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Lokale digitale Netzwerke als Ansatz für Hilfen im sozialen Nahraum

Alf Trojan

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 30 (2025), Ausgabe 1]

 

Zusammenfassung

Die Digitalisierung wirkt sich auch auf die Sozialräume Nachbarschaft, Stadt und Region aus. Für viele (insbesondere jüngere) Bürger*innen bieten internetgestützte Soziale Netzwerke wie z.B. Facebook, Xing oder LinkedIn vielfältige ortsungebundene Möglichkeiten zur Kommunikation, zum Knüpfen von Beziehungen und zur Schaffung virtueller Communities, die einerseits zu positiven Erweiterungen sozialer Kontakte, andererseits aber auch zu einer Entwertung der persönlichen Beziehungen im Nahraum führen können. Neben diesen gibt es aber auch Bemühungen, sozusagen hybride lokale Netzwerke zu schaffen, die im Nahraum persönliche Kontakte mit Hilfe der Digitalisierung unterstützen, neu schaffen und erweitern. Von besonderem Interesse sind dabei Gruppen und Netzwerke von alten Menschen, weil sie einerseits besonders davon profitieren könnten, andererseits jedoch meist nur geringe Internet-Kompetenzen aufweisen.

Exemplarisch soll dies für Hamburg und seine Quartiere sichtbar gemacht werden. Zentrale Fragen sind dabei: Welche Netzwerke sind zu finden, welcher Art sind diese digitalen Nachbarschaften, wie arbeiten sie und wie sind sie einzuschätzen? Es handelt sich um eine explorative Internetrecherche, bei der nach dem Schneeballsystem die vermutlich wichtigsten Initiativen identifiziert werden konnten. Die entsprechenden Initiativen werden kurz dargestellt und abschließend eingeordnet und gewürdigt.


Schlüsselwörter:
Digitalisierung, Alter, Netzwerke, Gesundheitsförderung, Nachbarschaft

 

Summary

Local digital networks as an approach for support in local social environment

 

Digitalization also impacts social spaces such as neighborhoods, cities, and regions. For many (especially younger) citizens, internet-based social networks like Facebook, Xing, or LinkedIn offer diverse opportunities for communication, building relationships, and creating virtual communities. These can lead to positive expansions of social contacts but also to a devaluation of personal relationships within immediate surroundings. In addition to such global platforms, there are also efforts to create hybrid local networks that leverage digitalization to support, establish, and expand personal contacts in close physical proximity. Particularly interesting in this context are groups and networks of older people, as they could significantly benefit from such initiatives but often have limited internet skills.

This phenomenon is examined using Hamburg and its neighborhoods as examples. Key questions include: What networks exist? What characterizes these digital neighborhoods? How do they operate, and how should they be assessed? The study is based on an exploratory internet search, utilizing a snowball approach to identify the most relevant initiatives. The identified initiatives are briefly described, analyzed, and evaluated in conclusion.


Keywords: Digitalization, Old Age, Networks, Health Promotion, Neighborhood

 

Hinweis: Da die Recherche zu diesem Artikel schon einige Zeit zurückliegt, kann es vorkommen, dass einzelne Details inzwischen überholt sind. Nach Meinung des Autors ändert dies jedoch nichts an den generellen Aussagen des Beitrags.

 

 1 Einleitung

Auch in der gesundheitlichen und sozialen Versorgung hat das Thema Digitalisierung Hochkonjunktur (Krüger-Brand, 2020): Die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.         V. bietet beispielsweise eine Plattform an mit dem Titel Highways to Health (#H2H)1 und fragt: „Gesundbleiben in und mit der digitalen Welt: Wie kann das gelingen?“ Der Wissenschaftsschwerpunkt Public Health in Bremen will in den nächsten Jahren die Potenziale, Grenzen und Risiken der Digitalisierung in Public Health/Gesundheitswissenschaften untersuchen.2 Größte Relevanz und Breitenwirkung hat u.E. der Achte Altenbericht (Deutscher Bundestag, 2020). Er behandelt u.a. das Thema „Ältere Menschen und Digitalisierung“ und spricht Empfehlungen dazu aus. In der sechsten von insgesamt 12 Empfehlungen heißt es u.a. (S.136): „... insbesondere sollten die Möglichkeiten der Digitalisierung zur Vernetzung von Quartieren und damit zur Entwicklung von Sorgestrukturen genutzt werden.“ Die Bundesländer sollen diese Aktivitäten beratend begleiten und finanziell unterstützen.

