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Professionalität auf der Hintertreppe oder Von der Aufgabe der Expertenrolle

Olaf Neumann
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 14 (2009), Ausgabe 1]


Zusammenfassung

Der Autor versucht sich Phänomenen zu nähern, die konstituierend auf der Vordertreppe bzw. auf den Hintertreppen psychosozialer/sozialpsychiatrischer Versorgung wirken. Er nähert sich auf heuristische Weise dem Tagungsthema und bezieht es auf sein Praxisfeld, der ambulanten Krisenintervention.

Schlüsselwörter: Empowerment, Gemeindepsychiatrie, Gemeindepsychologie, Krisenintervention

Summary

Professionalism on the Back Stairs; or, On the Task of the Expert’s Role
The author tries to approach phenomena that are constitutive of psycho-social or socio-psychiatric care on the front or back stairs. He approaches the topic on the agenda heuristically and relates it to his field of practice: outpatient crisis intervention.

Key words: empowerment, community psychiatry, community psychology, crisis intervention

Vorbemerkung

Dieser auf der gemeindepsychologischen Jahrestagung gehaltene Vortrag ist ganz bewusst zum Dialog einladend (punktuell auch provozierend) gestaltet worden. Deshalb wurde die damit zusammenhängende direkte Anrede der Tagungsteilnehmer für die Veröffentlichung nur teilweise „geglättet“. Im Vortragsstil spiegelt sich so ein Teil der Atmosphäre dieser Tagung wieder. Auf Grund der für den Vortrag nur beschränkt zur Verfügung stehenden Zeit, sind einige Gedanken nur angedeutet. Sie wurden auch in der Veröffentlichung nicht ausformuliert. Hier sei auf die Literaturliste verwiesen.

Einleitung

Zunächst einige Anmerkungen zum Berliner Krisendienst und seinen Aufgaben: Der Berliner Krisendienst ist eine Einrichtung der psychosozialen/gemeindepsychiatrischen Versorgung, in der Menschen in psychosozialen Krisen und psychiatrischen Notfällen schnell und unkompliziert Hilfe finden. In sechs Regionen Berlins mit Versorgungsgebieten von ca. 500.000-600.000 Einwohnern sind verkehrstechnisch gut zu erreichende Beratungsstellen eingerichtet worden. Ziel dieses Beratungsstellennetzes ist es, die schnelle und gemeindenahe multiprofessionelle Akutversorgung in Krisen und psychiatrischen Notfällen in den Abend- und Nachtstunden (auch an Wochenenden und Feiertagen) sowohl in einer Komm-, als auch in einer Gehstruktur sicher zu stellen – wenn das „übliche Netz“ eben Feierabend hat.

Im Jahr 2002 haben acht Mitarbeiter vom Standort Ost eine Selbstbeforschung ihrer Praxis durchgeführt. Die Ergebnisse dieser partizipativen Forschung waren Grundlage meiner Dissertation. Ich freue mich hier heute ein Forum zu haben, einige meiner Gedanken, die meiner Dissertation (vgl. Neumann, 2009) entstammen, einer Fachöffentlichkeit vorzustellen und darüber hinausgehende Hypothesen zu entwickeln, die als Impulse für das Tagungsthema dienen können. Ich beziehe mich in meinen Ausführungen auf mein o.g. sozialpsychiatrisches Praxisfeld.

Mein Impulsbeitrag lautet im ersten Teil seiner Überschrift „Professionalität auf der Hintertreppe“, und ich höre schon Betroffene und Angehörige stöhnen, ob der Anmaßung dieses Titels und vielleicht gibt es die ein oder andere Reaktion, die besagt: „Jetzt lassen uns die Profis noch nicht einmal auf unseren Hintertreppen in Ruhe“. Aber das ist nicht gemeint, und ich versuche hier eine kleine Präzision: Mir geht es insbesondere in meinem Vortrag darum, eine eigene gemeindepsychologische Position in derzeit stattfindenden fachpolitischen Diskussionen innerhalb der Sozialpsychiatrie zu begründen. Ich nehme meinen Ausgang im Begriff der Hintertreppe.

