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Lebensführung und Identität als alltägliche Gestaltungsaufgabe

Luise Behringer
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 12 (2007), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Alltägliche Formen der Lebensführung und -bewältigung werden auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungsprozesse der Moderne (u.a. Individualisierung, Enttraditionalisierung) vorgestellt und diskutiert. Ergebnisse einer qualitativen Studie zu Typen der Alltagsbewältigung (rationale Planung, ausgeglichene oder akrobatische Formen der Koordination von Leben und Arbeiten, Vertrauen auf die eigene Person oder andere) werden berichtet.

Schlüsselwörter

Alltagsbewältigung, Lebensführung, Lebensstil

Summary

Ways of coping and living in an every day context based on a change of modern societies (e.g. individualization, loss of tradition) are introduced und discussed. Results of a qualitative study on types of every day coping and living are reported (rational oriented planing, balanced style of working and living, acrobatic coordination, relying on oneself and others).

Key words

Coping, life style, everdy context, social change, qualitative study



Dem Alltag wurde bislang in den Sozialwissenschaften wenig Beachtung geschenkt, denn er galt als immer gleichförmiger Ablauf eines jeden Tages, der keine spektakulären Erkenntnisse erwarten lässt, sondern vielmehr den Blick auf wichtige Erkenntnisse eher behindert. Diese Sicht hat sich mittlerweile geändert, da immer mehr Personen deutlich wird, dass sich ihr Alltag beileibe nicht von selbst ergibt, sondern bewusst organisiert werden muss, was zum Teil enorme Anforderungen an sie stellt. Ursache für die gestiegenen Anforderungen an die Alltagsorganisation sind verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen, wie Individualisierung von Lebenslagen, Pluralisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen, Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Strukturen u.a.m., die dazu führen, dass sich immer mehr festgefügte Parameter des alltäglichen Lebens auflösen und individuell zu entscheiden sind. Je mehr Entscheidungen aber, nicht nur im Lebensverlauf, sondern auch im Alltag getroffen werden müssen, desto mehr wird das alltägliche Leben selbst zu einer Gestaltungsaufgabe eigener Art. Kurz gesagt: Wir müssen hart arbeiten, damit der Alltag eine einigermaßen passende und verlässliche Gestalt bekommt, so entsteht die „Arbeit des Alltags“ (Jurczyk & Rerrich, 1993).

Aber nicht nur die alltägliche Lebensführung wird aufwendiger und voraussetzungsvoller, auch die Ausbildung einer Identität wird zu einem schwierigeren Unterfangen, da identitätssichernde Strukturen, wie klare Rollenangebote, gesicherte Laufbahnen usw. ihre Verbindlichkeit verlieren. Je weniger „ein- und unterordnende Strukturen es gibt, je stärker das Individuum auf Verhandlungen mit sich selbst und anderen bei der Bestimmung seiner Identität angewiesen ist“ (Bonder, 1995, S. 64), desto schwieriger und desto beständiger verläuft auch die Suche nach Identität. Identität kann nicht länger als innerer Kern bzw. „inneres Kapital“ (Erikson, 1956, S.107) verstanden werden, das man sich im Laufe seiner Entwicklung anhäuft und aus dem jederzeit eine klare Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ abrufbar ist. Identität wird vielmehr zu einem Projekt, an dem permanent gearbeitet wird. So entsteht analog zur „Arbeit des Alltags“ die „alltägliche Identitätsarbeit“ (Straus & Höfer, 1997).

Gleichzeitig ist zu erkennen, dass Lebensführung und Identitätsbildung unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen nicht nur schwieriger und voraussetzungsvoller werden, sondern dass alltägliche Lebensführung zunehmend selbst zu alltäglicher Identitätsarbeit wird. In einer Zeit, in der nahezu alles möglich erscheint, in der die Personen selbst auswählen und entscheiden müssen, was ihnen wichtig und was für sie richtig ist, in der sie immer weniger in feste Zusammenhänge (wie Verwandtschaft und Nachbarschaft) mit festen Rollen- und Verhaltenserwartungen eingebunden sind, sondern sich diese Zusammenhänge individuell herstellen müssen, ist es zunehmend erforderlich, sein Handeln beständig zu hinterfragen. Das beginnt bei ganz banalen alltäglichen Dingen, z.B. „Was muss tagtäglich getan werden, wie, wann, weshalb und mit wem muss ich mich dabei absprechen?“ bis hin zu biographischen Entscheidungen und Weichenstellungen. Dabei schwingt immer auch die Frage mit: „Gehe ich dabei nach eigenen Bedürfnissen vor, oder weil es die anderen von mir erwarten? Strategien der Lebensführung beruhen auf reflexiver Auseinandersetzung mit den individuellen Ansprüchen, Lebensentwürfen und Orientierungen auf der einen Seite und gesellschaftlichen Normen und kulturellen Modellen auf der anderen Seite. Unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen wird die Identitätsrelevanz alltäglicher Lebensführung also in besonderem Maße offensichtlich, denn Lebensführung selbst wird zum Gegenstand von Reflexion. Der Alltag ergibt sich nicht einfach so, sondern ist Ergebnis bewusster Entscheidung und Aushandlung, darin wird auch die eigene Identität immer wieder neu verhandelt. Alltägliche Lebensführung als bewusstes Zusammenführen der verschiedenen Facetten des Alltagslebens und als Ausbalancierung der eigenen Ansprüche und Lebensentwürfe mit den gültigen kulturellen Standards erweist sich somit auch als Strategie der Identitätsbildung: „Die Arbeit des Alltags“ wird selbst zu „alltäglicher Identitätsarbeit“.

Was zeichnet alltägliche Lebensführung und Identitätsarbeit heute aus, in einer gesellschaftlichen Situation, die von struktureller Offenheit geprägt ist? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich zunächst aktuelle Entwicklungen in ihren Auswirkungen auf die Individuen kurz diskutieren, bevor ich auf den Zusammenhang von alltäglicher Lebensführung und Identität eingehe. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs werde ich abschließend vier typische Muster von Lebensführung und Identität vorstellen.1

1. Lebensführung und Identität als Themen der Moderne

Die Frage nach Lebensführung und Identität unter Bedingungen von Offenheit bezieht sich auf ein bestimmtes historisches Niveau – die aktuelle Phase der Moderne, für die es unterschiedlichste Bezeichnungen und Deutungen gibt.2 Dieser historische Bezug ist mir wichtig, denn Lebensführung und Identität sind keine ahistorischen Kategorien, sie stehen vielmehr in engem Zusammenhang mit den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen (Schimank, 1985). Ich gehe davon aus, dass Lebensführung und Identität erst unter bestimmten historischen Bedingungen, mit dem Übergang zur Moderne überhaupt zu einer Frage bzw. einem Problem wurden. Menschen haben zwar immer ihr Leben gelebt und auch in vormodernen Gesellschaften waren sie nicht nur passiv irgendwelchen Herrschaftsstrukturen ausgeliefert, die Spielräume zur Gestaltung des eigenen Lebens waren jedoch durch eine feudale oder ständische Organisation der Gesellschaft und verbindliche Werte, Normen und Verhaltensregeln sehr begrenzt. Identitäten in vormodernen Gesellschaften waren eine „Funktion von festgelegten Rollen und eines traditionalen Systems von Mythen, die Orientierung und religiöse Sanktionen boten.“ (Kellner, 1992, S.141). Aber weder Lebensführung noch Identität waren Gegenstand von Reflexion oder Diskussion. „Daß die Menschen in vormoderner Zeit nicht von ‘Identität’ und ‘Anerkennung’ redeten, lag nicht daran, daß sie keine Identität im Sinne unseres Ausdrucks besessen hätten oder nicht auf Anerkennung angewiesen waren, sondern es lag daran, daß diese Dinge damals zu unproblematisch waren, um eigens thematisiert zu werden.“ (Taylor, 1995, S. 58) Durch die fraglose Übernahme von traditionellen Rollen und Verhaltensrichtlinien konnten die Menschen auf Anerkennung aus ihrer überschaubaren lokalen Gemeinschaft vertrauen. Diese Gemeinschaften existieren heute aber kaum noch bzw. dringen auch in kleinere Gemeinschaften über neue Technologien globale Sichtweisen, Werte und Leitbilder ein, mit denen sich die einzelnen Individuen sich auseinandersetzen müssen.

Der grundlegende Gedanke der Moderne ist die Idee der Konstruierbarkeit sowohl der Lebensführung als auch der Identität als individuelle Leistung. Erst unter Bedingungen der Moderne ist es nahezu allen Mitgliedern einer Gesellschaft möglich bzw. wird ihnen zugemutet, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Moderne bedeutet nicht nur mehr Offenheit von Handlungsbedingungen und die Orientierung an Selbstverwirklichung als biographischem Prinzip, sondern gleichzeitig die Notwendigkeit, bestimmte Leistungen individuell zu erbringen, die früher durch Traditionen und verbindliche Verhaltensregeln vorgegeben waren und fraglos adaptiert werden konnten und mussten. Mit der Erosion traditioneller Vorgaben und Verhaltensregeln treten an die Stelle der fraglosen Übernahme von Lebensführungs- und Identitätsmustern Reflexion und Diskussion als Medium der Selbststeuerung und Selbstvergewisserung. Der Begriff Lebensführung wurde in Anlehnung an Max Weber deshalb auch bewusst gewählt, da er die „moderne“ Form des Alltagslebens bezeichnet. Max Weber (1964) wies bereits Anfang des Jahrhunderts mit seinem Begriff der „methodischen“ Lebensführung darauf hin, dass das Alltagsleben bestimmter sozialer Gruppen nicht mehr auf „Eingelebtsein“ von Verhaltensweisen und Orientierung an Traditionen beruht, sondern immer mehr durch eine Rationalisierung der Lebensführung als bewusstes und planendes Gestalten des eigenen Lebens, orientiert an den Zielen Erfolg und Effektivität, bestimmt wird. Was Max Weber an einer relativ schmalen bürgerlichen Elite entdeckt und als historischen Typus benannt hat, zeigt sich heute erst auf breiterer empirischer Ebene. Erst unter gesellschaftlichen Bedingungen, die unter anderem gekennzeichnet sind durch Individualisierung und Pluralisierung, wird bewusstes, planendes und aktives Gestalten des eigenen Lebens zur Maxime und zu einer realisierungsfähigen Option.

