Kriegsende erreichten die Hilfsorganisationen mit ihrem Netzwerk an Heimen, Hilfen in den DP-Lagern und der Vermittlung von Adoptionen weltweit etwa 120.000 der überlebenden Kinder. Sie sahen sich mit ihren Programmen auch als Beschützer vor drohender Kriminalisierung. Dieser Anspruch fußte in dem auch von der frühen Berichterstattung beschworenen Bild der Kriegswaisen als „Wolfskinder“, die in Folge der erlebten Schrecken ob der unmenschlichen Gräuel jegliches moralische Empfinden verloren hätten. Die Therapiekonzepte zielten darauf ab, die Kinder in einen psychischen, emotionalen und moralischen Normalzustand zu überführen, um damit den Prozess ihrer mentalen Rehabilitation einzuleiten. Nach und nach nahm man Abstand von einer rein pathologischen Sicht auf die Kinder, auch in dem Maße, wie das professionelle Verständnis über die psychologischen Wirkungen kindlicher Kriegserfahrungen wuchs. Clifford rekonstruiert diese Entwicklung als eine, die bereits unmittelbar zum Zeitpunkt der Befreiung begann, meist in den Heimen, in denen die überlebenden Kinder aufgrund des Engagements jüdischer Hilfsorganisationen Unterkunft und Therapie erfuhren. Doch auf der Suche nach der spezifischen Perspektive der Kinder auf ihre Situation wird deutlich, dass gerade für sie mit ihrer Befreiung „ein anderer Krieg“ begann (ebd., S. 61), den sie in dem sie schützenden privaten Lebensumfeld austragen mussten. Während die Erwachsenen dieses neue Umfeld als den Beginn für das neue Leben ansahen, das sie den Kindern schufen, ging es für die Kinder um den Kampf, wer sie nach ihrem eigenen Verständnis waren, und wer sie für ihre Helfer, ihre (neuen) Eltern und ihre Umwelt sein sollten.
Interessant für diesen Konflikt, und wie früh er begann, ist das Beispiel des unterschiedlichen Umgangs seitens der Helfer (Psychologen, Sozialarbeiter) mit den überlebenden Jungen aus dem Konzentrationslager Buchenwald. In dem ersten Heim, in das man sie brachte, in Ècouis in der Normandie, wurde ihr Zustand seitens des Psychiaters Eugen Minkowski als geprägt von einer „affektiven Anästhesie“ (ebd., S. 63) diagnostiziert. Minkowski beschrieb die Jungen als „homogene Masse“, „haarlos, mit vom Hunger angeschwollenen Gesichtern und identischer Kleidung; eine Gruppe mit einer apathischen, teilnahmslosen und gleichgültigen Einstellung, unfähig zu lachen oder auch nur zu lächeln, und mit offenkundiger Aggressivität gegenüber dem Personal; misstrauisch und argwöhnisch“. Er erklärte ihren gestörten Gefühlszustand als Folge eines Verteidigungsmechanismus, den sie, um zu überleben, gegen die Bedrohungen im Konzentrationslager entwickelt hätten. Auch ihre Aggressivität gegen die Erwachsenenwelt sei als eine Strategie des Überlebens zu verstehen. Daraufhin ließ der Heimleiter aus Angst vor möglichen Gewaltausbrüchen die Jugendlichen, die er als „Psychopathen“ bezeichnete, nach Taverney in ein anderes Heim überweisen. Judith Hemmendinger, die dort leitende Sozialpädagogin, nahm sich ihrer an und entwickelte, ausgehend von Eugen Minowskis psychiatrischer Diagnose, das Konzept der „therapeutischen Gemeinschaft“ (ebd., S. 64). Das Konzept sollte für die Jungen eine Gegenwelt zu den Lagererfahrungen darstellen. Sie sollten auch Regeln ihres Zusammenlebens selbst festlegen, ihre Schlafsäle gestalten können. Statt männlicher Autoritätspersonen standen ihnen „mütterliche Ansprechpartnerinnen“ zur Seite. Die Jungen wurden angeregt, über ihre Kriegserfahrungen zu sprechen, und erhielten auch die Möglichkeit – als Beweis, dafür, dass sie überlebt hatten – Portraitaufnahmen von sich machen zu lassen. Hemmendinger entwickelte ihr Vorgehen und ihre pädagogischen Überlegungen ausgehend von ihren eigenen Erfahrungen des Überlebens. Wie die Erfahrungen der Verfolgung dieser Generation junger Erwachsener auch die sich erst entwickelnden Ansätze im Umgang mit den Traumata von Kindern prägten, zeigt der vergleichbare Weg von Syma Klok. Auch sie war bei Kriegsende Anfang 20 und stammte aus Wilna. Mit ihrem Ehemann gelang es ihr noch während des Krieges aus Polen nach