Die Metapher der Hintertreppe – eine Annäherung

Ich bin von einigen potentiellen Besuchern dieser Tagung gefragt worden, ob der Begriff der Hintertreppe im Tagungstitel etwas mit dem Buch „Die philosophische Hintertreppe“ von Wilhelm Weischedel (2007) zu tun hat. Da die Fragen sich häuften, hab ich mir das Buch besorgt. Es handelt sich hierbei um eine kurzweilig angelegte Einführung in das philosophische Denken – quasi über die Hintertreppe – ohne dass der Leser große Vorkenntnisse besitzen muss.

Was ich in Bezug auf unsere Tagung interessant fand, war der Begriff der Hintertreppe, der diesem Buch zu Grunde gelegt wurde:


„Die Hintertreppe ist nicht der übliche Zugang zu einer Wohnung. Sie ist nicht hell und geputzt und feierlich wie die Vordertreppe. Sie ist nüchtern und kahl und manchmal ein wenig vernachlässigt. Aber dafür braucht man sich für den Aufstieg auch nicht besonders vornehm zu kleiden. Man kommt, wie man ist, und man gibt sich, wie man ist. Und doch gelangt man auch über die Hintertreppe zum gleichen Ziel wie über die Vordertreppe: zu den Leuten, die oben wohnen“ (ebd., S. 9).


Die Veranstalter dieser Tagung sagen uns ganz klar, was oben an der Tür der Wohnung steht: Das schöne Leben. Da wollen die Menschen hin. Und dieses schöne Leben ist sehr, sehr unterschiedlich definiert. Einige Berliner Beispiele sind gestern in den Arbeitsgruppen präsentiert worden und vielleicht sagen Sie: Das sind ja gar keine Hintertreppen, das sind doch bereits breit ausgetretene Pfade, eben eher Vordertreppen. Wichtig ist, Sie sind bereits mitten in einer Diskussion, die wir mit Ihnen führen möchten.

Diese Diskussion geht m.E. bis hinein in das Selbstverständnis der Gemeindepsychologie: In der Internetdarstellung der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung (!) und Praxis steht: Gemeindepsychologie sei eine „fachliche Orientierung“, die „psychosoziale Tätigkeiten weniger defizit- und mehr ressourcenorientiert gestalten“ (Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.ggfp.de - Herv. O.N.) will.
(Auf dieses auch zu entdeckende Spannungsverhältnis frei nach dem Motto: „Darf’s auch ein wenig mehr sein…“, das dahinter stehende, widerstrebende Paradigmen vermuten lässt, werde ich später in meinem Vortrag eingehen.) Aus der genannten fachlichen Orientierung ergibt sich das Satzungsziel des Vereines: „Förderung und Entwicklung gemeindepsychologischer Konzepte und Handlungsstrategien für die Praxis (jetzt als erstes genannt! – Anm. O.N.), Forschung, Aus- und Weiterbildung“ (a.a.O.). Um diesem Praxisanspruch (wieder) einen Impuls zu geben, ist diese Tagung konzipiert worden. Heute wollen wir konkreter werden. Vielleicht kann uns die Metapher der Hintertreppe dabei helfen...

Kritische Sicht auf die Vordertreppe

Zum Verhältnis der Hintertreppe zur Vordertreppe wird in dem eben genannten Buch folgendes bemerkt:


Man benutzt die Hintertreppe, „weil hier eine Gefahr ausbleibt, die der Vordertreppe eigentümlich ist: dass man nämlich unversehens, statt in die Wohnung … zu gelangen, bei den Kandelabern, bei den Atlanten und Karyatiden verweilt, die das Portal, das Vestibül und den Treppenaufgang schmücken. Die Hintertreppe ist schmucklos und ohne jede Ablenkung. Zuweilen führt sie deshalb um so eher ans Ziel“ (Weischedel, 2007, S. 9).


Eine sich ausbreitende Stagnation scheint also ein Phänomen der Vordertreppe zu sein. Und bevor ich mich mit der Professionalität auf der Hintertreppe beschäftige, scheint es eben angezeigt, einen kritischen Blick auf die Vordertreppe zu werfen und sich mit dem zu beschäftigen, was professionelle Helfer zu der dort um sich greifenden „Beherrschung der Zeit“ (Barthes, 1988, S. 213) beitragen.