In Hamburg gibt es seit 2016/17 unter anderem für diesen Zweck den Digital Health Hub Hamburg (DHHH) der Gesundheitswirtschaft Hamburg GmbH 3, der Unternehmen und Wissenschaft dabei unterstützt, Innovationspotenziale zu identifizieren und Projekte zu entwickeln, die die Digitalisierung für das Gesundheitswesen nutzbar machen, u.a. auch im Rahmen von Quartiersprojekten (s.u.).

 

2 Fragestellung und Methodik

In diesem Beitrag wird gefragt, welche digitalen Netzwerk-Projekte die Absicht haben, im Sinne des Altenberichts Quartiere besser zu vernetzen und „Sorgestrukturen“ zu entwickeln. Hier gibt es ein weites Spektrum, das von expliziten Gesundheitsprojekten bis zu solchen reicht, die die Gesundheit fördern, indem sie allgemein den sozialen Zusammenhalt und die Lebensqualität verbessern.

Methodisch wurden daher bei den gesuchten Sorgestrukturen vorrangig solche mit explizit gesundheitsrelevanten Aktivitäten eingeschlossen. Die bessere Vernetzung hat aber auch implizite gesundheitsrelevante Wirkungen: Seit langem ist aus sozialepidemiologischen Untersuchungen bekannt, dass die Einbindung in gute (nicht-digitale) soziale Netzwerke mit einer geringeren Krankheitshäufigkeit und höheren Lebenserwartung einhergeht, auch wenn Gesundheit gar nicht zu den erklärten Zielsetzungen zählt (Trojan, 2020; Richter & Wächter, 2009; BMI, o.J.). Daher wurden auch solche Netzwerke in der Darstellung eingeschlossen, bei denen die implizite Gesundheitsrelevanz im Sinne von Social Support erkennbar war.

Um die Recherche einzugrenzen, wurde exemplarisch der Sozialraum Hamburg in den Blick genommen. Sie fand statt in einem Feld ohne scharfe Konturen und einheitliche Bezeichnungen. In einer einfachen Google-Suche wurde mit den Begriffskombinationen „Netzwerk Digital Hamburg“, „Netzwerk Digital Quartier Hamburg“ begonnen und von dort nach dem Schneeballsystem ausgeweitet. Die Ausdrücke „Gesundheit“ und „Alter“ wurden in der Anfangssuche nicht verwendet, um eine frühzeitige Einengung zu vermeiden. Die methodischen Nachteile einer einfachen Google-Recherche liegen auf der Hand: möglicherweise unvollständige Erfassung und Informationsbegrenzung auf das, was Eingang in die Selbstdarstellungen gefunden hat. Da es sich aber um eine explorative Studie ohne eigene Mittel handelt, mussten diese Limitationen in Kauf genommen werden.

 

3 Beispiele aus Hamburg

Den Beispielen ist gemeinsam, dass bei älteren Menschen digitale Kompetenzen und die Nutzung digitaler Medien gesteigert werden sollen.

 

Aktive und Gesunde Quartiere Uhlenhorst und Rübenkamp (AGQua)4

Das Projekt wird getragen von acht Kooperationspartnern, darunter auch Gesundheitswirtschaft Hamburg.de als Koordinator.

Im Rahmen eines ganzheitlichen Quartiersansatzes (Quast & Rose, 2018, S. 430) mit verschiedenen Bausteinen wird ein digitales Nachbarschaftsnetz mit dem Namen „Meine Nachbarn“ erprobt, durch das Krankheiten verringert und Lebensqualität gesteigert werden sollen. Dadurch hofft man auch Aufenthalte in stationären Einrichtungen verhindern zu können.

Innovative Akzente des Gesamtprojekts sind:

 

„… die Entwicklung eines digitalen quartiersbezogenen Informationssystems zur Vermittlung professioneller gesundheitsfördernder Angebote zur Aktivierung der Bewohner,

die Entwicklung einer mobilen Applikation zur Vermittlung von einfachen nachbarschaftlichen Unterstützungsleistungen,

die Einbindung bestehender eHealth-Applikationen zur Vitaldatenmessung in ein individuelles Gesundheitstagebuch und

der Aufbau eines individuellen eHealth-basierten Beratungsangebotes.“5

 

Das digitale Nachbarschaftsnetz Meine Nachbarn basiert auf einer App des Projektpartners Silpion IT-Solutions GmbH. Man kann darüber andere Quartiersbewohner*innen kennenlernen, Informationen über lokale Veranstaltungen und Angebote erhalten und selber Nachbarschaftshilfe anbieten oder erbitten. Auch das AGQua-Quartiersmanagement, die AGQua-Gesundheitsberatung sowie viele weitere lokale Organisationen sind Teil des Netzwerks Meine Nachbarn.

