1-2023
1-2022
1-2021
1-2020
2-2019
1-2019
1-2018
1-2017
1-2016
2-2015
1-2015
2-2014
1-2014
1-2013
1-2012
1-2011
3-2010
2-2010
1-2010
2-2009
2-2008
1-2008
1-2007


Sie befinden sich hier: Ausgaben » 1-2009 » fg-1-2009_04

 

Wege aus psychotischen Krisen jenseits der psychiatrischen Versorgung – Gedanken zum Verhältnis von Vorder- und Hintertreppen. Aus der Schreibwerkstatt nach der Jahrestagung 2008

Sebastian Bowe, Kristina Fischer, Anja Hermann, Heinke Möller, Olaf Neumann, Rolf Ruszetzki sowie Antje Müller in den Workshop- bzw. Werkstattgesprächen
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 14 (2009), Ausgabe 1]

Vorbemerkungen zum Fahrplan unserer Schreibwerkstatt

Am Ende unseres Workshops „Über Hintertreppen zum Leben außerhalb der psychiatrischen Versorgung“ auf der Jahrestagung der GGFP 2008 vereinbaren wir TeilnehmerInnen eine Fortsetzung des Austauschs in Form einer Schreibwerkstatt. Das erste Treffen am 09.07. 2008 endet mit dem Entschluss, zunächst gemeinsam einen Bericht über unseren Workshop zu verfassen. Dabei schwebt uns vor Augen, die im Workshop vorherrschende Gesprächskultur umzusetzen, die uns bereits dort zu überraschenden Ergebnissen geführt hat.

Die Teile unseres Berichtes sind von einzelnen Mitgliedern der Schreibwerkstatt verfasst (siehe Initialen) und jeweils von den anderen gegengelesen und kommentiert worden. So entsteht jeweils ein Textbaustein, der sich aus der Diskussion des Workshops bzw. in der Schreibwerkstatt und den Rückmeldungen der MitautorInnen speist, die Verantwortung aber bei den InitiativautorInnen belässt.

Gerade wenn sich in der Rezeption fremder Textbausteine Fragen auftun und die Rückmeldungen an den/die Ursprungsautor/in keine aus der eigenen Sicht tiefgreifenden Veränderungen des Ursprungstextes bewirken, ist es das Mittel der Wahl, einen eigenen Textbaustein beizusteuern und somit (auch) für die LeserInnen das dialogische Spannungsverhältnis eines Themas zu verdeutlichen. Divergenzen werden nicht harmonisiert, doch konsensuelle Bereiche können sich ausbreiten.

Einleitung – zu Konzeption und Verlauf des Workshops (A.H. & O.N.)

In dem Workshop verfolgten wir als Moderator/in die Idee, Hintertreppen in der psychiatrischen Versorgung, die wir selbst betreten haben, zur Diskussion zu stellen, d.h. sie gemeinsam zu untersuchen und damit Impulse hinein in die breiten, ausgetretenen Pfade der „Standardversorgung“ (die Vordertreppen) zu geben. Damit bettete sich unser Anliegen in das Tagungsthema „Vom schönen Leben. Hintertreppen für Sinnstiftung und Anerkennung“ ein.

Zu Beginn des Workshops rekonstruierten wir jeweils mit einem Freund dialogisch eine Hintertreppen-Erfahrung im Umgang mit psychotischen Ausnahmezuständen.

Die WorkshopteilnehmerInnen fragten nach, erzählten ihre eigenen Erfahrungen und wurden gebeten, ihre Gedanken zu den Geschichten auf Kärtchen festzuhalten. Diese Kärtchen wurden am Ende des ersten Tages auf der realen Hintertreppe des Tagungsortes den TeilnehmerInnen der anderen Workshops vorgestellt.

Am zweiten Tag wollten wir von unserer Leitungsrolle im Workshop zurücktreten und uns ganz in das gemeinsame Weiterdenken mit den WorkshopteilnehmerInnen begeben. Im Vorfeld wussten wir, dass sich Professionelle aus der psychosozialen Versorgung, Betroffene, Angehörige, Hochschuldozenten und Studierende angemeldet hatten, und wir gingen von viel Kreativität in unserem Kreis aus. Die Kärtchen sollten die Klammer zwischen den beiden Tagen bilden und Anregungen für das Untersuchungsthema in den zweiten Tag hinein geben.

Der zweite Tag verlief anders, als wir uns das gedacht hatten, aber gehen wir der Reihenfolge nach vor und geben Ihnen Einblick in die erzählten Geschichten:

Ein psychoseerfahrener Besucher einer Kontakt- und Beratungsstelle und eine Praktikantin im Psychologiestudium werden zu Freunden, die Ähnlichkeit und Differenz im Auge behalten wollen (A.H.)

Ich erzählte die Geschichte einer wachsenden Freundschaft mit Rolf Ruszetzki, die 1993 zwischen ihm als Besucher einer Kontakt- und Beratungsstelle und mir, einer Psychologiestudentin im Praktikum beginnt, die im Weddinger Psychoseseminar und in verschiedenen Universitätszusammenhängen Fortsetzung findet sowie auf vielen Spaziergängen, bei wechselseitigen Besuchen, beim gemeinsamen Fahrradfahren und auf Geburtstagsfeiern. Wir begegneten uns in den vergangenen 15 Jahren als chronisch psychisch kranker Besucher und Psychologiestudentin, als Handwerker und Praktikantin, als Forschende und Mitforscher, als psychoseerfahrener Experte und lernende Professionelle, als Autorin und Autor. Im Kontext psychosozialer Versorgung und in der universitären Psychologieausbildung, in unserem Lebensalltag und in psychischen Grenzsituationen haben wir viel voneinander gelernt und uns aneinander gerieben. Und das wollte ich gern mit Rolf zusammen im Workshop rekonstruieren.