Lassen Sie mich zum Hineinkommen in die Nuancen des Themas ein Beispiel aus der derzeitigen Berliner Diskussion wählen: Den Krankenkassen laufen die Kosten davon. Immer mehr Menschen sind psychisch so beeinträchtigt, dass sie über längere Zeiträume psychiatrische und/oder psychotherapeutische Hilfen in Anspruch nehmen. Der größte Kostenfaktor ist das Krankenhaus. Das eigentliche Problem sind nicht die steigenden Fallzahlen, sondern die Wiederaufnahmen, also die sogenannten Drehtürpatienten.
Immer neue Diagnosestellungen ermöglichen ihren weiteren Verbleib im stationären Setting. Und natürlich ist der Arzt im Krankenhaus in einer prekären Situation, gerade wenn es um Selbst- und/oder Fremdgefährdung geht.

Aus Sicht der Krankenkassen gibt es bisher nur eine Steuerungsmöglichkeit und zwar über die Diagnose, d.h. eine Aufenthaltsdauer im Krankenhaus bemisst sich an dieser. Dass aber die Diagnosestellung abhängig ist vom Ort, an dem der Arzt sitzt, der die Diagnose stellt, haben nun auch die Krankenkassen entdeckt.

Soweit zur „unangreifbaren“ Rationalität der medizinischen Logik oder ein bisschen unpolemischer: Die Rationalität einer Logik wird verändert, wenn ein andere Logik Einfluss gewinnt. Übrigens das war schon immer so, ist aber in Zeiten gefüllter Kassen weniger aufgefallen. Wir nannten das: „Ein Bett darf niemals kalt werden“ und bezeichneten damit den Zugriff ökonomischer Sachzwänge auf das eigentlich medizinisch Angezeigte.

Wenn wir im Tagungssprachgebrauch bleiben, haben wir also hier in der Sogwirkung einer Institution (wie beispielsweise eines Krankenhauses) ein Vordertreppenphänomen vor Augen.

Auf der Basis explodierender Kosten haben nun die Krankenkassen das ambulante System entdeckt. Das soll nun – so die Ideen der Krankenkassen – die Alternative darstellen und vor allem die Kosten senken.

Der ambulante Bereich als Hintertreppe per se?

Zweifel scheinen angebracht. Zum einen, wenn man sich das vor Augen führt, was Krankenkassen selbst als ambulant verstehen. Hier sei zunächst das neue Leistungselement der ambulanten psychiatrischen Behandlungspflege genannt.

Eine neue Berufsgruppe wird in Zukunft immer stärker im ambulanten Bereich auftauchen: die Psychiatriekrankenschwester bzw. der Psychiatriekrankenpfleger. Aber das ist gar nicht das Problem, sondern dass sich im neuen System eine vollständige Übertragung stationärer Hierarchie auf den ambulanten Bereich vollzieht: Der Psychiater als der Verordnende, das Pflegepersonal als das (jetzt außerhalb des Krankenhauses) die Verordnung umsetzende Personal. Der Psychologe kommt in diesem System maximal als niedergelassener Psychotherapeut vor und den Sozialarbeiter gibt es schon gar nicht mehr. Denn seine therapeutische Leistung, die Soziotherapie, gibt es nur alternativ zur ambulanten Behandlungspflege. Beide zusammen sind nicht verschreibungsfähig.

Gibt es keine anderen Alternativen? Gibt es im ambulanten Bereich nichts zu entdecken? Waren wir in der Breite so unkreativ? Auch in Berlin wird diese Frage zunehmend diskutiert, zumal mit dem Ansinnen der Krankenkassen neue potentielle Geldgeber im Versorgungssystem auftauchen. Fündig geworden ist man in den skandinavischen Ländern. Hier laufen seit Jahrzehnten Programme insbesondere zur ambulanten Psychosenbehandlung. Sie basieren im Wesentlichen auf ambulanten therapeutischen Teams, die mit dem Betroffenen und seinem Umfeld in einer systemisch, manchmal auch analytisch ausgerichteten Behandlung sehr zeitintensiv arbeiten. Ohne diesen Ansatz diskreditieren zu wollen, der ohne Zweifel Erfolge in Schweden und Finnland zeigt (wo allerdings Familienstrukturen noch ganz andere sind als hier in Berlin und das Gesundheitssystem auch ein anderes ist), gibt mir eine in Deutschland erschienene Veröffentlichung (vgl. Aderhold et al., 2003) die Möglichkeit, die zugrunde liegenden Handlungslogiken in den Blick zu bekommen. In diesem Vorgehen kann ich dabei gleichzeitig mein Denken bzw. das Vorgehen einer am gemeindepsychologischen Konzept des Empowerment orientierten Krisenintervention kurz und pointiert offen legen.