Evaluationen durch die HAW Hamburg sollten ermitteln, ob die angebotenen Lösungen die angestrebten Ziele erreichen. Das Projekt wurde im Frühjahr 2021 beendet. Teilweise werden Aktivitäten jedoch fortgeführt und in andere Quartiere transferiert. In einer vorläufigen Bilanz heißt es u.a.: „Es wurde der Nutzen der nachbarschaftlichen Aktivitäten in Verbindung mit Gesundheitsberatung und Präventionsangeboten gezeigt. Es wurde weiterhin festgestellt, dass die Maßnahmen zu einer Verbesserung der Gesundheit und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität führten und dass die gesundheitliche Kompetenz und die Souveränität der Bewohnerinnen und Bewohner erhöht werden konnten.“6

 

Hamburger Pilotprojekt „Netzwerk gesund aktiv“7

Dieses Projekt wird vom Albertinenhaus in Eimsbüttel koordiniert und beabsichtigt ebenfalls, die Gesundheitsförderung von Senior*innen im Quartier zur stärken. Es hat derzeit rund 800 Senioren als Teilnehmer. Diese können Bewegungsangebote und ein interprofessionelles Team samt Geriatrie, Physiotherapie und Sozialarbeit nutzen. Wichtiger Baustein ist der Persönliche Assistent für Unterstütztes Leben (PAUL)8, der als App oder im Webportal auf allen Endgeräten nutzbar ist. Für die Nutzer gibt es beispielsweise ein Schwarzes Brett oder die Online-Sprechstunde mit Hausärzten, Videotelefonie und Internet-Nutzung. Die Unterstützungs- und Kommunikationsplattform wurde gemeinsam mit verschiedenen Nutzergruppen entwickelt und gestaltet., wodurch sie übersichtlich und leicht verständlich geworden ist. Dieses Netzwerk ist nicht durch örtliche Zugehörigkeit definiert. Ziel- bzw. Nutzergruppen sind ältere Menschen in Pflegestufe 1 bis 3 oder mit einem erhöhten Risiko, in absehbarer Zeit hilfs- und pflegebedürftig zu werden.

 

Netzwerk Nachbarschaften9

Dieses Netzwerk fördert gemeinsam mit der AOK Rheinland/Hamburg (jährliche Ausschreibung eines Förderpreises) innovative und nachhaltige Projekte für ein gesundes und solidarisches Miteinander aller Generationen in Nachbarschaften. Die meisten Projekte sind weder hamburgspezifisch noch digital basiert, aber es gibt u.a. auch drei digitale Hamburger Nachbarschaftsmodelle in der Mitglieder-Datei.

Das Mehrgenerationenhaus Billstedt ist ein Beispiel einer kleinen Nachbarschaft, das sehr auf die Stärkung der digitalen Kompetenz bei älteren Menschen setzt.10 Die Bewohner*innen organisieren sich in verschiedenen Vereinen und Gruppen vor Ort und initiieren stets neue Projekte, um aktiv und gesund zu bleiben. Gegenseitige Hilfe ist zentral.

Eine andere Initiative ist „Wege aus der Einsamkeit“ e.V.11, die u.a. (zusammen mit der Stiftung Generationen-Zusammenhalt) ein Projekt mit dem Titel „DIGITALHOCH2“12 trägt. Schüler*innen des Lise-Meitner-Gymnasiums in Hamburg-Osdorf geben ihr Know-how an circa 270 Senior*innen weiter und ermöglichen ihnen so digitale Teilhabe. Ziel ist es, für die Arbeit mit insgesamt fünf neuen Schulen einen festen Mitarbeiter einzustellen.

In der Machbarschaft-Wandsbek-Hinschenfelde e.V.13 unterstützen ca. 50 Nachbar*innen mit regelmäßigen Angeboten 160 ältere Menschen in ihrer Umgebung. Neben den überwiegend praktischen Hilfen unterstützt der Verein auch beim Umgang mit Smartphone oder Laptop.