Durch die Individualisierung von Lebenslagen und Biographiemustern, verstanden als Prozess der Freisetzung von Personen aus traditionellen Bindungen und einem Verlust an traditionalen Sicherheiten, die vorgaben, wie ein Leben zu leben ist (vgl. Beck, 1986), erweitert sich der Spielraum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten. Allerdings werden dadurch gleichzeitig gesteigerte Anforderungen bezüglich der Lebensplanung und Lebensführung an die Individuen gestellt. Durch die Pluralisierung von Werten und Lebensformen, die als eine Tendenz der Werteverschiebung von Pflicht- und Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten und als Ausdifferenzierung privater Lebensformen diskutiert werden, erweitert sich der Möglichkeits- und Optionshorizont. Damit bleibt es zunehmend den Einzelnen überlassen, die für sich stimmigen Werte und Lebensformen auszuwählen und gegebenenfalls auch wieder zu verändern. Zu diesen gesellschaftlichen Entwicklungen kommen rasante Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die gravierende Deregulierungsprozesse von Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitszeiten mit sich bringen. Die Zunahme ungesicherter, befristeter Beschäftigungsverhältnisse, Zeitarbeitsfirmen und sog. neue Selbständige sowie die steigende Zahl von Arbeitslosen führen zu einer schwindenden Arbeitsplatzsicherheit im Bewusstsein der Bevölkerung. Glaubt man den Prognosen der bayerisch-sächsischen Zukunftskommission ,so wird die Form des klassischen „Arbeitnehmers“ mit abgeschlossener Berufsausbildung und einer lebenslangen Berufsperspektive sowie ununterbrochener Beschäftigung immer stärker zurückgehen. Demgegenüber wird sich eine Form des „Arbeitskraftunternehmers“, der seine Arbeitskraft kontinuierlich vermarkten muss, also ständig auf der Suche nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten und Projekten sein wird, zunehmend ausbreiten (vgl. Voß & Pongratz, 1998). Hinzu kommt die kontinuierliche Zunahme flexibilisierter Arbeitszeitsysteme, die einen regelmäßigen vorhersehbaren Tages- und Wochenablauf immer unmöglicher werden lassen.

Die Beschleunigung dieser Prozesse – Individualisierung, Pluralisierung und Deregulierung – in den letzten Jahrzehnten haben dazu geführt, dass sich feste Strukturen in Form fester Rollenvorgaben, fester Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeiten oder verbindlicher Werte und Normen mehr und mehr auflösen. Die Lebenssituation für die Einzelnen wird dadurch offener, komplexer und widersprüchlicher, immer mehr Details des alltäglichen Lebens bleiben offen und müssen von den Subjekten in ihrer Lebensführung individuell entschieden, organisiert und strukturiert sowie mit anderen ausgehandelt werden. Also auch das Zusammenleben wird komplizierter, da individualisierte Tagesabläufe koordiniert werden müssen, damit sich noch in Ansätzen ein gemeinsamer Familienalltag ergeben kann (vgl. Rerrich, 1994). Die Freiheitsgrade in der alltäglichen Lebensführung nehmen dadurch zwar zu, allerdings sind die Personen damit auch gefordert, selbst Strukturen in ihr Leben und ihren Alltag einzuziehen, kurz: der Anforderungsdruck in der alltäglichen Lebensführung wächst. Sozial vorgefertigte Schablonen für die Alltagsgestaltung, die Identität, aber auch die Biographie haben ihre Passform verloren, die Personen müssen diese in eigener Leistung herstellen. Viele Mosaiksteinchen eigenen Erlebens werden dann individuell zu einer „Bastelexistenz“ (Hitzler & Honer, 1994), einem „Collagenselbst“ (Pazzini, 1985) oder einer „Patchworkidentität“ (Keupp, 1988) zusammengesetzt, für die es keine verbindliche Vorlage, ja sogar oftmals nicht einmal Anhaltspunkte gibt. „Wir sind darauf angewiesen, die ‘Drehbücher’ unseres individuellen Lebens selber zu schreiben, die ‘Landkarten’ für unsere Orientierungen in der Gesellschaft selber zu zeichnen, über unsere Biographie, unsere Persönlichkeit, unser Selbstverständnis selber ‘Regie zu führen’“ (Hitzler, 1988, S. 349).

Wo traditionale Vorgaben erodieren, muss das tagtägliche Leben bewusst gestaltet und an die jeweiligen, sich verändernden Bedingungen angepasst werden. Alltägliche Lebensführung ergibt sich immer weniger aus der fraglosen Erfüllung externer Vorgaben und dem Abspulen von Routineprogrammen, sondern Entscheidungen müssen getroffen, Zuständigkeiten ausgehandelt und zeitliche Strukturen selbst gesetzt werden. Nur so kann die Komplexität des Alltags auf ein bewältigbares Maß reduziert, der Überblick bewahrt und ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit erreicht werden. Andernfalls läuft die Person Gefahr, im Alltag nur noch hinter den vielfältigen Anforderungen herzuhecheln und sich in der Diffusität dieser Anforderungen zu verlieren. Offene Arbeits- und Lebensbedingungen erfordern gerade im Alltag oft individualisierte Arrangements mit einem erheblichen Maß an Situativität und Flexibilität (vgl. Jurczyk & Voß, 1995). Situativität und Flexibilität bedeuten aber nicht ein bloß reaktives Anpassen an die bestehenden Bedingungen, sondern einen überlegten Umgang mit den Unwägbarkeiten einer offenen Lebenssituation. Alltägliche Lebensführung wird zu einem reflexiven Prozess; überlegte Entscheidungen, alltägliche Absprachen und Aushandlungen treten vermehrt an die Stelle von langfristigen Planungen und alltäglichen Routinen.

Eine solche Lebensführung geht einher mit einer Identität als offenes Projekt und nicht als geschlossener „akkumulierter Besitzstand“ (Erikson, 1956). Denn das alltägliche Leben speist sich nicht mehr aus der Akzeptanz und Verfolgung verbindlicher Werte und sozial vorgefertigter Identitätsangebote, die dann zu einem konsistenten Identitätspaket geschnürt werden können. Ebenso wie zeitliche, sachliche und soziale Strukturen in den widersprüchlichen Alltag eingezogen werden müssen, müssen nun auch Sinn- und Identitätsstrukturen vermehrt selbst gesetzt werden, da es bislang wichtige Institutionen wie Kirche und Staat immer weniger zu leisten vermögen, einen verbindlichen Sinn zu setzen. Identität entsteht zunehmend im Selbstbezug; Traditionen, normative Zumutungen und externe Gegenhalte erodieren, so dass sie durch individuell stimmige Werte ersetzt werden können und müssen. Dabei hängen die Individuen nicht im luftleeren Raum, denn es lösen sich nicht alle Strukturen gleichermaßen auf, andere bestehen weiter oder verändern ihre Qualität, so dass sich neue Möglichkeiten, aber auch Beschränkungen ergeben, mit denen sich die Subjekte auseinandersetzen müssen. Dementsprechend werden auch „gesellschaftlich wirksame Identitätsfigurationen“ (Lohauß, 1994, S. 222) bzw. „Identitätsbausätze“ (Keupp, 1996, S. 5) in Form spezifischer Diskurse angeboten, die aber letztlich doch individuell zusammengebastelt werden. Wenn auch derartige Angebote eine Hilfe bei der eigenen Identitätsarbeit sein können, ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit macht die Identitätsbasteltätigkeit so schwierig, denn sie führt beständig vor Augen, dass der gewählte Bausatz der falsche sein könnte, vielleicht ein anderer viel besser passen würde. Das hat zur Folge, dass immer weiter-, um-, aus- und vielleicht auch wieder abgebaut wird: Identität ist keine irgendwann abschließbare Aufgabe, sondern ein lebenslanges Projekt, sie wird damit zu einer beständig zu erbringenden Leistung, Identitätsbildung zu einem kontinuierlichen und alles durchdringenden Prozess (vgl. Giddens, 1991). Offene Arbeits- und Lebensbedingungen erfordern ein „offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden ...“ (Keupp, 1994, S. 345).

Damit offene Arbeits- und Lebensbedingungen nicht als Bedrohung erscheinen, sondern konstruktiv zu Möglichkeiten oder Lebenschancen gewendet werden können, bedarf es allerdings einer „veränderten inneren Ausstattung“ (Keupp, 1988), „Ich-Stärke“ und neuer Adaptationsfähigkeiten und zwar nicht nur als Anpassungs-, sondern auch als Gestaltungsleistungen (vgl. Bilden, 1989). „In erweiterten Optionsspielräumen wächst der individuell abzuarbeitende Handlungsbedarf, es werden Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. Die Individuen müssen, um nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich anpassen können, müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen können. Sie brauchen Initiative, Flexibilität, Zähigkeit, nicht zuletzt auch Frustrationstoleranz.“ (Beck-Gernsheim, 1994, S. 138) Einen ersten Bestimmungsversuch einer veränderten inneren Ausstattung unternimmt auch Heiner Keupp (1994): Er nennt Kompetenzen, wie die Fähigkeit zum Aushandeln, Konfliktfähigkeit, Ambiguitätstoleranz und neuerdings auch „Urvertrauen zum Leben und seinen ökologischen Voraussetzungen“ (1998), um den postmodernen Herausforderungen konstruktiv begegnen zu können. Allerdings – und auch darauf weist er hin – ist die Ausbildung dieser Fähigkeiten mehr denn je auf ausreichend materielle und soziale Ressourcen verwiesen. Sie ist abhängig vom ökonomischen, sozialen und nicht zuletzt auch kulturellen Kapital der Individuen (vgl. Bourdieu, 1983).