Was steckt in welcher Verpackung?

Unter dem Stichwort „Dialogismus“ beschreibt eine finnische Autorengruppe ihren Ansatz: „Der Schwerpunkt liegt primär auf Förderung des Dialogs und erst an zweiter Stelle auf Veränderungen, die beim Patienten oder in der Familie angezeigt sind“ (ebd., S. 92). Also ein Vordertreppenphänomen: Reden, sich mit sich selbst beschäftigen, unter Anleitung geschulter Profis, aber bitteschön Veränderungen, insbesondere schnelle, verträgt diese Vordertreppenversammlung nicht. Die Autoren nehmen Bezug auf die griechische Antike, insbesondere Platon und formulieren: „Vielleicht setzt die Idee offener Therapieversammlungen eine Wiederbelebung der demokratischen Ideale aus der Griechischen Antike voraus“ (ebd., S. 98). Also halten jetzt auch noch die griechischen Ideale Einzug auf der Vordertreppe – das ist bemerkenswert ...

Das wäre ja alles in Ordnung, wenn das „Konzept nicht explizit auf Krisen ausgerichtet“ (ebd., S. 90) wäre. (Von den Autoren nicht näher umschrieben als psychiatrische und soziale Krisen und explizit als „Interventionsplanung posttraumatischer Situationen verschiedenen Typs“ (a.a.O.) formuliert.) Damit bin ich mitten in meiner Kritik: Ich kenne nämlich nur wenige Menschen in Krisen (insbesondere nur ganz wenige in psychotischen Krisen), die überhaupt dialogfähig sind. Und deshalb macht es aus einer bestimmten professionellen Haltung heraus Sinn, warum Entwicklung sekundär in diesem spezifischen Vorgehen ist und zunächst primär an der Dialogfähigkeit des Klienten gearbeitet wird. Die dialogisierende Methode ist das Bestimmende, das der Klient zunächst erst einmal akzeptieren muss. Auch hier haben wir es mit einer Vordertreppe zu tun, in der die Machtverhältnisse unverrückbar sind.

Zur Motivationsklärung der Profis zu einem solchen Tun zitiere ich gern Sonneck (1997, S. 82), der offen legt: „Enttäuschungen im kurativen Bereich legen uns nahe, therapeutisches Handeln weiter nach vorn zu verlegen“. Es ist aber auch zu konstatieren, dass im stationären Setting entwickelte Methoden einfach in den ambulanten Bereich übertragen werden. Es scheint mir mehr als fragwürdig, wenn die grundlegend andere Gefasstheit des ambulanten Bereiches noch nicht einmal problematisiert wird. Es sei ergänzend angemerkt: Die auf Dialog (oder besser Trialog) beruhenden Psychoseseminare, sind explizit keine Therapieversammlungen, auch wenn durchaus therapeutische Wirkungen zu beobachten sind. Dialog verlangt weitestgehend Herrschaftsfreiheit!

Risikobereitschaft – eine (wieder) neu zu entdeckende Tugend der Gemeindepsychologie

Aber wie ist das nun mit den Griechen? Auch deren Kultur war schon etwas bunter und sollte aus meiner Sicht nicht einseitig vereinnahmt werden. Aus Sicht des Praxisfeldes „Krisenintervention“ mit den hier in Krisen üblichen brüchigen Kontakten und damit einhergehend nur eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten tritt weniger der Dialog in den Vordergrund. Stattdessen liegt unser Augenmerk eher auf der Dynamik der Prozesse und deren unterschiedlichen Zeitqualitäten.