 

Weitere Nachbarschaftsnetzwerke

Daneben gibt es eine ganze Reihe örtlicher Nachbarschaftsportale im Internet, die ähnliche digital basierte Vernetzungs- und Vermittlungsfunktionen übernehmen, besonders in Corona-Zeiten, in denen Präsenztreffen nur zeitweise und unter erschwerten Bedingungen möglich waren.14

 

4 Überregionale Nachbarschafts-Plattformen

Neben den kleinräumigen, lokal organisierten, internetbasierten Netzwerken gibt es auch überregionale Internet-Plattformen, die – anders als die ort-losen virtuellen Communities wie z.B. Facebook – in kleine stadtteilbezogene Nachbarschaften untergliedert sind.

 

Nextdoor.com

Ein Vorreiter der Nachbarschaftsportale war das 2011 in den USA entstandene Portal Nextdoor.com.15 Seine Funktionen werden so zusammengefasst: „Mit Nextdoor kannst du mit den Nachbarschaften, die dir am Herzen liegen, in Kontakt treten und Zugehörigkeit finden. Indem wir Nachbarn und Organisationen zusammenbringen, können wir eine freundlichere Welt schaffen, in der alle eine Nachbarschaft haben, auf die sie sich verlassen können.“ Nextdoor.de wirbt zwar damit, dass es in 11 Ländern 285.000 Nachbarschaften weltweit verbinde und 55 Millionen lokale Unternehmensempfehlungen von Nachbarn präsentiere. Jedoch: veraltete „Neuigkeiten“, kaum genutzter Blog, fehlende Detail-Informationen und ein probeweiser Blick des Autors auf die Seiten seiner unmittelbaren Nachbarschaft lassen vermuten, dass das Netzwerk in Deutschland nicht sehr stark Fuß fassen konnte.

 

Nebenan.de

Das Portal mit der größten Verbreitung in der Bundesrepublik ist nebenan.de (gegründet 2015). Das Projekt wird von der gemeinnützigen nebenan.de Stiftung begleitet, die sich aktiv für lebendige Nachbarschaften in Deutschland einsetzt. Die Initiatoren engagieren sich in gemeinwohlorientierten Projekten und verfolgen mit der Plattform das Ziel, „der zunehmenden Anonymität in der Gesellschaft entgegenzuwirken und Nachbarn auf digitalem Weg zu mehr echter lokaler Gemeinschaft zu verhelfen“.16 Digitale Nachbarschaften werden von nebenan.de eingerichtet, wenn sich in einer Nachbarschaft von bis zu 5000 Einwohnern mindestens 10 Menschen für die Nachbarschaft registrieren. Für einen lebendigen Austausch wird pro Nachbarschaft eine „kritische Masse“ von mindestens 100 – 120 netzaktiven Nachbarn angestrebt. Im Gegensatz zu den gängigen Sozialen Medien muss man sich mit vollem Namen und Adresse anmelden, die Zugehörigkeit zur Nachbarschaft wird überprüft. Häufige Nutzungsarten sind Anfragen oder Angebote zum Verschenken oder zur Nachbarschaftshilfe, Verabredungen zu Gruppenaktivitäten, Stammtischen, Hoffesten, Veranstaltungsankündigungen. Es gibt auch (am Beispiel Hannover) eine spezielle Beschreibung der Wege in die digitale Naschbarschaft für ältere Bürger.17

Inzwischen hat nebenan.de 2,1 Millionen aktive Nutzer*innen in rund 8.000 Nachbarschaften und ist in allen größeren Städten und in einzelnen Modelldörfern im ländlichen Raum aktiv (April 2022). Hamburg wird bei den aktivsten Städten an dritter Stelle mit 142.000 Nutzer*innen aufgeführt.18

Für vernetzte, gesundheitsbezogene Stadtteilarbeit ist nebenan.de gut geeignet, weil es sowohl von kommunalen Einrichtungen und Behörden als auch von gemeinnützigen Organisationen und zivilgesellschaftlichen Initiativen kostenlos genutzt werden kann (s. Abb. 1). Die Gemeinwohlfunktion von nebenan.de wurde im Frühjahr 2020 von Familienministerin Giffey genutzt, um für kleinräumige Nachbarschafts-Hilfen in Corona-Zeiten zu werben.19

Nebenan.de will auch das kleine lokale Gewerbe gegenüber großen anonymen Anbietern fördern. Online-Shopping und die Nutzung von Lieferdiensten verändern unsere Stadtquartiere heute durch ihr Verkehrsaufkommen und die zunehmende Bedrohung lokaler Einzelhandelsgeschäfte. Die Beteiligung des Kleingewerbes dient also u.a. auch der Stärkung des sozialen Zusammenhalts in Nachbarschaften.