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Um in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation bestehen zu können, müssen die Individuen hart arbeiten, weder der Alltag noch der Lebensweg „ergeben sich einfach so“. Die Lebensführung wird anstrengender und voraussetzungsvoller, denn sie muss zunehmend reflexiv gesteuert werden. Identitätsbildung wird gar problematisch, da die Subjekte angesichts einer Vielfalt von Erfahrungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen und einer Abnahme gesellschaftlich verfasster Kohärenz- und Kontinutätsangebote ihre Kohärenz- und Kontinuitätserfahrung individuell organisieren müssen. Eine gesellschaftliche Situation, die durch Offenheit gekennzeichnet ist, hält keine Modelle bereit, wie Subjekte diese Vielfalt individuell praktisch wie psychisch integrieren können, gleichwohl wird ihnen zugemutet, diese Integrationsleistung zu erbringen, um sich kohärent und kontinuierlich erleben zu können (vgl. Kraus, 1996). Identitätsbildung wird „erschwert, weil identitätssichernde Lebenswelten und Milieus ihre Verbindlichkeit verlieren. An ihre Stelle tritt ein komplexer, permanenter Prozeß der Selbststeuerung und Selbstvergewisserung in bezug auf lebensgeschichtlich relevante Vorgänge. Identität verändert ihre Qualität, sie wird zu einem permanenten reflexiven Prozeß.“ (Kraus, 1996, S. 161) Eine moderne Identität ist ein reflexiver Prozess in einer reflexiv gewordenen Gesellschaft (vgl. Lohauß, 1994), in der es gleichsam zur „Überlebensaufgabe“ der Individuen werden kann, „sich kohärent zu arbeiten“ (Haugg, 1995, S. 865).

2. Lebensführung und Identität

Wie können Individuen in der heutigen Zeit der Vielfalt, des Widerspruchs und des Wandels noch so etwas wie Identität herstellen oder ist es doch eher so, dass das Selbst in verschiedene Teil-Selbste zerfällt, die nichts mehr miteinander zu tun haben (vgl. Gergen, 1996; zusammenfassend Wenzel, 1995)? Im Gegensatz zu postmodernen Denkansätzen, in denen diese Frage diskutiert wird, gehe ich davon aus, dass Identitätsbildungsprozesse weiterhin stattfinden, allerdings unter erschwerten gesellschaftlichen Bedingungen. Alltägliche Identitätsarbeit bedeutet, die vielfältigen und widersprüchlichen inneren und äußeren Erfahrungen des Alltags in ein Passungsverhältnis zu bringen, um sich ein „individuell gewünschtes oder notwendiges <Gefühl von Identität* zu erzeugen“ (Keupp, 1998, S.243). Dabei kann Identität keinem inneren Einheitlichkeitszwang (i.S. eines Sich-konsistent-Erlebens) folgen, sondern muss auch Erfahrungen von Inkonsistenz, Nichtkohärenz, Diskontinuität, Doppeldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Komplementarität umfassen (vgl. Hoff, 1990), die individuell in einen kohärenten und kontinuierlichen Zusammenhang gebracht werden müssen. Alltägliche Identitätsarbeit bewegt sich immer im Spannungsfeld von Kohärenz und Verschiedenheit einerseits sowie Kontinuität und Veränderung andererseits. Das heißt, ein Gefühl von Identität kann auch hergestellt werden, wenn man sich in unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedlich verhält und sich über die Zeit hinweg verändert.

 

VertreterInnen der These, dass Identitätsbildungsprozesse zwar schwieriger, aber nicht obsolet werden, weisen auf unterschiedliche Strategien hin, die die Subjekte zur Herstellung von Kohärenz und Kontinuität in der Spätmoderne anwenden. Es handelt sich u.a. um das Konzept des Identitätsprojektes und die „narrative Identität“. Das Identitätsprojekt bezeichnet eine Form der Identitätsarbeit, bei der die Konstruktion des Selbst wesentlich in die Zukunft verlagert wird. An Zukunftsvorstellungen als komplexen Selbstentwürfen, wie die Subjekte einmal sein möchten, können sie ihre Identität abarbeiten, ihr Selbst positionieren und den aktuellen dissonanten Erfahrungen ihren bedrohlichen Charakter nehmen (vgl. zusammenfassend Kraus, 1996). Mit narrativer Identität wird die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte als mögliche Form von Identitätsarbeit bezeichnet (vgl. Ricoeur, 1991; Kraus, 1996; Keupp, 1996). „Erzählungen und Geschichten waren und bleiben die einzigartige menschliche Form, das eigene Erleben zu ordnen, zu bearbeiten und zu begreifen. Erst in einer Geschichte, in einer geordneten Sequenz von Ereignissen und deren Interpretation gewinnt das Chaos von Eindrücken und Erfahrungen, dem jeder Mensch täglich unterworfen ist, eine gewisse Struktur, vielleicht sogar einen Sinn“. (Ernst, 1996, S. 202). Erzählungen sind unbestreitbar eine mögliche Form, um ein Gefühl von Identität herzustellen, aber sie sind auf Handlungszusammenhänge verwiesen. Geschichten sind leere Hülsen, wenn sie nicht mit alltäglichem Handeln unterfüttert sind. Das Chaos des Alltags wird gerade durch alltägliches Handeln strukturiert bzw. vorstrukturiert<sup>3, damit der Alltag eine einigermaßen verlässliche und berechenbare Gestalt bekommt. Gleichzeitig wird durch das praktische Handeln, durch die zeitliche, sachliche und soziale Strukturierung des Alltags auch das „Chaos von Eindrücken und Erfahrungen“ zumindest vorsortiert, bevor am eigenen Identitätsprojekt weitergearbeitet wird. Identität als Erfahrung von Kohärenz und Kontinuität ist letztlich ein kognitiver und emotionaler Prozess, er bedarf aber der Vermittlung durch Sprache und Handeln. Die Herstellung von Kohärenz und Kontinuität ist eine Strukturierungsleistung, die zum einen über Diskurs, zum anderen über alltägliches Handeln erbracht wird. Handlungen stellen in diesem Sinne die methodische Brücke zwischen Lebensführung und Identität dar, sie repräsentieren zugleich den praktischen Aspekt von Identität. Mit dem Blick auf den konkreten Alltag, in der Analyse der Konstruktion der alltäglichen Lebensführung, lässt sich alltägliches Handeln als Strukturierungsleistung, als relevante Strategie zur Identitätsbildung sichtbar machen.

Unter alltäglicher Lebensführung versehen wir – sehr vereinfacht gesagt – das, was Menschen den ganzen Tag und jeden Tag auf's Neue alles tun. Dabei stehen nicht die konkreten Tätigkeiten im Vordergrund der Betrachtung, sondern die Art und Weise, wie die vielfältigen Dinge des Alltags praktisch geregelt und miteinander vereinbart werden. Es geht um die Frage, wie Menschen in ihrem Alltagshandeln die zum Teil widersprüchlichen Anforderungen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen auf die Reihe bekommen; oder mehr noch, wie sie diese Anforderungen mit ihren individuellen Ansprüchen, Bedürfnissen und Lebensentwürfen ausbalancieren und koordinieren, auf welcher Grundlage und in welchem Rahmen dies geschieht. Also wie bringen sie beispielsweise Erwerbsarbeit und Familie, ehrenamtliche Tätigkeiten und Treffen mit Freunden, berufliche Weiterbildung und Hobbys, und was sie sonst alles machen, unter einen Hut, ohne dass es größere Probleme damit gibt.

Je nachdem, wie klar die Vorgaben sind bzw. der Rahmen ist, in dem sich die Individuen bewegen, müssen sie sich (immer wieder auf’s Neue) entscheiden bzw. die Frage beantworten, was sie denn inhaltlich tun, wann, wie lange die jeweilige Tätigkeit erfolgen soll, wo und mit wem sie sich absprechen müssen und unter welchen Erwartungen sie handeln oder auch, warum sie gerade dies und nicht etwas anderes tun sollen. Diese Fragen sind zwar ständig präsent, dennoch überlegen die Individuen nicht jeden Tag gänzlich auf´s Neue, wie und in welcher Abfolge sie ihre einzelnen Tätigkeiten verrichten, sondern sie entwickeln bestimmte Arrangements oder ein System von Lebensführung; das ihre individuelle Ordnung des Alltagslebens darstellt (vgl. Voß, 1991). Sie versuchen eine halbwegs verlässliche Form ihrer Alltagsgestaltung zu finden, um nicht jeden Morgen über alle Banalitäten des Alltagslebens neu entscheiden zu müssen. Der Alltag ist nicht eine täglich neue, beliebige Ansammlung verschiedener Aktivitäten, sondern er weist eine Ordnung, eine Struktur auf, die einmal hergestellt, nicht beliebig veränderbar ist. Selbst wenn die Lebensführung Ergebnis bewusster Gestaltung ist, gewinnt sie doch ein gewisses Maß an Eigenständigkeit gegenüber der Person, die sich gegen beliebige Veränderungen sperrt. Alltägliche Lebensführung neigt zu relativer Stabilität, Kohärenz und Kontinuität und verleiht dem Alltag auch unter Bedingungen von Offenheit ein Mindestmaß an Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Diese Struktur bereitet die verlässliche Basis für die alltägliche Identitätsarbeit, auf ihr können – oft widersprüchliche – Alltagserfahrungen übersituativ zu Identitäten verarbeitet werden.