Hier haben die Griechen einen Zeitbegriff geprägt, den sie „kairos“ nannten, „des [wie Bourdieu ihn erklärt] passenden oder günstigen Augenblickes und der für Ort und Zeit treffsicheren und passenden Rede“ (Bourdieu, 1993, S. 61). Wir verdanken den Begriff den Sophisten, über die Bourdieu formuliert: „Als Rhetoriker waren sie wie geschaffen, aus der Praxis der Sprache als Strategie eine Philosophie zu machen“ (a.a.O. – Hervorhebung i. Orig.). Und in diesem Sinne verstehen wir Krisen als den kreativitätsträchtigen Abschnitt im Leben eines Menschen (auch bei psychisch beeinträchtigten Menschen!), in dem Unverhofftes, Neues geschehen kann. Uns geht es um Krisenbegleitung, nicht um Krisenverhinderung. Auch geht es uns in unserem Interventionshandeln nicht darum, die Schwächung der Abwehr zu nutzen, um irgendwelche erklärenden Konzepte dem Klienten aufzudrücken.

Ich behaupte nämlich, dass das erste Betreten der Hintertreppe oftmals von Krisenerfahrungen begleitet wird. Denn die Entscheidung, die Vordertreppe zu verlassen, macht einen hilfesuchenden Menschen zunächst einmal einsam! – Im Übrigen nicht nur die Klienten, sondern auch den professionellen Helfer, sollte dieser sich entscheiden, seinen Klienten auf seinen Hintertreppen begleiten zu wollen. Der professionelle Helfer isoliert sich dabei eventuell von den Kollegen seines Arbeitsteams etc. Und ein professioneller Helfer, der dieses Wagnis eingeht, seinem Klienten auf die Hintertreppe zu folgen, muss eigentlich zugeben, dass er sich selbst nicht mehr richtig auskennt. In der Regel sind professionelle Helfer nämlich (zunehmend) in einer verwaltenden Logik sozialisiert und nicht in einer begleitenden Logik. Und da, wo ein Profi eigentlich Unterstützung auf seinem Gang in unbekanntem Terrain bräuchte, erntet er in der Regel Kritik und Ablehnung in seinem Arbeitsteam...

Als Mitarbeiter eines Krisendienstes habe ich die Forderung des Sozialpsychiaters Klaus Dörner im Ohr: „die Krise [sei] zu verlängern und zu vertiefen, nicht zu beruhigen und abzukürzen. Seine und meine Angst ist das Material, mit dem wir gemeinsam arbeiten. Daher ist es ein Fehler, den Patienten zu beruhigen, ihm seine Angst zu nehmen – mit Worten oder Medikamenten. Medikamente nur, um ihn begegnungsfähig zu halten, wenn die Angst überwältigend ist“ (Dörner/Plog, 1996, S. 337). Der Schweizer Psychiater Ciompi beschreibt diesen Begleitungsprozess als eine Ordnung, die sich im Chaos bildet (vgl. Ciompi, 1999). Dazu muss man sich aber zunächst dem unbekannten, weil vor allem fremden Chaos stellen.

Dabei kann der professionelle Helfer auf und von den individuellen Hintertreppen seiner Klienten lernen (so jedenfalls die Hoffnung dieser Tagung). In diesem Prozess lernen wir von der Praxis und in der Praxis. Eigentlich nimmt der Entschluss des Betretens der Hintertreppe seinen Ausgang in einem Desaster: Dieser Entschluss ist deshalb nötig, weil es auf der Vordertreppe nicht mehr weiter geht. Und ein weiteres Phänomen gibt es auf der Vordertreppe: Es wird dort sehr schnell ziemlich voll. Dörner (2004) drückt dies in Bezug auf die „alternative“ ambulante Praxis so aus: „Ein riesiges ambulantes System wird … draufgesattelt – natürlich ebenfalls mit Überversorgung für viele bzw. mit nicht erforderlicher Psychiatrisierung, nicht selten auch für eher rein soziale Probleme“ (ebd., S. 41). Als ursächlich stellt er fest: „Das »Recht auf Risiko« wird eher vermieden und damit bleibt das Selbsthilfepotenzial oft unausprobiert“ (ebd., S. 40).

Ich kann also festhalten: Das ambulante System ist per se keine Hintertreppe, wenn man sich nicht kritisch mit der Vordertreppenkultur auseinandersetzt. Und als zweiten wichtigen Punkt kann man als Profi eben nicht vordertreppensozialisiert auf der Hintertreppe „rumagieren“. Es geht um eine „andere Kultur des Helfens“. Diese neu entstehende Kultur muss neben der lokalen Strukturkritik der Vordertreppe einhergehen mit einer differenzierten Selbstreflexion professioneller Helfer. Ich möchte diesen letzten Punkt mit einem Beispiel aus meiner Dissertation etwas näher erläutern.