 

Abb. 1: Idealmodell der Vernetzung und Nachbarschaftsfunktionen, mit dem nebenan.de für die Mitgliedschaft wirbt20, Quelle: nebenan.de, Betreiber: Good Hood GmbH

 

Nebenan.de verschickte Ende 2020 einen Dankesbrief an die Mitglieder, in dem als Erfolge in der Corona-Krise u.a. genannt wurden:

 

„Zigtausende Nachbarn haben über nebenan.de Risikogruppen ihre Hilfe angeboten und sich gegenseitig im Corona-Alltag unterstützt.

Über die kostenlose Hotline unserer Stiftung (0800-866 55 44) haben tausende Menschen Hilfe erhalten: Beim Einkaufen, bei der Tierbetreuung oder im Haushalt.

Nachbarn haben über unsere Aktion “Kauf nebenan!” schon 1,2 Millionen Euro für ihre Lieblingsläden gesammelt, um ihnen durch die Krise zu helfen.“

 

Genauere Informationen über den Impact von nebenan.de sind in einem auf systematischen Erhebungen beruhenden „Soziale Wirkungen Bericht 2020“ verfügbar (nebenan.de 2021)21.

Seit September 2020 hält das Medien- und Technik-Unternehmen Hubert Burda Media mit 61% die Mehrheit der Anteile an der Betreibergesellschaft von nebenan.de, der Good Hood GmbH. Hierfür soll ein zweistelliger Millionenbetrag gezahlt worden sein. Die Geschäfte wurden bis Ende Juni 2023 von den Gründern Till Behnke und Ina Remmers geführt.[1] Gründer Christian Vollmann übernahm am 1. September 2020 die Rolle des Vorsitzenden des Beirats. Alle Gründer bleiben Gesellschafter der Good Hood GmbH und halten nach Burda die meisten Anteile. Burda hat bereits 2016 und 2018 in nebenan.de investiert. Durch die erneute Investition soll nebenan.de langfristig profitabel werden.22 Ob und ggf. wie stark sich diese Profitinteressen negativ auf die Allgemeinwohl-Orientierung auswirken, war für mich nicht klärbar.

 

Nachbarschaft.net

Auch dieses Netzwerk verbindet Nachbarn, „um den zwischenmenschlichen Kontakt insbesondere in der Anonymität der Stadt zu fördern“23. Der gemeinnützige Aspekt spielt allerdings so gut wie keine Rolle.

 

Machbarschaft (Zusammenrücken mit System)

Das Projekt wird im Rahmen eines Bundesprogramms gefördert, in dem vielversprechende Lösungen in Zeiten von Covid-19 entwickelt werden sollten. Es wurde in einem „Hackathon“ entwickelt (Wortschöpfung aus „Hack“ und „Marathon“; ist eine kollaborative Soft- und Hardwareentwicklungsveranstaltung). Zur zentralen Aufgabe heißt es: „Aus Deutschlands Nachbarschaften werden Machbarschaften. Machbarschaft löst die Herausforderung der Versorgung in deiner Umgebung. Wir bringen hilfsbereite Menschen per App und Telefonservice mit Menschen zusammen, die Hilfe z.B. beim Einkauf benötigen.“24

 

Betreut.de (Online-Forum für Familien und Betreuer)25

Auf Betreut.de findet man Babysitter, Nannys, Seniorenbetreuung, Nachhilfelehrer, Tiersitter und Gassigeher. Den Dienst gibt es seit 2007. Die Macher wollen ein Online-Forum für Familien und Betreuer schaffen, „auf dem sie miteinander in Kontakt treten, Betreuung organisieren und Ratschläge austauschen können“, wie es auf der Website heißt. Die Entwicklung solcher Plattformen ist im Fluss. Einige sind auch schon wieder verschwunden (wie z.B. wirnachbarn.com). Einen umfassenden Überblick mit Schwerpunkt auf den Finanzierungsmodellen, aber auch zahlreichen anderen Merkmalen von Nachbarschaftsportalen geben Ritter und Hampe (2019).