Auch das Konzept der Identität bezieht sich auf die Herstellung von Kohärenz und Kontinuität.
Bei der Frage nach Identität wechsle ich sozusagen die Perspektive, denn Lebensführung und Identität verweisen in ihrer inneren Dynamik aufeinander, sie sind wissenschaftlich nur künstlich zu entkoppeln. Man könnte sagen, die „Arbeit des Alltags“ hat eine Außen- und eine Innenseite, wobei die Herstellung lebbarer Arrangements alltäglicher Lebensführung als Außenperspektive und die Arbeit am eigenen Identitätsprojekt als Innenperspektive betrachtet werden kann.

Identität ist wie Lebensführung eine Herstellungs- und Vermittlungsleistung des Subjekts, die permanent erbracht werden muss. Auch Identität bezeichnet keinen individuellen Besitzstand, eine Substanz, die ein Individuum hat oder nicht hat, sondern eine Konstruktion des Selbst, die immer wieder neu erbracht werden muss. Identität bezeichnet eine Leistung des Subjekts, sich selbst zum Objekt seiner Reflexion zu machen, sich die Frage zu stellen: Was für ein Mensch bin ich und was für ein Mensch will ich sein und werde ich in Zukunft sein? Es geht zum einen um die Leistung, vielfältige und disparate Erfahrungen unter bestimmten Perspektiven zu bündeln und zu Teilidentitäten zu verarbeiten, die (oder die auch nicht) zu einem Gesamtbild integriert und ausbalanciert werden. Zum anderen geht es um die Leistung, sich als Person seiner Einzigartigkeit und Individualität (personale Aspekte) zu vergewissern, diese zu präsentieren und zugleich zu dokumentieren, dass man die gesellschaftlichen Erwartungen (soziale Aspekte) an einen selber teilt. Identität entsteht also an der Schnittstelle zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen an den einzelnen und dessen psychischer Einzigartigkeit, wobei weder die gesellschaftlichen Erwartungen noch die Selbstwahrnehmung in unterschiedlichen Situationen und Lebensbereichen konsistent sind, sondern äußerst vielfältig und widersprüchlich. Identität kann demzufolge keine einheitliche, widerspruchsfreie, wohlintegrierte Konstruktion des Selbst sein, sondern allenfalls ein äußerst fragiles und widersprüchliches Gebilde, das ständig, das lebenslang in Bewegung ist. Krappmann (1973) hat dieses Gebilde mit dem Begriff der „balancierenden Identität“ charakterisiert.

Identität ist wie Lebensführung ein lebenslanger Prozess. In Bezug auf Lebensführung erscheint diese Erkenntnis banal. Identitätsbildung wurde in der Psychologie aber lange Zeit als Leistung betrachtet, die nach der Adoleszenz ihren vorläufigen Abschluss findet. Bereits Erikson verwies zwar darauf, dass Identitätsbildung ein lebenslanger Prozess ist, er ging aber davon aus, dass am Ende der Adoleszenz ein stabiler Identitätskern angelegt, ein „innerer Besitzstand“ akkumuliert ist, der den Individuen eine erfolgreiche Lebensbewältigung sichern soll. Der lebenslange Prozess bezieht sich dabei lediglich auf den Ausbau der Identität, aber nicht auf eine wesentliche Veränderung.

Der Prozesscharakter heute stellt sich jedoch viel radikaler und weitreichender dar, denn es ist weder davon auszugehen, dass Individuen in der Adoleszenz bereits ihren festen Platz in der Gesellschaft finden und eine relativ feste Identitätsbasis anlegen, die durch die Erfahrungen des Erwachsenenalters oder beim Übergang in eine neue Statuspassage lediglich ausgebaut, aber nicht wesentlich verändert werden kann, noch dass sie vertrauensvoll in die Zukunft sehen können. Identitäten heute sind vielmehr offene Projekte, die sich immer wieder verändern können, unter Bedingungen der Vielfalt und des Wandels ja sogar verändern müssen. Identität ist ein ständiger, lebenslanger Konfliktprozess, nicht eine Entwicklungsaufgabe, die im frühen Erwachsenenalter abgeschlossen wird. Dies wird in sozialwissenschaftlich orientierten Identitätstheorien seit jeher hervorgehoben (vgl. Goffman, 1973; Krappmann, 1973), während in psychologisch orientierten Theorien oft von relativ stabilen Identitäten ausgegangen wurde.

Identitätsarbeit als lebenslang und alltäglich zu erbringende Leistung geschieht nicht abgehoben vom alltäglichen Geschehen, sondern basiert auf alltäglichem Handeln und Kommunikation, die als Erfahrungen lebensgeschichtlich eingeordnet werden müssen. Identitätsarbeit als aktive Leistung des Subjekts umfasst nicht nur die Vermittlung des Selbstbildes mit der Außenwahrnehmung von Personen, sondern zuallererst die Konstruktionsleistung, disparate alltägliche Erfahrungen und Verhaltensweisen (auch aufgrund unterschiedlicher Verhaltenserwartungen in den verschiedenen Lebensbereichen) zu einem Selbstbild, einer personalen Identität zusammenzufügen. In der alltäglichen Lebensführung werden die Tätigkeiten in den einzelnen Lebensbereichen reguliert, strukturiert und zu einem kohärenten Ganzen integriert, wobei der Blick vordergründig auf der praktischen (zeitlichen, sachlichen und sozialen) Regulierung liegt. Lebensführung kann als der systematische Ort definiert werden, an dem Personen in ihrem praktischen Alltagshandeln die Anforderungen der unterschiedlichen, gesellschaftlich ausdifferenzierten Arbeits- und Lebensbereiche sowie ihre sozialen Beziehungen gestalten, koordinieren und integrieren. Dabei schwingen immer Fragen mit wie: „Warum habe ich mich so verhalten?“ „Warum mache ich das alles bzw. warum mache ich das und nicht etwas anderes?“ „Was möchte ich eigentlich?“ Wir fragen uns aber auch: „Wer bin, wer war ich in der Situation?“ „Wie geht das mit meinem Entwurf einer Identität, mit dem was ich eigentlich sein möchte, zusammen?“ Im Verlauf einer Biographie werden unzählige solcher Fragen gestellt, unter verschiedenen Perspektiven gebündelt und zu einem Gesamteindruck zusammengefügt. Zum einen werden die alltäglichen Erfahrungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen unter synchroner Perspektive gebündelt und zu Teilidentitäten verarbeitet. Diese orientieren sich z.B. an den relevanten Lebensbereichen Beruf, Familie, soziales Netzwerk, Freizeit usw., in denen die Individuen tagtäglich agieren, mit denen sie in ihrer alltäglichen Lebensführung Arrangements treffen und die ihre Position in der Gesellschaft beschreiben. Wie die Erfahrungen in den Lebensbereichen jeweils gebündelt werden, hängt von der Lebensphase, der Relevanz der Lebensbereiche, aber auch ganz entscheidend vom Faktor Geschlecht ab. Zum anderen werden alltägliche Erfahrungen in diachroner Perspektive in ein zeitliches Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeordnet. Die aktuelle Selbstwahrnehmung wird eingereiht in vergangene Selbstwahrnehmungen, aber auch die Vorstellung davon, wie ich einmal sein möchte bzw. – was oftmals leichter gelingt – auf keinen Fall sein möchte.

Identitätsbildungsprozesse finden aber nicht nur statt, wenn ein Subjekt sich explizit fragt: „Wer bin ich eigentlich?“ oder wenn im Gespräch mit anderen die Frage auftaucht, wie sich die jeweilige Person denn eigentlich sähe bzw. gesehen wird. Identitätsakte finden kontinuierlich statt, ohne immer bewusst abzulaufen. „Subjekte arbeiten (indem sie handeln) permanent an ihrer Identität“ (Straus & Höfer, 1997, S. 273). Mit dem System der alltäglichen Lebensführung werden Fakten gesetzt, Identitäten strukturiert oder zumindest vorstrukturiert. „Alltägliche Lebensführung ist der individuelle Handlungsrahmen, in dem Personen ihre Lebenskonzepte, Bedürfnisse und Ansprüche mit den gegebenen Möglichkeiten, Risiken und Notwendigkeiten permanent ausbalancieren müssen. Alltägliche Lebensführung ist schließlich Basis und Medium, in dem Stabilität und Kontinuität (und zwar auch unter Bedingungen von Instabilität und Diskontinuität; LB) der individuellen Existenz auf der Ebene des Alltagshandelns produziert und reproduziert werden.“ (Kudera, 1995, S. 8). Die konkrete Form der alltäglichen Lebensführung, die Methoden und Strategien erweisen sich damit auch als Strategien der Identitätsbildung: In den Formen und Prozessen alltäglicher Lebensführung manifestiert sich Identität. Mit unserer alltäglichen Lebensführung begegnen wir dem Chaos des Alltags, geben ihm eine Struktur – eine Struktur, die sich in unserer Identität fortsetzt. Eine Person, die ihren Alltag streng regelt und kontrolliert, damit er überschaubar und berechenbar ist, setzt damit auch für ihre Identität klare und überschaubare Strukturen. Eine Person, die im Alltag offen ist für die vielfältigen Möglichkeiten, wird auch ihr Identitätsprojekt offen halten.4

Identität ist ein Relationsbegriff, der zum einen auf Inhalte (z.B. Teilidentitäten), zum anderen auf Relationen des aktuellen Handelns in einem bestimmten Kontext zu früheren und zukünftigen Zeitpunkten5 sowie zum Verhalten in anderen Kontexten verweist. Identität ist zu verstehen als „die Identität von etwas mit etwas“ (Angehrn in Straub, 1991, S. 56), und zwar sowohl auf diachroner Ebene des Lebensverlaufs als auch auf synchroner Ebene des Alltagslebens. Identität mit etwas bezieht sich auf die Herstellung und Erfahrung von Kohärenz und Kontinuität als Zusammenhang des Selbst trotz Veränderung und Wechsel und nicht auf einen einheitlichen widerspruchsfreien Erfahrungsschatz.