Aufgabe der Expertenrolle

In meiner Dissertation gibt es ein Kapitel mit der Überschrift die „Aufgabe der Expertenrolle im Empowerment“. Mit dieser Überschrift mute ich dem Leser bewusst eine Irritation zu: Man kann Aufgabe in zweierlei Hinsicht verstehen. Einmal verbinden wir im Deutschen das Wort „Aufgabe“ mit dem Aufgeben. Hier gibt in meiner Lesart der professionelle Helfer seine professionelle Distanz auf, er wird zum Freund, zum Kumpel, zum Ersatz fehlender Beziehungen. Mit Krisenintervention hat das nichts zu tun und es ist bei keinem Berater in unserer Selbstbeforschung der Praxis als erfolgreiche Handlungsstrategie nachweisbar. Man wird Teil einer Leidensgemeinschaft und kommt damit häufig nirgendwo an, jedenfalls nicht im vom Klienten definierten(!) schönen Leben. Die Rollen sind fixiert, Bewegung findet nicht statt. Wenn da nicht dieses „Unbehagen“ wäre und zwar auf beiden Seiten ….

Anders die Konnotation, die den Begriff „Aufgabe“ nicht als Aufgeben, sondern als Herausforderung versteht, sich als Experte neu zu definieren, sich dem Einzelnen und seinen Ansprüchen zu stellen. Das ist eine andere Professionalität, eine andere Rolle.

Aber Vorsicht! Es gibt eigentlich noch eine dritte Art der Rollendefinition. Hier wird die Professionalität im Sinne einer Definitionsmacht eben nicht wirklich verändert, sondern lediglich zurückgestellt und deshalb könnte man sie (bei oberflächlicher Betrachtung) mit der zuvor genannten Rollendefinition verwechseln. In der Zurückstellung der Definitionsmacht wird der Klient „ertragen“, er wird ausgehalten. Manchmal schalten professionelle Helfer auch auf Ablenkungsstrategien und Tricks um: „Ach lassen Sie uns ruhig über ihre Wohnungseinrichtung unterhalten“ oder was immer sich an Themen anbietet. Im Rückgriff auf die vorhin genannte Treppendefinition verweilt man in Betrachtung der verbliebenen „Schönheit“ der Vordertreppe. Es ist eigentlich so eine Art „Aushungern“ des Klienten bis er dann eben wieder ansprechbar für die Lösungen der Profis ist. Rappaport (1985) nennt dies „wohlwollende Vernachlässigung“ (ebd., S. 268).

Sie könnten erwidern: Aber das ist doch auch „kairos“ – eben das Warten auf den rechten Augenblick. Aber lassen sie mich auf das vorhin genannte Bourdieu-Zitat zurückgreifen. Seine Definition des „kairos“ ist die Formulierung „des passenden oder günstigen Augenblickes und der für Ort und Zeit treffsicheren und passenden Rede“ (Bourdieu, 1993, S. 61 – Herv. O.N.). Bourdieu bemerkt eben die Wichtigkeit des Ortes der Ansprache. Es ist für die Wirkung einer Ansprache nicht nur wichtig wann man etwas sagt, sondern wo! Und da sind wir wieder mittendrin im Tagungsthema. Wenn man diese dritte Dimension des Ortes hinzunimmt (also was, wann und wo), ist die Frage dessen, wo wir uns als Interaktionspartner gerade definitorisch befinden, höchst wirksam. „Kairos“ ist also kein temporärer Trick, keine Belagerungstaktik, um den Widerstand der Klienten zu brechen. Sondern er beinhaltet – im Sinne Bourdieus – eine lokale Definition.

Wenn da viele um mich herum sind und wenn da viele um mich herum sind, die da schon lange sind, dann könnte es sein, dass ich mich gerade auf einer Vordertreppe befinde. Wenn sich allerdings im Sinne Dörners (s.o.) auch Angst ausbreitet, die aber in Bewegung umgesetzt wird, könnte es sein, dass mein Klient und ich uns gerade auf einer (einsamen, weil individuellen) Hintertreppe befinden. „Rappaports Regel“ drückt dies so aus: „Wenn die meisten Leute mit Dir übereinstimmen, hast Du Grund zur Sorge“ (Rappaport, 1985, S. 259).