Japan zu fliehen. Nach Kriegsende erfuhr sie, dass der Großteil ihrer Familie nicht überlebt hatte. Einzig ihr Bruder wurde in einem Versteck in Belgien gerettet. Sie schloss sich dem auf Kinder spezialisierten Internationalen Suchdienst an (UNRRA, später IRO) und begründete in Schallerbach in Österreich ein Kinderheim für 65 Kinder jüdischer wie auch nicht-jüdischer Herkunft. Syma Klok und ihre Mitarbeiter, die allesamt auch jüdische Überlebende waren, setzten auf die psychische Rehabilitation der Kinder durch Liebe, Nachgiebigkeit und Verständnis: „Liebe ist nicht genug, aber in unserer spezifischen Situation wurde Liebe gegeben und war sehr nützlich, denn wenn es keine Liebe, keine Wärme und kein Verständnis gibt, genügt nichts – nicht einmal die Einzelbetreuung.“ (ebd., S. 162). Dies prägte auch die Herangehensweise von Alice Goldberger, Leiterin des Heims Weir Courtney (England). Den Kindern sollte dort eine warme, geborgene, aber auch offene Umgebung geschaffen werden. Gespräche über das erlebte Vergangene waren ein wichtiger Teil davon und wurden als Therapie verstanden. Alice Goldberger schilderte ihre Erfahrungen in der Weise, dass die Kinder, sobald sie sich eingewöhnt hatten, gerne gesprochen hätten: über Mütter, die sie verloren hatten, über das, was sie an ihr früheres Zuhause erinnerte, aber auch über ihre schrecklichen Erlebnisse im Lager, in Auschwitz, über ihre Träume von den Schrecken im Lager (ebd., S. 320f.). Der Journalist Howard Byrne schrieb Ende der 1940er über diese in Weir Courtney sich entwickelnden neuen Wege im Bemühen um die „psychische Erhaltung der Kinder“. Seine Berichte erfuhren eine hohe Resonanz gerade auch innerhalb der humanistischen Pädagogik und Psychologie.
Angesichts der bislang einmaligen Dimension und Qualität der Verbrechen, gerade auch gegen Kinder und Jugendliche, merkten vor allem diejenigen, die im direkten Kontakt mit ihnen standen, dass ihre fachlichen Annahmen und bislang als bewährt angesehene Instrumente nicht mehr ausreichen konnten. Dies betraf vor allem die Frage, ob angesichts der psychischen, emotionalen und moralischen Wunden die seelische Gesundheit der Kinder wiederhergestellt werden konnte. Der Psychiater und Psychoanalytiker Paul Friedman formulierte diese Herausforderung in seiner Studie über die psychische Gesundheit der Child Survivors in den DP-Lagern im Jahr 1947 wie folgt: „[…] ich stellte rasch fest, dass diese Kinder gravierende emotionale Probleme hatten, die normalerweise von neurotischer Natur waren. Es wäre sehr abnormal gewesen, wenn sie keine derartigen Probleme gehabt hätten. Wie diese Kinder in Hitlers Europa gelebt haben, bedeutete, in einer Welt gelebt zu haben, in der alle akzeptierten Regeln des menschlichen Miteinanders zerstört und alle moralischen Normen ausgehöhlt worden waren“ (Clifford, 2022, S. 76). Anna Freud und Sophie Dann veröffentlichten im Jahr 1951 eine Studie über das Verhalten überlebender Kleinkinder aus Theresienstadt, die in ihre Obhut gegeben wurden. Mit der Auswertung ihrer Beobachtungen brachen sie mit der bislang auch von ihnen vertretenen psychoanalytischen Ansicht, dass vor allem die emotionale Destabilisierung infolge der Trennung der familiären Bindung bzw. der Mutter-Kind-Beziehung schädlicher war als die Verletzungen in Folge des Krieges und der Verfolgung. So müsste diese nicht nur in der Psychoanalyse verbreitete Vorstellung überdacht werden, dass die mütterliche Zuwendung grundlegend für die gesunde psychische Entwicklung eines Kindes sei (ebd., S. 218). Wie lang der Weg bis in die 1970er und 1980er war, bis sich die Psychiater, Psychologen und Pädagogen mit den Erfahrungen des Überlebens als zentraler Realität für die Nöte und Identität der Kinder auseinandersetzten, rekonstruiert Clifford vor allem in den Kapiteln „Der erwachsene Blick“, „Wiedervereinigte Familien“ und „Trauma“. Einen wichtigen Schritt stellte beispielsweise die „Sequenzielle Traumatisierung“ (1979) des niederländischen Psychiaters und Psychoanalytikers Hans Keilson dar (zit. in Clifford, 2022, S. 228). Seine