Die Frage „Wer bin ich und wer will ich sein?“ muss dann anders gestellt werden: „Wie kann ich noch ein und dieselbe Person sein, obwohl ich mich doch ständig verändere? (...) obwohl ich mich in unterschiedlichen Situationen, in unterschiedlichen Rollen sehr unterschiedlich verhalte?“ (Frey & Haußer, 1987, S. 19). Identitäten dürfen demnach nicht als feste Zuschreibungen interpretiert werden, sondern als Momentaufnahmen eines sich verändernden komplexen Selbstbildes. „Identität ist keine Eigenschaft im Sinne eines dauerhaften Besitzes. Identität ist bestenfalls greifbar als momentaner, aber höchst fluktuierender Zustand. Ein Zustand, der nicht einfach da ist, sondern von der Person in bewusster Selbstreflexion hergestellt, ja erarbeitet werden muss“ (ebd., S. 11).

Zusammenfassend lässt sich festhalten:
Identität ist wie alltägliche Lebensführung eine Leistung des Individuums, die unterschiedlichen Erfahrungen des Alltags zu einem relativ kohärenten und kontinuierlichen Ganzen zu integrieren, eine Leistung, die immer wieder neu erbracht werden muss. Lebensführung und Identitätsbildung zielen ab auf die Herstellung von Kohärenz und Kontinuität, gleichwohl spielen sich die Prozesse immer in einem Spannungsfeld von Kohärenz und Verschiedenheit sowie Kontinuität und Veränderung/Entwicklung ab. Dies gibt den Individuen zum einen die Sicherheit, sich über die Zeit hinweg auf ihre Handlungsmuster verlassen zu können, aber gleichzeitig auch die Zuversicht, offen für neue Erfahrungen zu sein, sich weiter zu entwickeln. Zum anderen erfahren sie, dass sie sich in unterschiedlichen Situationen sowohl sehr ähnlich als auch sehr unterschiedlich verhalten können, dass sie ein breites Verhaltensrepertoire haben. Das System der Lebensführung hält die einzelnen Teile des Alltags zusammen und bereitet so die Basis für alltägliche Identitätsarbeit. Darüber hinaus ist das Zusammenhalten, das Strukturieren des Alltags selbst schon alltägliche Identitätsarbeit.

3. Alltägliche Lebensführung als alltägliche Identitätsarbeit: empirische Typen

Die Typisierung basiert auf einer Untersuchung zu Formen alltäglicher Lebensführung, bei der verschiedene Berufsgruppen, u.a. freiberufliche JournalistInnen, auf die ich mich im folgenden beziehe, befragt wurden. Dabei stand die Frage im Vordergrund, wie die Individuen mit der Offenheit ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen in ihrer Lebensführung umgehen und zu einer Identität verarbeiten. Es ließen sich vier unterschiedliche Muster von Lebensführung und Identität rekonstruieren, die auf einem Kontinuum von Ordnung durch Planung und Kontrolle bis zu vertrauensvollem Abwarten und Auf-sich-zukommen-lassen angesiedelt werden können (vgl. ausführlich Behringer, 1998).

3.1. Kontrolle

Die Kontrolleure empfinden die Offenheit ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen in erster Linie als Unsicherheit und Diffusität, der sie durch eine weitgehend zweckrationale Organisation des Alltags und eine Orientierung an Effektivität und Erfolg begegnen. Bei ihnen findet sich die am stärksten geregelte und im voraus geplante Lebensführung. Sie etablieren klare Regeln, zeitliche und sachliche Strukturen, die auf Dauer angelegt sind und einen hohen Verbindlichkeitsgrad (auch für andere Personen) haben. Damit bringen sie Ordnung in ihren Alltag, Ordnung die Verhaltenssicherheit erzeugt und ein festes Identitätsmuster gewährleistet.

Die zeitliche Planung lässt sich am deutlichsten am Beispiel eines Befragten - Herrn Hohl - aufzeigen: Er hat sich ein strenges Zeitkorsett lang-, mittel- und kurzfristiger Planung zugelegt. Die langfristige Planung erstreckt sich über ein Jahr, für das festgelegt wird, was alles untergebracht werden muss, wofür er jeweils bestimmte Zeiträume reserviert. Diese Jahresplanung stellt ein Grobgerüst, eine Übersicht über’s Jahr dar. Mittelfristig werden dann für ein bis zwei Monate im voraus bestimmte Tage für bestimmte Tätigkeiten konkret reserviert. Und kurzfristig wird schließlich für die jeweilige Woche jeder Tag von morgens bis abends detailliert durchgeplant. Dieses enge Zeitkorsett übernimmt die Funktion fester vorgegebener Arbeitszeiten, denn er hält sich in der Regel verbindlich an seine selbstgesetzten Vorgaben. Mit anderen Worten: Fremdkontrolle wird durch Selbstkontrolle ersetzt, die aber durch ihre Verbindlichkeit wie Fremdkontrolle wirkt. Durch die planende Organisation der Gegenwart wird auch die Zukunft ihrer Unberechenbarkeit und Leere enthoben. Durch zeitliche Planung wird frühzeitig festgelegt, was wann zu tun ist, es wird wenig dem Zufall und dem Lauf der Dinge überlassen. Dadurch werden Leerläufe und Unsicherheiten ebenso ausgeschaltet, wie überbordende Anforderungen. Die Kontrolle und Verplanung der Zeit geht einher mit einer klaren Segmentierung von Zeiten für Beruf, Familie und Erholung, sowie einer klaren Absprache bezüglich der Zuständigkeiten für familiale Arbeit. Wenn Zeiträume oder Termine für berufliche Tätigkeiten reserviert sind, müssen diese vor dem Übergriff anderer Bereiche – meist der Familie – oder den Ansprüchen anderer Personen gesichert werden. Die feste zeitliche Planung ist möglich, da die familiale Arbeit überwiegend von den Frauen getragen wird und Zeit für die Familie nur wenig Raum einnimmt.

Kontrolle im Umgang mit Offenheit setzt also zum einen eine Lebenssituation voraus, die sich kontrollieren lässt, zum anderen die Überzeugung, dass die Welt durch Planung und Kontrolle berechnet und das, was wichtig und richtig ist, auch verwirklicht werden kann. Die Kontrolleure leben in der Überzeugung, dass sie es sind, die die Fäden in der Hand haben (müssen) und über ihr Leben, ihre Zeit und ihre Zuständigkeiten selbst bestimmen: „also da gilt schon auch ‘ne gewisse Selbstbehauptung“ (I 12). Entsprechend ist ihr Selbst- und Weltbild. Sie sehen sich in einer Welt, in der ihnen nichts geschenkt wird, in der sie es – wenn auch unter schwierigen Umständen – schaffen, sich durchzusetzen und ihren Weg zu gehen. Sie sind „Kämpfer“ (I 6), „harte Brocken“ (I 3), haben eine „calvinistisch-praktische Prägung“ (I 12), zeigen keine Schwäche, sondern leben nach dem Grundsatz „Ich bin stark“ (I 12) und haben das entsprechende „Durchsetzungsvermögen“ (I 3), ihre Interessen auch konsequent zu verfolgen.

Abgestützt wird diese Lebensführung durch eine Orientierung an Erfolg und Effektivität. Das zeigt sich in einem ausgeprägten Kosten-Nutzen-Denken als Bewertungsmaßstab für jegliches Handeln. Es gilt, aus jeder Situation unter geringstmöglichem Aufwand das Maximum herauszuholen (Herr Hohl nennt hier als Ziel, die Doppelverwertungsquote zu maximieren). Die Wertigkeiten der einzelnen Lebensbereiche folgen einer strengen Hierarchie, der Beruf steht eindeutig an erster Stelle. Obwohl die Kontrolleure an ihr Handeln einen strengen Effektivitätsmaßstab anlegen, nach dem der geringstmögliche Aufwand den größtmöglichen Ertrag bringen soll, ist ihr Beruf nicht nur Mittel zum Zweck, um dieses Ziel zu erreichen. Der Beruf wird nicht instrumentalisiert, im Gegenteil, sie identifizieren sich sehr stark mit ihrem Beruf. Allerdings müssen die Themen einem einheitlichen Schwerpunkt folgen, gehen sie zu weit auseinander, wird eine „Frontbegradigung“ vorgenommen.

Auch die Konstruktion der Biographie wird schnurstracks auf ein Ziel hin ausgerichtet: Erfolg und Effektivität. Die Orientierung an der Erreichung dieses Zieles spannt sich wie eine Klammer um die Biographie und hält sie zusammen. Am Ziel, das es zu erreichen gilt, erarbeiten sie sich ihre Identität, die möglichst aus einem Guss, ohne Irritationen sein sollte.

Das Selbst- und Weltverständnis der Kontrolleure, gepaart mit ihrem Kontrollbewusstsein und ihrer Orientierung an Effektivität lässt sie nicht ermüden, ihren Alltag sehr stark zu planen und unter Kontrolle zu halten, um das Beste aus ihrem Leben herauszuholen. Durch Leistung, kämpferisches Verhalten, straffe Arbeitsorganisation und Frontbegradigung behalten sie es in der Hand, aus der Offenheit ihrer Lebenssituation einen beherrschbaren und berechenbaren Alltag sowie eine erwartbare Zukunft zu machen.