Das Modell des „Ersatzspielers“ oder der sprachliche Kauderwelsch der „theoretisch fundierten“ Praxis

Warum ist mir das unter die Lupe nehmen des Ortes und eben dessen, wer bestimmt, was Vorder- bzw. Hintertreppe ist, so wichtig?

Die folgenden abschließenden Gedanken nehmen ihren Ausgang in einem Gespräch mit Manfred Zaumseil im Rahmen der Abschiedsparty in den Räumen Uferstraße im Berliner Bezirk Wedding. Die Uferstraße war immer Sinnbild einer Ausrichtung des Studienganges Psychologie der Freien Universität an der Gemeinde. Nicht im feinen Zehlendorf findet die Ausbildung zukünftiger Praktiker statt, sondern im runtergekommenen Wedding mit seinen vielfältigen sozialen Problemen – das war einmal …

Zurück zu diesem Gespräch: Manfred kam im Gespräch über meine Dissertation auf das Problem zu sprechen, warum ich denn einige Sozialpsychiater „seziere“ und wir kamen auf Dörner’s Konzept des „Ersatzspielers“ zu sprechen, also dass irgendwelche Spielpartner (aus welchen Gründen auch immer) wegbrechen und nun neue Partner (eben Profis) im Spiel auftauchen, mit deren Hilfe vielleicht auch neue Spielzüge erprobt werden können.

Ich denke, dass es wichtig ist, aus Sicht der Gemeindepsychologie einen kritischen Standpunkt auch gegenüber diesem gemeindepsychiatrischen Konzept einzunehmen, um die Unterschiede beider Herangehensweisen zu verdeutlichen, aber auch um eine mögliche nachhaltige Wirkung im Vorgehen differenziert beurteilen zu können.

Dörner führt diesen Ersatzspieler im Lehrbuch „Irren ist menschlich“ ein (vgl. Dörner/Plog 1996). Ganz nüchtern betrachtet benutzt Dörner zehnmal das Wort Ersatzspieler. Dörner setzt dabei den Begriff des Ersatzspielers interessanterweise zweimal in Anführungszeichen. An einer dieser Stellen heißt es: „Der professionelle Helfer tritt als „Ersatzspieler“ in ein Spiel oder Drama ein, in dem mindestens zwei der Hauptakteure sich spielunfähig gemacht haben, um für eine befristete Zeit das Spiel wieder in Gang und die Spieler so in ihre Positionen als Gegenüberstehende, als Gegner zu bringen, dass sie in Zukunft ohne mich ihr Spiel zu Ende bringen können“ (ebd., S. 217).

Beim näheren Hinsehen wird deutlich: Was er da eigentlich beschreibt, ist gar kein Ersatzspieler, sondern ein Trainer, der auf der Basis seiner Systemanalyse selbst im Spiel aktiv wird. Fällt Ihnen etwas auf? Der Klient fehlt. Seine Ziele, seine Wünsche, seine Versuche kommen gar nicht vor. Er soll ob seiner vom Profi (!) analysierten Störung behandelt werden.

Der heuristisch angelegte Begriff des Ersatzspielers macht aber noch andere Grenzen dieses allseits gegenwärtigen kausalen Modells (nach der Diagnose folgt die Behandlung) deutlich (Anmerkung O.N. zum Folgenden: Die Tagung fand während der Fußballeuropameisterschaft statt.): Ein Ersatzspieler möchte nicht zurück auf die Bank! Nein er will im Spiel bleiben, er will zeigen, dass er der „eigentliche“ Spieler ist.