Langzeitbeobachtung von Child Survivors, die er 1967 begann, beruhte auf den bahnbrechenden Forschungen des deutsch-amerikanischen Psychiaters und Psychoanalytikers William Niederland, ebenfalls ein jüdischer Emigrant. Er erbrachte in Folge der Beobachtung erwachsener Holocaustüberlebender den Nachweis, dass ihre körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen von einem – er nannte es „Überlebensschuld-Syndrom“ – herrührten, das sich aufgrund der erlittenen und lang anhaltenden Traumata herausgebildet hatte (ebd., S. 223). Keilson konnte belegen, dass die Symptome des Syndroms sich bei den Kindern noch häufiger und deutlicher ausprägten als bei den Erwachsenen und argumentierte mit ihrer „biologisch determinierten Ich-Schwäche“. Zudem erweiterte er die Symptome um psychosoziale Folgen wie Scheidung und schulische Probleme. Mit der weiteren Formierung progressiver Psychiater und Psychologen, die sich vermehrt als Bündnispartner der Überlebenden im Kampf um deren gesellschaftliche Anerkennung, insbesondere ihres Rechtsanspruches auf Entschädigung, sahen, wuchs zudem das Bewusstsein hinsichtlich einer intergenerationalen Tradierung der Traumata, die auch die Kinder der Überlebenden miteinschloss.
Doch auch diese, die Akzeptanz der Child Survivors fördernde Rolle der Helfer, hinterfragt Clifford, in dem sie dieser die Perspektive der Kinder entgegenhält. Mussten einige der Überlebenden gegenüber konservativen Psychiatern darum kämpfen, dass ihre Angstzustände und Depressionen ernstgenommen wurden, gaben andere junge Überlebende an, dass sie darum kämpfen mussten, dass ihre psychischen Probleme nicht als irreversibel pathologisiert wurden. Diese Ambivalenz, die sich in der Erfahrung der (ehemaligen) Kinder des Nicht- gehört- und Nicht-ernst-genommen-Werdens immer wieder äußert, zieht sich als Kontinuum durch die Beziehung zu den Helfern und ihren sich wandelnden Positionen. Aus Sicht der überlebenden Kinder war diese Ambivalenz auch Ausdruck ihres Kampfes um Augenhöhe. Es gelang ihnen nicht, die Kluft zwischen den Anforderungen der Erwachsenenwelt und ihrem Bedürfnis als eigenständige Akteure und handelnde Subjekte wahrgenommen zu werden zu überwinden.
Sehr aufschlussreich ist beispielsweise ihre Analyse über die scheinbar konträren Erinnerungen daran, ob die Kinder über ihre schrecklichen Kriegserlebnisse sprechen konnten oder ob diese beschwiegen wurden. So zeugen die Aufzeichnungen der Kindertherapeutin Alice Goldberger davon, dass sie in dem von ihr geleiteten Kinderheim Weir Countey in England, angeregt von neuen psychoanalytischen Therapieformen, das Erzählen der Kinder über das Erlebte immer wieder anregte und förderte. Dagegen erinnern Überlebende, die in dem Heim waren, dass sie dort zum Schweigen angehalten wurden. Clifford identifiziert hier als einen Grund, dass die therapeutische Absicht den Kindern zu helfen, das Erlebte schnell hinter sich zu lassen, sich gegen die Bedürfnisse der Kinder, warum sie sprechen wollten, richtete. Sie waren auf der Suche nach Geborgenheit und Trost, dass sie auch aus dem Wissen bezogen, dass sie mit ihren Kriegserlebnissen eine gemeinsame Geschichte hatten.
Gerade dieser Fokus auf der Selbstbehauptung der bislang weitgehend unbekannten Opfergruppe der jüngsten der überlebenden Kinder, die heute als letzte noch lebende Zeugen des Holocaust gewürdigt werden, macht die Stärke des Ansatzes von Clifford aus. Mit Blick auf die seit den 1990er Jahren sich entwickelnde historische Forschung über die Child Survivor4 zeigt sie uns einen Weg im Verstehen der Verarbeitung von Traumata von Kindern. So gibt die Studie gerade aufgrund ihres Charakters als Gedenkbuch auch sehr wichtige Anstöße für einen interdisziplinären Dialog über die Lehren, die aus den Erfahrungen der Child Survivors zur Stärkung von Kindern als Opfer von Gewalt zu ziehen sind. Da die Studie bereits 2022 auf Deutsch erschienen ist, fehlt ein weiteres sehr bitteres Kapitel über ihre Erfahrungen des Nicht-gehört-Werdens im Zuge des Attentats der Hamas auf Israel und den folgenden Krieg.