Identität und Lebensführung werden in dieser Gruppe nach dem Kriterium der Zweckrationalität rundum abgesichert und geregelt, um die Kontrolle über die eigene Person, die Situation und die Zukunft zu gewährleisten. Offenheit der Lebensbedingungen ist zwar auch hier erklärte Bedingung für ein selbstbestimmtes Leben, da die Offenheit jedoch als Unsicherheit und Diffusität empfunden wird, zielt die Lebensführung darauf ab, Offenheit zu schließen, und, da dies nicht möglich ist, sie zumindest zu kontrollieren.

3.2. Disziplin

Die Disziplinierten stellen keine Hierarchie auf, sondern orientieren sich an einer ausgewogenen Balance von Beruf, Familie und individuellen Ansprüchen. Sie reduzieren die Komplexität der Anforderungen und Möglichkeiten ihres Lebens weniger durch eine hierarchische Organisation und vorab festgelegte Regeln, die rigide eingehalten werden, als durch die Fähigkeit, sich diszipliniert auch auf wechselnde Bedingungen beziehen zu können und dabei eine gewisse Variabilität bewusst zuzulassen. Die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, die eine feste zeitliche Ordnung gewährleistet, wird ersetzt durch eine zeitliche Rahmenplanung, die ein Mindestmaß an Kontinuität vermittelt. Sie „planen, was zu planen ist, um möglichst viel Freiraum auch zu haben“, sie planen „von langer Hand, (um) dann ... zu versuchen, die momentanen Sachen flexibel mitzunehmen“ (I 14). Sie setzen sich einen Rahmen, der an den eigenen, nicht immer gleichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten sowie denen der anderen Familienmitglieder orientiert ist. Damit geben sie dem Alltag eine grobe Struktur. Innerhalb dieses Rahmens vermeiden sie es weitgehend, sich schon vorab durch allzu viele Termine festzulegen, um sich den beruflichen wie familialen Erfordernissen des Alltags flexibel stellen zu können.

Die Zeiträume, die für berufliche Arbeit oder andere Tätigkeiten reserviert werden, stehen deshalb immer wieder zur Disposition, wenn es die eigene Verfassung oder die jeweilige Situation verlangen. Der zeitliche Rahmen ist zwar für jeden Tag klar und auch über einen längeren Zeitraum etabliert, was aber konkret gemacht wird, entscheidet sich oft in der Situation. Dass der Alltag dennoch nicht zum Chaos wird, liegt an der enormen Selbstdisziplin, mit der gearbeitet wird, ohne sich in ein Korsett zu zwängen, auch dann, wenn kein Termin drückt.

Die Orientierung ist v.a. auf Balance ausgelegt. Diese Balanceorientierung bezieht sich zum einen auf eine gelungene Verbindung von Beruf und Familie bzw. Arbeit und Leben „...die Trennung irgendwie gibt´s nicht, also Arbeit oder Freizeit, die gibt´s in mir drin nicht.“ Zum anderen auf die Balance von Offenheit und Kontinuität. Durch eine Mischung aus Rahmenplanung und flexibler Gestaltung des Alltags und einer möglichst gleichgewichtigen Verteilung der Zeit auf Beruf und Familie wird versucht, diese Orientierung auch im Alltag umzusetzen. (Allerdings sieht die Umsetzung für Frauen und Männer unterschiedlich aus). Die Vereinbarung von Beruf und Familie hat zur Folge, dass sich die Tätigkeiten im Alltag oft vermischen: die berufliche Arbeit mit der Hausarbeit und Kinderbetreuung. Während zuhause gearbeitet wird, läuft die Waschmaschine mit, nebenbei wird gekocht, gesaugt oder abgespült. Es ist ganz normal, dass „man doch immer auf mindestens drei Ebenen läuft“ (I 7).

Es ist schwierig genug, allein die Balance zwischen Beruf und Familie im Alltag zu halten. Individuelle Bedürfnisse und Zeit für Freunde bleiben dabei meist auf der Strecke. Es bleibt vorläufig beim Wunsch nach frei verfügbarer Zeit, Muße, Entspannung und Treffen mit Freunden, die nicht um die Kinderbetreuung kreisen.

Rahmenplanung als Strategie der Lebensführung und Identität gilt nicht nur für den Alltag, sondern auch für die Biographie. Ein Rahmen mit verschiedenen Eckdaten gibt ein gewisses Maß an Vorhersehbarkeit und Sicherheit, daneben bleibt aber genügend Raum für Neuerungen und Veränderungen. „Ich finde, man sollte ‘ne Richtung haben, und dann wird sich der Rest entfalten. Alles andere bedeutet Einengung“ (I 7:62). Die Richtung ist klar, Selbstverwirklichung durch eine gelungene Verbindung von Beruf und Familie, die zwar konsequent und diszipliniert verfolgt wird, aber nicht geradewegs auf ein Ziel ausgerichtet ist, sondern sich zwischen den Polen Offenheit für Neues und Kontinuität hin und her bewegt.

Gepaart ist die Disziplin mit Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen in die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten, wechselnden Anforderungen auch flexibel begegnen zu können und sich selbst ohne Druck von außen immer wieder motivieren zu können. Die Selbstwahrnehmung der Disziplinierten kreist ebenfalls um Offenheit und Kontinuität. Sie sind „flexibel“, „beweglich“, „lebendig“, (I 10), haben einen „drive to move“. Sie sind „ständig Lernende“ und „für Änderungen offen“ (I 14). Bei aller Offenheit für Neues muss aber auch „‘ne gewisse Kontinuität“ (I 10) gewahrt werden. Diese Kontinuität, die durch äußere Arbeits- und Lebensbedingungen nicht gegeben ist, verschaffen sie sich selbst mit „Disziplin“ (I 10) und „einer gewissen Konsequenz“ (I 14), mit der sie an die Gestaltung ihres Alltags herangehen, dabei sind sie in der Wahl ihrer Möglichkeiten sehr kreativ, sie lassen sich „immer was Neues einfallen“ (I 10). Auch deuten die Disziplinierten die Offenheit ihrer Lebenssituation weniger als Bedrohung denn als Chance zu einer selbstbestimmteren Lebensgestaltung, die aber nur gewahrt werden kann, wenn der Optionenvielfalt mit klaren Entscheidungen begegnet wird. „Ich mag nicht immer so ein bisschen ...“ (I 5) charakterisiert bei diesem Typus die Vorliebe für klare Verhältnisse.

3.3. Akrobatik

Die Ausgangsbedingungen sind zunächst einmal denen der Disziplinierten sehr ähnlich. Auch die Akrobaten setzen sich eine Grobstruktur, einen zeitlichen Rahmen, in dem sowohl berufliche wie auch die Zeiten der Kinder und der PartnerInnen einen Platz finden. Auch hier gibt es jeden Tag kleinere oder größere Blöcke, die für berufliche Arbeit genutzt werden können. Allerdings bestehen im Alltag weitaus größere Schwierigkeiten, diesen groben Rahmen auch diszipliniert auszufüllen. Dies liegt wesentlich daran, dass die Optionen miteinander konkurrieren. Sie möchten genügend Zeit für den Beruf, für die Kinder, für Freunde und für sich selbst haben. Doch oftmals können sie sich nicht entscheiden, was sie tun sollen. Das Sich-nicht-entscheiden-können erschwert es, sich diszipliniert und konzentriert auf die jeweilige Tätigkeit einzulassen. Deswegen wünschen sie sich auch einen festeren äußeren Zeitrahmen, der ihren Alltag strukturiert, z.B. in Form einer Halbtagsstelle.
Wir sehen hier die Kehrseite der freien zeitlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Alltags. Die Akrobaten können zwar selbstbestimmt mit ihrer Zeit umgehen, aber sie erfahren dies auch als Druck, ihren Alltag selbst strukturieren zu müssen. Deshalb planen sie ihre berufliche Tätigkeit ähnlich wie die Kontrolleure „sehr im voraus“. Allerdings umfasst die Planung zum einen nur sehr begrenzte Zeiträume, zum anderen halten sie sich nicht sklavisch daran. Kommt „... irgendwas dazwischen, geht das schon mal flach“. Die beiden Komponenten ‘Planung und Situativität’ spielen also nicht, wie bei den Disziplinierten flexibel zusammen, sondern sie wechseln sich ab. Muss ein Auftrag fertiggestellt werden, wird der Alltag streng kontrolliert und geplant, nur so kann den beruflichen Anforderungen nachgekommen und das materielle Überleben gesichert werden. Dazwischen wird phasenweise (z.T. über lange Zeit) situativ und spontan an die Dinge des Alltags herangegangen. Der Tag wird so genommen, wie er sich gerade ergibt.

Damit setzen sie dem gesellschaftlichen Aktivitätsethos bewusst etwas entgegen, sie wollen mit ihren Bedürfnissen nicht auf der Strecke bleiben. Im Gegensatz zu den vorgenannten Typen ordnen sie Freunde nicht dem Beruf unter und verschieben den Wunsch nach Muße nicht in die Zukunft, sondern wollen diese im Alltag unterbringen. Dafür beschränken sie die berufliche Arbeit auf die Sicherung des Existenzminimums. Für sie steht nicht das Problem, der Zeit nachzurennen im Vordergrund, sondern dem Tag überhaupt eine Struktur zu geben. Je weniger Zeit für berufliche Arbeit gebunden ist, desto stärker sind sie gefordert, ihren Alltag reflexiv zu gestalten und in die Hand zu nehmen. Das Problem ist nicht Zeitnot, sondern einerseits die strukturierte Erledigung der notwendigen Dinge, damit der Alltag nicht zu einem diffusen, bedrohlichen Leerraum ohne Konturen wird. Andererseits die Unmöglichkeit, die frei bleibenden Zeiten ohne schlechtes Gewissen zu genießen, ohne dabei zu denken, „aber eigentlich müsstest du arbeiten“.