 

5 Kritische Würdigung und Perspektiven

Die Landschaft der digitalen Nachbarschaftsnetzwerke ist vielfältig. Bei den quartiersbezogenen Beispielen in Hamburg handelt es sich überwiegend um Modelle im Erprobungsstadium und solche, die explizit gesundheitsbezogen sind. Das Projekt Aktive und gesunde Quartiere wurde positiv evaluiert und soll auch auf andere Quartiere ausgedehnt werden. Das u.a. von der AOK geförderte Netzwerk Nachbarschaften vereint unter einem Portal-Dach sehr unterschiedliche kleine Modelle, die v.a. digitale Kompetenzen und sozialen Zusammenhalt fördern, allerdings nicht systematisch evaluiert sind. Sie sollen alten Menschen helfen, so lange wie möglich gesund in ihrem Wohnumfeld zu verbleiben. Es wird sich zeigen, in welchem Umfang die erprobten Ansätze übertragbar sind und breitere Geltung beanspruchen können.

Bei den überregionalen Nachbarschaftsportalen ist sowohl von der Verbreitung her als auch von seiner generellen Gemeinwohlorientierung nebenan.de der relevanteste Organisator kleiner lokaler Nachbarschaftsnetze, die für die Gesundheit Bedeutung haben. Dies ist besonders in der Corona-Krise sichtbar geworden.

Die berichteten Ansätze betonen die Chancen, die die Digitalisierung für nachbarschaftliche Beziehungen und gegenseitige Hilfe bietet. Dies sind vor allem leicht zugängliche und gut aktualisierbare Informations- und Beratungsangebote, die Vermittlung nachbarschaftlicher Unterstützungsleistungen, die Initiierung (realer) nachbarschaftlicher Kontakte und Beziehungen, Vernetzung mit professionellen Diensten über Apps mit unterschiedlichen Zielsetzungen sowie der Erwerb digitaler Kompetenzen als ein wesentliches Element allgemeiner Gesundheitskompetenz. Bei den überregionalen Netzwerken geht es darüber hinaus um die Entwicklung „echter“ lokaler Nachbarschaft mit besserem Zusammenhalt und gegenseitiger sozialer Unterstützung – also Aspekte, die in der Sozialepidemiologie, als positive Gesundheitsfaktoren identifiziert wurden (von dem Knesebeck, 2020).

 

In einer umfassenderen Bestandsaufnahme zu „Digitalisierung und Nachbarschaft“ klingt schon im Untertitel („Erosion des Zusammenlebens oder neue Vergemeinschaftung?“) eine differenziertere Sicht an. Als allgemeine Risiken werden dort besonders thematisiert, dass digitale Kontakte eine Reduktion des (realen) Zusammenlebens bedeuten könnten (Heinze, Kurtenbach et al., 2019). Korczak problematisiert mit Blick auf den Gesundheitsbereich besonders den Zugriff auf die Autonomie, Privatsphäre und Datenhoheit der Menschen (Korczak, 2020). Von den Autoren beider Beiträge wird die Notwendigkeit gesehen, die weitere Entwicklung von Digitalisierungsprozessen durch Politik und Zivilgesellschaft zu kontrollieren und zu steuern.

Das Präventionsforum 2021 (Grossmann, 2021) stellt – nach einer Bilanzierung der Chancen von Digitalisierung – Forderungen auf, die den Bedenken und Problemen Rechnung tragen sollen: menschenzentriert statt technologiegetrieben; „ethical Design“ von Anfang an; bedarfsgerechte, von der jeweiligen Zielgruppe nutzbare Angebote; Barrierefreiheit; Partizipation der Nutzerinnen und Nutzer, unabhängige Strukturen; begleitende Forschung und Evidenzaufbau des Nutzens.

Der Altenbericht betont zwar ebenfalls zunächst die Potentiale, sieht aber auch die Risiken und Herausforderungen für den Einsatz digitaler Medien: Viele Technologien gingen an den Bedürfnissen älterer Menschen und deren Bezugspersonen vorbei, überforderten die Nutzerinnen und Nutzer, verstärkten negative Altersbilder, erhöhten die Gefahr des Datenmissbrauchs oder würfen ethische Dilemmata auf. Als Antwort auf diese Probleme wird vor allem empfohlen, die Zielgruppen frühzeitig in die Erforschung und Entwicklung neuer digitaler Technologien einzubeziehen, um die entstehenden Produkte bedarfsgerecht, bedienfreundlich und sicher zu gestalten.