Und hier nun sind wir mitten im eigenen gemeindepsychologischen Diskurs dieser verschiedenen Paradigmen, die ich bereits zu Beginn etwas pointiert zwischen „weniger und mehr“ angedeutet habe. Sie erinnern sich: weniger defizitorientiert – mehr ressourcenorientiert. Geht das eigentlich? Und muss man diese Unentschiedenheit nicht eigentlich radikal benennen? Auf der einen Seite der defizitäre Blick medizinisch-orientierten Denkens, der dann ergänzt wird durch den ressourcenorientierten Blick gemeindepsychologischer Orientierung? Pardon, aber das ist die Vordertreppe, die, da sie sich selbst als Ressource begreift, zum Verweilen geradezu einlädt. Und seien wir ehrlich, wenn wir uns den aktuellen Zustand ambulanter Projekte wie Kontakt- und Begegnungsstätten anschauen: (Ohne jemanden zu nahe treten zu wollen) Aber sind das nicht in überwiegender Mehrheit Ghettos der ambulanten Verwahrung? Und schauen Sie sich mal die Öffnungszeiten dieser „Ersatz“spieler-Konzepte an: Ist das nicht ziemlich nahe an der Lebenswelt der Mitarbeiter gebaut? Ganz unauffällig bringen die Ersatzspieler „ihr Spiel“ und ihre Regeln zum Einsatz.

Lassen Sie mich zum Ende kommen. Unter der Ersatzspieler-Überschrift kann man sehr wohl Beides subsumieren: Das von mir bezeichnete „Aufgeben“ als auch die „abwartende Behandlung“ des Klienten. Eigentlich ist das Abwarten, ebenfalls bereits ein punktuelles Aufgeben.

Ein Mitglied unserer Tagungsvorbereitungsgruppe sagte: Wir müssen uns gemeindepsychologische Begriffe wie Empowerment, Partizipation etc. zurückholen. Ich meine: Wir sollten uns die Praxis zurückholen (wenn wir diese je besessen haben). Es wird aus meiner Sicht Zeit, den Unterschied zwischen Gemeindepsychologie und Gemeindepsychiatrie (und das ist die überwiegend bestimmende Praxis, von der ich bisher redete) zu verdeutlichen. Und ich glaube, da darf und sollte man auch die alten Männer der Sozialpsychiatrie unter die Lupe nehmen – und insbesondere da, wo sie unentschieden bzw. durchaus konform mit ihrer beruflichen Ursprungssozialisation sind.

Ich habe Ihnen am Ende nochmals einige Schlagworte aus diesem Vortrag zusammengestellt. Das ist kein Konzept, wie man aus der Umklammerung eines Denkens (und Handelns), dass auf der Vordertreppe seinen Ursprung nimmt, entfliehen kann. Es will lediglich Anregungen geben und ich nenne es Netzwerk (möglicher) gemeindepsychologischer Unternehmungen. Ich hoffe, dass ich Ihnen in meinem Vortrag ein „reiz- und impulsdichtes Feld“ gegeben habe, das Sie einlädt, in Ihren Arbeitsgruppen weiterzudenken und vor allem Skepsis gegenüber präsentierten Wahrheiten aufflammen lässt.

Literatur

Aderhold, V., Alanen, Y. O., Hess, G. & Hohn, P. (Hrsg.) (2003). Psychotherapie der Psychosen. Integrative Behandlungsansätze aus Skandinavien. Gießen: Psychosozial Verlag.

Barthes, R. (1988). Das semiologische Abenteuer. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Bourdieu, P. (1993). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.

Ciompi, L. (1999). Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Dörner, K. & Plog, U. (1996). Irren ist menschlich: Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie. Bonn: Psychiatrie Verlag.

Dörner, K. (2004). Das Handeln psychosozialer Profis. Zwischen individueller Hilfeplanung und Begleitung im Lebensfeld. Soziale Psychiatrie, 2, 37-42.

Neumann, O. (2009). Chemie der Beziehung: Empowerment in der Praxis sozialpsychiatrischer Krisenintervention. Bonn: Psychiatrie Verlag (in Druck).

Rappaport, J. (1985). Ein Plädoyer für die Widersprüchlichkeit. Ein sozialpolitisches Konzept des „empowerment“ anstelle präventiver Ansätze. Verhaltentherapie und psychosoziale Praxis, 2, 257-278.

Sonneck, G. (Hrsg.) (1997). Krisenintervention und Suizidverhütung. Ein Leitfaden für den Umgang mit Menschen in Krisen. Wien: Facultas Universitätsverlag.

Weischedel, W. (2007) Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Autor

Kontaktadresse:

Olaf Neumann
Berliner Krisendienst Region Ost
Irenenstraße 21 A
D-10317 Berlin
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailo.neumann@bitte-keinen-spam-berliner-krisendienst.de


Der Autor ist Leiter des Berliner Krisendienstes Region Ost, Caritasverband für das Erzbistum Berlin e.V.



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