Der Alltag gleicht einem Tanz auf dem Seil, dessen Wackeligkeit dadurch verstärkt wird, dass von mehreren Seiten daran gezogen wird. Dieser Seiltanz ist ein Balanceakt, der nur mit einem Netz mit doppeltem Boden aufgefangen werden kann. Das familiale Netz – falls überhaupt vorhanden – kann diese Absicherung bei weitem nicht gewährleisten, deshalb sind außerfamiliale Beziehungen hier von besonderer Bedeutung. Dieses Netz erfüllt vielfältige Aufgaben, es gibt dem Alltag eine Struktur, wirkt unterstützend bei emotionalen und organisatorischen Problemen und dient der kommunikativen Absicherung der eigenen, sehr ambivalenten Lebensmodelle und Identitäten. Gleichzeitig erfordert es aber viel Energie zur Pflege und Instandhaltung, da die Einbindung nicht selbstverständlich gegeben ist, sondern selbst hergestellt werden muss.

Die Orientierungen der Akrobaten sind widersprüchlich, sie konkurrieren miteinander oder sind nicht zur eigenen Zufriedenheit geklärt. Dies ist die subjektive Antwort auf gesellschaftlich widersprüchliche Leitbilder und Anforderungen, die speziell an Frauen gestellt werden. Die Anforderungen, die sowohl vom Beruf wie von der Familie an die Person gerichtet werden und mit ihren Ansprüchen kollidieren, können nicht durch eine „innere Balance“ (I 15) kompensiert werden. Die Gleichgewichtigkeit der beruflichen Ambitionen, der Rolle als Mutter/Vater und des individuellen Anspruchs, sich auch Muße zu gönnen, erschwert es, sich zu entscheiden und sich konzentriert auf jeweils eine Tätigkeit einzulassen. Zurück bleibt das Gefühl „so unentschieden zwischen zwei Welten rumzuhüpfen“ (I 4).

Auch in ihrer Selbstdeutung zeigt sich diese tiefe Ambivalenz. Sie sehen sich selbst einerseits als „träge“ und „faul“, „Willensstärke“ und „Fleiß“ (I 4) fehlen, um diszipliniert arbeiten zu können. Sie möchten ihr „Dasein genießen, in der jedweden Form“ (I 4), sei es in der Arbeit, mit ihren Kindern, mit Freunden oder einfach mal allein. Freiräume, die sie im Alltag dafür durchaus hätten, können sie jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit nutzen, da sie entweder vor Augen haben, „da müssen wir hin und da müssen wir hin“ (I 1) oder da ihnen ihre „Arbeitsmoral“, ihre „protestantische Ethik“ (I 15) Nichtstun verbietet. Nehmen sie sich Zeit für sich, steht ihnen ihr „Über-Ich im Kreuz“ und fordert „eigentlich solltest du und eigentlich müsstest du“(I 4).

Ihr Selbstbild korrespondiert mit einer Weltsicht, in der die Vielfalt der Optionen und Möglichkeiten zwar als Chance wahrgenommen werden, die als Überangebot an Möglichkeiten aber zum Problem werden können. Es gibt einerseits „zu viele Reize“ (I 1) von außen, die ungehindert auf die Person einwirken, und andererseits zu hohe individuelle Ansprüche an das Leben, möglichst viel mitzunehmen bzw. Sich dem Angebot zu entziehen. Dem entgegenzuwirken, würde die Fähigkeit voraussetzen, bewusst Grenzen zu ziehen, Angebote auszuschlagen und Ansprüche zu reduzieren. Es würde bedeuten, sich auf „das Wesentliche“ (I 4) zu beschränken – wobei das Wesentliche weniger eine konkret benennbare Tätigkeit ist als die Fähigkeit, sich bewusst und konzentriert auf eine Tätigkeit einlassen zu können – und „nicht das eine zu tun und an das andere gleichzeitig zu denken“.

3.4. Vertrauen

Der letzte Typus Vertrauen zeichnet sich im Vergleich zu den anderen durch einen weitgehenderen Verzicht auf Planung und die Etablierung von Regelmäßigkeiten aus. Es wird weder versucht, die offenen Bedingungen durch Kontrolle wieder zu schließen, noch wird ihnen mit Disziplin oder Unentschiedenheit begegnet, sondern sie werden positiv akzeptiert. Die alltägliche Lebensführung wird dadurch reguliert, dass die Vertrauensvollen auf sich selbst, ihre Partnerinnen und im großen und ganzen auch auf ‘den Lauf der Dinge’ vertrauen. Sie vertrauen auf ihre Kompetenzen, ihr Leben gestalten zu können – und zwar auch unter offenen Bedingungen, wo Arbeitszeiten kaum externe Strukturen vorgeben und auch traditionelle Orientierungen, Normalbiographien und Geschlechterrollen keine verlässlichen Bezugspunkte sind. Bei diesem Muster zeigen sich am deutlichsten situative Elemente in der alltäglichen Lebensführung, ohne dass diese bedrohlich wirken würden.
Der Alltag in der Familie wird danach organisiert, wer wann was besser leisten kann. Generell gilt, beide Partner sind gleichermaßen für Beruf und Familie zuständig. Konkrete Zuständigkeiten ergeben sich nach Vorlieben und (Ab)Neigungen. Die zeitliche Organisation folgt einem „groben Raster“, das als Anhalts- und Orientierungspunkt dient. Wenn es die Situation erfordert, können die festgehaltenen Zeiträume ausgedehnt, verkürzt oder ganz gestrichen werden, z.B. wenn ein Auftrag fertig werden muss. Das heißt nicht, dass der Alltag chaotisch und ungeregelt verlaufen würde, denn in Teilbereichen wird immer wieder auf Routinen zurückgegriffen. An die Stelle einer Wochen- oder Monatsplanung treten aber tägliche Absprachen zwischen den PartnerInnen. Es wird praktisch „für jeden Tag neu überlegt“, wer was wann machen kann, um auch kurzfristige Aufträge oder Anfragen weitgehend problemlos integrieren zu können. Dabei wird aber „keine Liste, kein Stundenplan darüber geführt“, wer wie lange von zu Hause abwesend war oder Zeit für sich hatte, um danach seine Rechte einzuklagen, sondern es wird darauf vertraut, bei gegebener Zeit schon auch zu seinem Recht zu kommen.

Der weitgehende Verzicht auf Planung bezieht sich nicht nur auf den Alltag, sondern auch auf die Biographie, die sich ebenfalls „so ergeben“ hat. Der Beruf des Journalisten ist nicht Resultat eines lang gehegten und konsequent verfolgten Berufswunsches. Er ergab sich vielmehr während des Studiums eher zufällig über einen Job bei den Medien oder als eine berufliche Möglichkeit nach Studienabschluss, denn „irgendwas muss man ja machen“.

Offenheit und Veränderbarkeit wird nicht nur positiv akzeptiert, sondern ist grundlegende Orientierung: „... man (sollte) sich wirklich nicht wiederholen (...) ich finde es wichtig, dass man halt immer was andres macht ...“ (I 16:22). Offenheit wird zum Programm, hinter dem die konkret benennbaren Ziele zurückzutreten scheinen. Orien¬tierungspunkte sind weniger positiv formulierte Ziele - denn diese würden die Offenheit reduzieren - als vielmehr Gegenhorizonte. Handlungsleitend sind we¬niger Optionen, die verfolgt werden, als die Abwahl negativer Optionen – „Ich weiß, was ich nicht machen will“, ist sehr viel klarer als das, was ich will. Dieses Paradox einer zum Programm gewordenen Offenheit führt dazu, daß bestehende Arrangements - der Lebensführung und der Identität als prinzipiell veränderbar angesehen und feste Ziele abgelehnt werden.

Ein Leben lang auf ein Ziel hin ausgerichtet zu sein, ein Leben lang dasselbe zu machen, ist für die Vertrauensvollen der Ausdruck von Normalität in unserer Gesellschaft schlechthin. Die Abgrenzung von der ‘stinknormalen’ Normalität ist deshalb nicht nur Orientierungspunkt, sondern auch Identitätsstrategie. Sie arbeiten sich an Gegenhorizonten ab, die gesellschaftliche Normalität verkörpern: traditionelle Arbeitsteilungsmuster, Normalarbeitsverhältnisse, Massentourismus, Sonntagsausflügler usw. Damit wird die eben erwähnte Strategie der Ablehnung von Zielen abgestützt: Sie vermeiden Festlegungen, die Offenheit reduzieren würden und demonstrieren gleichzeitig doch ihren Standort: Jenseits aller Normalität. „Persönliche Unabhängigkeit“ geht vor „Sicherheit“(I 11). Im Journalismus haben sie einen Nischenplatz gefunden, in dem sie die „eher anarchische Lebenshaltung“, d.h. „fern von irgendwelchen Obrigkeitszwängen sich durchwursteln zu können“(I 16), beibehalten können, ohne den Anspruch an eine inhaltlich interessante und gesellschaftlich relevante Tätigkeit aufgeben zu müssen. Dafür verzichten sie gerne auf Karriere. Sie sind ohnehin keine „Karrieretypen“, dennoch sind sie „erfolgreich“ (I 2) in ihrem Beruf, da nachgefragte Mitarbeiter im Sender und relativ gut im Geschäft. Sie sind „mäßig faul“ (I 2) und gehen „pragmatisch“ (I 11) mit ihren Möglichkeiten und Ansprüchen um.

Vertrauen in Verbindung mit Alltagspragmatik scheint auch die Basis zu sein, auf der sie „ruhig“, „geruhsam“ und „cool“ (I 11) der Offenheit des Alltags wie der Zukunft ins Auge blicken können. Hinzu kommt ein Relativismus, der es ermöglicht, aus einer Situation immer das Beste zu machen. Sie denken in Kategorien von „besser als“. Das Leben mit Kindern ist einfacher, als andere prophezeit haben, die Arbeit angenehmer als der Durchschnitt usw. Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, auf ein bestimmtes Ziel wie Erfolg oder Effektivität hin zu arbeiten, sondern in einem guten Leben, das nicht unbedingt in einen größeren Sinnzusammenhang eingebettet werden muss. Es kann auch „faszinierend sinnlos“ sein. Ihr Kontrollbewusstsein fußt, so paradox dies klingen mag, auf Vertrauen. Vertrauen ist der entscheidende Mechanismus zur Reduktion des komplexen Alltags.