Eine Gruppe der Child Survivors, die als Zeitzeugen am Holocaust Museum in Washington tätig sind, veröffentlichten dazu am 13. Oktober 2023 ein eindringliches Statement, mit dem sie ihre Sorge um israelische Kinder, Familien und Gemeinden sowie um die zukünftige Erinnerung an den Holocaust zum Ausdruck bringen. Hier nur ein kleiner Auszug daraus (übersetzt aus dem Englischen):
„[…] Unser ganzes Leben lang haben wir um unsere Angehörigen getrauert, die durch die völkermörderischen Handlungen der Nazis und ihrer Kollaborateure ihr Leben verloren haben, aber wir hofften, dass die Lehren aus der Vergangenheit eine andere Zukunft gestalten könnten. Heute trauern wir um Israel, das für uns eine so besondere Bedeutung hat. Das ist nicht das, was wir in diesem letzten Kapitel unseres Lebens erwartet haben, wenn wir über unser Vermächtnis, die Zukunft der Erinnerung an den Holocaust und die Bildung sowie die Zukunft unseres Volkes nachdenken. Wir schreiben diesen Brief an die Menschheit in Trauer, aber auch in Hoffnung. Wir wissen, dass nur wenige unseren Schmerz nachvollziehen können, da wir miterleben mussten, wie unsere Familien und Gemeinden ausgelöscht wurden. Wir sind der lebende Beweis dafür, dass das Undenkbare immer möglich ist.“5
Endnoten
1. Der folgende Text beruht in Teilen auf der Rezension der Autorin: Eberle, A. (2022, 18. Juli). Leben nach dem Horror. Rebecca Cliffords einfühlsames Buch über Traumata von Menschen, die als Kind dem Holocaust entkamen. Süddeutsche Zeitung.
2. Rottenberg, B. (2025). Dear Luise. Forum Gemeindepsychologie, 30(1).
3. Vgl. Hiemesch, W. (2020). Rezension zu: Clifford, R.: Survivors. Children’s Lives After the Holocaust. New Haven, In H-Soz-Kult, 14.12.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-94887.
4. Für mehr Information zur historischen Forschung über die Child Survivors, hier eine Liste der Literatur, die Clifford u.a. für ihr Buch nutzte:
Buser, V. (2011). Überleben von Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz und Bergen-Belsen, Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager 1933–1945, Band 13. Berlin: Metropol.
Cohen, Sh. K. (2005). Child Survivors of the Holocaust in Israel. „Finding Their Voice“. Social Dynamics and Post-War Experiences. Brighton: Sussex Academic Press.
Dwork, D. (1994). Kinder mit dem gelben Stern. Europa 1933–1945, München: Beck.
Hiemesch, W. (2017). (Über-)Lebenserinnerungen. Kinder im Konzentrationslager Ravensbrück. Köln: Böhlau Verlag.
Meyer, A. (2015). Vergiss Deinen Namen nicht. Die Kinder von Auschwitz (1. Aufl.). Göttingen: Steidl.
Stargardt, N. (2005). Witnesses of War. Children’s Lives under the Nazis. London: Jonathan Cape.
Zarah, T. (2011). The Lost Children: Reconstructing Europe’s Families after World War II. Cambridge: Harvard University Press.
5. “Open Letter: Holocaust Survivors Respond to Largest Massacre of Jews since the Holocaust,” United States Holocaust Memorial Museum, accessed October 13, 2023, https://www.youtube.com/watch?v=RKghRGH7pjM
Literatur
Clifford, R. (2022). „Ich gehöre nirgendwohin.“ Kinderleben nach dem Holocaust. Berlin.
Eberle, A. (2022, 18. Juli). Leben nach dem Horror. Rebecca Cliffords einfühlsames Buch über Traumata von Menschen, die als Kind dem Holocaust entkamen. Süddeutsche Zeitung.
Autorin
Annette Eberle
annette.eberle@bitte-keinen-spam-ksh-m.de
Prof. Dr. phil., Historikerin und Erziehungswissenschaftlerin
Professorin an der Katholischen Stiftungshochschule München, Campus Benediktbeuern