Größtes Risiko ist jedoch, dass vermutlich die digitale Vernetzung am stärksten in den urbanen Mittelschichtsmilieus verbreitet ist, und daher in den Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf nur wenig zur Verringerung von gesundheitlichen Chancenungleichheiten beitragen kann. Insofern ist einem der letzten Sätze aus dem achten Altenbericht (Deutscher Bundestag, 2020, S.134) in allen seinen Facetten beizustimmen: „Für die Politik kommt es deshalb nun darauf an, die mit der Digitalisierung verbundenen Chancen für ältere Menschen sozial ausgewogen zu verwirklichen und gleichzeitig die Risiken zu minimieren.“ In dieser ebenso schlicht wie treffend formulierten Empfehlung liegt die größte Herausforderung für die weitere Entwicklung digitaler Nachbarschaften.

 

Endnoten

1. https://highways2health.de/, 1.6.2022

2. https://www.healthsciences.uni-bremen.de/fileadmin/public-health-bremen/downloads/WhitePaper-WSP-DigitalPublicHealth_2020.pdf, 1.6.2022

3. https://www.gwhh.de/digital-health-hub-hamburg/

4. www.agqua.de/startseite.html?no_cache=1, 1.6.2022

5. www.agqua.de/das-projekt-agqua/projektpartner.html, 1.6.2022

6. www.agqua.de/details/das-projekt-agqua-verabschiedet-sich.html, 15.4.2021

7. netzwerk-gesundaktiv.de/, 1.6.2022

8. www.netzwerk-gesundaktiv.de/was-ist-paul/, 1.6.2022

9. https://aok-foerderpreis.netzwerk-nachbarschaft.net/rh/home, Zugang über Unterpunkt „AOK Rheinland/Hamburg; Menü „Nachbarschaften“, 1.6.2022

10. https://www.netzwerk-nachbarschaft.net/component/content/article/892/, 1.6.2022

11. https://www.wegeausdereinsamkeit.de/%C3%BCber-uns/?gad_source=1&gclid=EAIaIQobChMIo4zgzevligMVY4GDBx1dIx7XEAAYASAAEgJ3fvD_BwE, 11.1.25

12. https://aok-foerderpreis.netzwerk-nachbarschaft.net/digitalhoch2-hamburg.html; Zugang über Unterpunkt „AOK Rheinland/Hamburg; Menü „Nachbarschaften“ https://stiftung-generationenzusammenhalt.org/projekte/digitalhoch2/, 1.6.2022

13. https://aok-foerderpreis.netzwerk-nachbarschaft.net/machbarschaft-wandsbek-hinschenfeld-e-v-hamburg.html; Zugang über Unterpunkt „AOK Rheinland/Hamburg; Menü „Nachbarschaften“, 1.6.2022. Ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem überregionalen Netzwerk Machbarschaft (s.u.) ist auf keiner der beiden Internet-Seiten erkennbar.

14. https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/13795628/2020-04-05-basfi-corona-engagement/, 1.6.2022

15. https://about.nextdoor.com/de, 1.6.2022

16. www.presse.nebenan.de/pm/das-geschaftsmodell-von-nebenan-de, 1.6.2022

17. https://magazin.nebenan.de/artikel/silver-surfer-im-netz-hannover-zeigt-senioren-wege-in-die-digitale-nachbarschaft, 1.6.2022

18. www.presse.nebenan.de/pm/zahlen-und-fakten-zu-nebenan-de, 1.6.2022

19. www.youtube.com/watch?v=rveDaeB0j7s, 1.6.2022

20. Quelle: www.static.nebenan.de/system/nebenfiles/attachments/000/001/191/00a95beb9b55246ee02a9c669df908e357454dc2/original/Pr%C3%A4sentation_nebenan.de_Organisationsprofile.pdf?1531129292, 1.6.2022

21. impact.nebenan.de, 1.6.2022

22. Katrin Ansorge: Mehrheitsübernahme: Burda investiert zweistellige Millionensumme in Nebenan.de. In: horizont.net. Abgerufen am 2. Oktober 2020.