4. Schluss

Ausgangspunkt meiner Ausführungen war die Überlegung, dass veränderte Lebensbedingungen unser Alltagsleben grundlegend verändern und neue Anforderungen an die Individuen stellen. Die vielfältigen und widersprüchlichen Facetten des Alltagslebens in einen individuellen Zusammenhang zu bringen, nimmt damit immer mehr den Charakter von Arbeit an. Die Arbeit des Alltags hat zwei Seiten, eine Außen- und eine Innenseite, die alltägliche Lebensführung und die alltägliche Identitätsarbeit, die beide um die Herstellung von Kohärenz und Kontinuität kreisen. Dabei greifen die Personen auf ganz unterschiedliche Methoden, Strategien und auch Tricks zurück, einen Königsweg aber gibt es nicht. Die jeweils typische Umgangsweise mit den offenen Bedingungen alltäglichen Lebens, die sich in den vier dargestellten Lebensführungs- und Identitätsmustern zeigen, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Die unterschiedlichen Typen können deshalb nur erklärt werden innerhalb eines bestimmten Gefüges von Arbeits- und Lebensbedingungen, innerhalb dessen sie jeweils funktionieren. Denn lasse ich diese außer acht, eliminiere ich die Störvariable Alltag, so laufe ich Gefahr, Lebensführungs- und Identitätsmuster auf Persönlichkeitszüge zu verkürzen. Ganz entscheidend sind hier für mich neben geschlechtsspezifischen Unterschieden – die Typen Kontrolle und Vertrauen sind eher männliche Muster, die Typen Disziplin und Akrobatik eher weibliche Muster –, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, die Ressourcen einer der Person. Die unterschiedlichen Typen Kontrolle, Disziplin, Akrobatik und Vertrauen sind nicht einfach Abbild bestimmter Persönlichkeitszüge, sondern sie funktionieren innerhalb dieses bestimmten Gefüges von Arbeits- und Lebensbedingungen, biographischen Erfahrungen sowie einer spezifischen Ressourcenlage.

Die strikte Planung und Kontrolle des Alltags bei den Kontrolleuren ist nicht allein Ausdruck eines zwanghaften Charakters, sondern auch eine Antwort auf aktuelle berufliche und finanzielle Unsicherheiten, verbunden mit entsprechend wenig Ressourcen. Durch Planung und Kontrolle werden fehlende Ressourcen kompensiert, damit der Alltag und die Zukunft berechenbarer werden.

Vertrauen als Mechanismus der Handlungssteuerung dagegen wird begünstigt durch das reichliche Vorhandensein einer Vielzahl unterschiedlicher Ressourcen. Dies gibt ein anderes materielles und soziales Polster für die Lebensführung und Identitätsbildung. Hier ist eine relative Absicherung durch ein festes freies Beschäftigungsverhältnis bzw. ein Sparguthaben gewährleistet. Des weiteren können die Vertrauensvollen auf wirklich verlässliche Personen in ihrem Umfeld zählen, das gilt sowohl für ihre Partnerinnen, die ihnen bei Bedarf den Rücken freihalten als auch ihren Freundeskreis, der mit ihrer Situativität und Spontaneität gut umgehen kann. Auf dem Polster von materiellen und sozialen Ressourcen sind auch personale Ressourcen, wie psychische Gelassenheit, Distanz und Selbstbewusstsein, die es wiederum ermöglichen, die Ressourcen in positivem Sinne wahrzunehmen, leichter auszubilden.

Ebenso deutlich zeigt sich die Bedeutung von Ressourcen bei den Akrobaten. Die changierende Lebensführung und Identität der Akrobaten gründet sich zwar auch in mehrdeutigen und ambivalenten Orientierungen, sie wird aber durch die Knappheit verschiedener Ressourcen verstärkt. Entweder ist bei ihnen die partnerschaftliche oder die berufliche oder die finanzielle oder auch mehreres gleichzeitig ungesichert. Dieser Unsicherheit begegnen sie zeitweise ebenfalls durch strikte Planung, aber vor allem durch die Knüpfung eines tragfähigen Netzes sozialer Beziehungen, was aber viel Zeit und Energie verschlingt.

Die Disziplinierten schließlich greifen in erster Linie auf ihre Fähigkeit zurück, sich in nahezu jeder Lebenslage disziplinieren zu können und den Anforderungen auch ohne äußeren Druck diszipliniert begegnen zu können. Allerdings verfügen auch sie insgesamt entweder über ausreichende finanzielle oder soziale Ressourcen, um sich eine gewisse Entlastung im Alltag verschaffen zu können.

Auch wenn die Ressourcen bei den JournalistInnen recht unterschiedlich verteilt sind, so können sie im wesentlichen doch auf einen Grundstock zurückgreifen. Sie verfügen insgesamt über ausreichend soziales (Freunde), materielles (Einkommen), kulturelles (Bildung) und/oder personales (Kompetenzen) Kapital. Nun sind die geschilderten Arbeits- und Lebensbedingungen aber kein Spezifikum von JournalistInnen. Gemäß gesellschaftlicher Diagnosen und Prognosen treffen sie zunehmend für weitere Personengruppen zu (vgl. Hettlage, 1992; Voß, 1993). Für solche Personengruppen aber, die auf der einen Seite feste externe Vorgaben verlieren, auf der anderen Seite aber nicht über die genannten Ressourcen verfügen, um selber ein ausbalanciertes Arrangement externer Anforderungen und individueller Bedürfnisse neu etablieren zu können, sind deshalb erhebliche Probleme und Belastungen zu erwarten. Die Möglichkeiten offener Arbeits- und Lebensbedingungen können eine Überforderung darstellen und in eine Bedrohung umschlagen, die nicht in mehr Selbstbestimmung, sondern in situativer Anpassung an wechselnde Anforderungen mündet.

„Diejenigen, die dazu in der Lage sind, können nunmehr Identitäten frei kombinieren und sie fast nach Belieben wechseln: diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, werden stärker unter Ängsten leiden oder auf starke Identitäten, wie religiöse oder erneut nationalistische, zurückgreifen, zu diesen Zuflucht nehmen. Die angesprochene Fähigkeit hängt wahrscheinlich einerseits von Persönlichkeitszügen ab, andererseits aber auch von materiellen Möglichkeiten in einer Gesellschaft, in der Identität oft durch erwerbbare Objekte geschaffen und dargestellt wird.“ (Wagner, 1995, S. 250).

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Endnoten

  1. Die empirische Basis dieser typischen Muster bilden qualitative erzählungsgenerierende Interviews mit freiberuflichen JournalistInnen (8 Frauen, 8 Männer), die Teil einer Stichprobe einer größer angelegten Untersuchung zur alltäglichen Lebensführung berufstätiger Personen waren. Diese Untersuchung entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 333 der Universität München „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“, der Ende 1996 abgeschlossen wurde. An der Untersuchung waren außer meiner Person Karl Martin Bolte, Sylvia Dietmaier, Wolfgang Dunkel, Karin Jurczyk, Werner Kudera, Maria S. Rerrich und G. Günter Voß beteiligt.
  2. Bezeichnungen für die aktuelle Phase der Moderne sind fast so vielfältig bzw. noch vielfältiger wie die Personen, die sich damit auseinandersetzen. Ulrich Beck (1986; 1994; 1996) spricht von der "anderen", "zweiten" oder "Gegenmoderne"; Anthony Giddens (1992; 1995) von der "Hoch-" "Spät-" oder "radikalisierter Moderne". Keine andere Moderne, sondern einen endgültigen Bruch mit den Prinzipien der Moderne postulieren dagegen die Vertreter der Postmoderne (Welsch, 1988; Bauman, 1992). Wenn ich im weiteren Verlauf mit diesen Begriffen arbeite, so verstehe ich sie nicht als Epochenbegriffe, sondern als theoretische Standorte, von denen aus die Moderne betrachtet wird. Sie unterscheiden sich zwar in vielen Details und ihrer Wertung der aktuellen gesellschaftlichen Situation, ihre Vertreter grenzen sich voneinander ab, sprechen sich Seriosität ab usw., m. E. ist aber auch ein Kern gemeinsamer Argumentation auszumachen: die kritische Reflexion modernen Wissens als Eindeutigkeit und Einheit und die (radikale) Pluralität gesellschaftlicher Bedingungen, die zu einem Leben in Widersprüchen und Ambivalenzen führen.
  3. Dies geschieht sowohl durch rational und reflexiv gesteuerte Lebensführungen als auch durch unhinterfragte, sehr routinisierte Lebensführungen.
  4. Auf diesen Zusammenhang werde ich abschließend bei der Darstellung empirischer Formen von Lebensführung und Identität genauer eingehen.
  5. Der Aspekt der Zukunft stellt sich z.B. in der Frage, wie antizipierte Identitätsentwürfe bzw. Identitätsprojekte (Was werde ich mal sein, wie soll es weitergehen?) unter einer offenen Zukunftsperspektive mit dem momentanen Zustand verknüpft werden.

Autorin

Luise Behringer; Dr. phil., Diplom-Psychologin
Seit 1998 in der Arbeitsstelle Frühförderung Bayern in München in den Bereichen Fortbildung, fachliche Beratung und Forschung. Arbeitsschwerpunkte: Kooperation und Vernetzung, Alltag von Familien, Bindungstheorie, Identität, frühe Interaktionsberatung.
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