23. www.nachbarschaft.net/, 1.6.2022

24. www.machbarschaft.jetzt, 1.6.2022

25. www.betreut.de/, 25.3.2021

 

Literatur

BMI (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat) (o.J.). Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der ressortübergreifenden Strategie „Soziale Stadt – Nachbarschaften stärken, Miteinander im Quartier“. (online März 2021) www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/bauen/wohnen/bericht-der-bundesregierung-strategie-soziale-stadt.pdf?__blob=publicationFile&v=1, 1.6.2022

Deutscher Bundestag (13.08.2020). Unterrichtung durch die Bundesregierung: Achter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Ältere Menschen und Digitalisierung ... Drucksache 19/21650; https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/216/1921650.pdf; 1.6.2022

Grossmann, B. (2021). Der Anfang ist gemacht. In Die Träger der Nationalen Präventionskonferenz (Hrsg.) Präventionsforum 2021. Dokumentation. Bonn: Eigenverlag https://www.npk-info.de/fileadmin/user_upload/ueber_die_npk/downloads/3_praeventionsforum/praeventionsforum_2021_Dokumentation.pdf, 1.6.2022

Heinze, R. G., Kurtenbach, S. & Üblacker, J. (Hrsg.) (2019). Digitalisierung und Nachbarschaft: Erosion des Zusammenlebens oder neue Vergemeinschaftung? Baden-Baden: Nomos.

Korczak, D. (Hrsg.) (2020). Digitale Heilsversprechen. Zur Ambivalenz von Gesundheit, Algorithmen und Big Data. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag.

Krüger-Brand, H. E. (2020). Digitale Gesundheit. Tech-Konzerne als Treiber. Deutsches Ärzteblatt 117 (8), A375-A378.

nebenan.de (2021). Soziale Wirkungen Bericht 2020, https://impact.nebenan.de/pdf/210430_Social-Impact-Report-2020_Doppelseiten.pdf, 5.5.2021

Quast, J. & Rose, G. (2018). Die Hamburger Gesundheitswirtschaft. In R. Fehr & A. Trojan (Hrsg.) (2018), Nachhaltige StadtGesundheit Hamburg. Bestandsaufnahme und Perspektiven (S.426-431). München: Oekom-Verlag.

Richter, A. & Wächter, M. (2009). Zum Zusammenhang von Nachbarschaft und Gesundheit. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 36. Köln: BZgA.

Ritter, M. & Hampe, M. (2019). Lokal und Digital. Geschäftsmodellentwicklung von Nachbarschaftsplattformen und –apps im deutschsprachigen Markt. Ein Working Paper im Rahmen des Projektes „Soziale Nachbarschaft und Technik (SoNaTe). Universität Freiburg, Working Paper 11-2019. www.zee-uni-freiburg.de/fileadmin/PDF/Ritter_und_Hampe_2019_Lokal_und_Digital.pdf, 1.6.2022

Trojan, A. (2020). Soziale Netzwerke und Netzwerkförderung. In Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Online-Version. Köln: BZgA. DOI: https://doi.org/10.17623/BZGA:224-i108-2.0

Von dem Knesebeck, O. (2020). Soziales Kapital. In Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Online-Version. Köln: BZgA. DOI: https://doi.org/10.17623/BZGA:Q4-i111-2.0

 

Autor

Alf Trojan

trojan@bitte-keinen-spam-uke.de

Prof. Dr. med., Dr. phil., M.Sc. (London), Mediziner, Soziologe, ehemaliger Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Derzeitige Tätigkeiten: Redaktionsleiter der „Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention“, Mitglied im Steuerungskreis des Deutschen Netzwerks „Selbsthilfefreundlichkeit und Patientenorientierung im Gesundheitswesen“; Beiratsmitglied im Deutschen Netzwerk Gesundheitsfördernder Krankenhäuser; Co-Leiter der Themengruppe „Nachhaltige StadtGesundheit“ in der Patriotischen Gesellschaft Hamburg

Arbeitsgebiete: Gesundheitsförderung, Bürgerbeteiligung, Gesundheitsberichterstattung, Patienten- und Mitarbeiterbefragungen im Krankenhaus; Selbsthilfegruppen; Kommunale Gesundheitspolitik; StadtGesundheit

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistr. 52, 20246 Hamburg, Tel. 0176-49007498, http://www.uke.de/institute/medizin-soziologie/



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