Die „Psychoseerfahrung“ markiert die Grenze zwischen Rolf und mir.

Unsere Freundschaft wird m.E. getragen vom Ringen um Aufmerksamkeit für die Wege des/der Anderen: „Wann zeigst Du Dich wieder?“ „Warum lebst Du so ungesund und treibst keinen Sport?“ „Man könnte sich gesünder ernähren.“ Sie basiert auf dem, was wir teilen können. Sie basiert damit auch auf geteilten Grenzerfahrungen: Wie weit kann ich Rolf in psychischen Ausnahmezuständen folgen, was rückmelden, wie den Kontakt auch in Kliniken oder bei seinen Reisen aufrechterhalten, ohne mein (Familien-)Leben zu stark zu beschneiden?

Was ich von Rolf gelernt habe: Ich bin nicht psychoseerfahren, sondern bringe andere Lebenserfahrungen mit. Ich kämpfe – auch innerlich – um eine Achtung aller mitgebrachten Erfahrungen, meiner wie seiner. Ich suche in Rolf einen Freund, der auch nach mir schaut und meine Krisen aushält, oder mir deutlich macht, inwieweit er das kann.

Uns werden andere gesellschaftliche Plätze zugeordnet: Auf der Vordertreppe, z.B. im Gespräch mit der Rolf behandelnden Oberärztin in der Psychiatrie, werde ich als an der Universität tätige Psychologin angesprochen. Die gesellschaftlich zugewiesenen Plätze fließen auch in unsere Suche nach Möglichkeiten gemeinsamer Wegstrecken ein: Ein berenteter Psychoseerfahrener soll versorgt, unauffällig und bescheiden leben und sich mit der Gestaltung von Freizeit beschäftigen oder er soll sich bereit zeigen, seine Rente noch einmal aufzugeben, um zu arbeiten. Was will er zu universitären oder gesundheitspolitischen Diskursen beitragen?

Eine an der Universität tätige Wissenschaftlerin soll sich nicht in den Untiefen des Lebensalltags verlieren, Freizeit ist eng bemessen. Wo können wir uns mit unseren Interessen und unserem Gestaltungswillen treffen?

Mit welchen Fragen wir immer wieder beschäftigt sind: Wann adressiert Rolf mich als Psychologin, wann ich ihn als Psychoseerfahrenen? Was ist ausschlaggebend in einer Krisensituation? Können wir mit unseren verschiedenen Rollen jonglieren? Ist nicht allein diese Vermischung von Rollen und Lebenswelten Hintertreppenpsychologie? Warum bedeutet sie für mich das Basteln am schönen Leben?

In der Vorbereitung zum Workshop rekonstruierten Rolf und ich auf Spaziergängen den Weg, den wir gemeinsam zurückgelegt haben.

Rolf schickte mir auch folgende Forschungsergebnisse (siehe Abb. 1) zu seiner Person mit der Bitte sie im Workshop auszuhängen. Ich druckte ein Plakat, auf dem unter der Überschrift „Alltäglichkeit des Wahnsinns“ ein Auszug aus dem Buch „Schizophrenie in der Moderne – Modernisierung der Schizophrenie“ (Zaumseil & Leferink, 1997, S. 102f) zu lesen war: die Forschungsergebnisse über Herrn Koch = Herrn Ruszetzki.

 

DIE ALLTÄGLICHKEIT DES WAHNSINNS

Herr Koch, ein Mann Ende 40, seit 24 Jahren psychisch krank und seit geraumer Zeit berentet, wohnt „am Ende einer Sackgasse, hinter der gleich der Friedhof anfängt“ – woraus Herr Koch einen Scherz zu machen weiß (der dann doch bitterer ist, als er sich im Gespräch anhört). Herr Koch hat im Nachkriegsdeutschland eine unglückliche Kindheit in einer südwestdeutschen Kleinstadt verlebt. Er ist mit Anfang 20 nach Berlin gezogen, weil man sich „in dieser Stadt so leicht orientieren konnte, ohne jemand nach dem Weg fragen zu müssen“. Das war für Herrn Koch in gewisser Weise Freiheit. Das Manko seines Lebens sieht er darin, dass er nie eine richtige Partnerin gefunden hat.
Herr Koch sagt, er „vertut“ seine Zeit. Der ganze Tag steht ihm zwar zu Verfügung: Er ist Naturliebhaber und würde lieber Wandern oder Fahrradtouren unternehmen. Aber er schafft es nicht, aus seiner Wohnung raus zu kommen. „Und dann hab ich Freitag einjekauft. Ja dann schließ ich, wenn ich nach Hause komme, dann schließ ich die Tür erst Montagmittag wieder auf – und hocke die janze Zeit hier zuhause und bin unzufrieden. Und schaff es nich rauszukommen, ja, vergammle hier so richtig, ja! Dann hab ich das Gefühl, der Tach war irgendwie Scheiße, dann kann ich wenigstens noch was Schönes im Fernsehen sehen.“ Die Tage gleiten ihm durch die Finger, die verbrachte Zeit ist tote Zeit. Herr Koch geht am späten Nachmittag, nachdem er gefrühstückt hat, in den Supermarkt und kauft sich Fertiggerichte, obwohl er zwei Zimmer zur Verfügung hat, nutzt er nur eine Ecke des einen Zimmers, hier steht ein Stuhl vor einem Tisch, an dem Herr Koch sitzt und isst, und direkt hinter diesem Tisch ist der Fernseher positioniert. Das Leben schrumpft auf Schlafen und Fernsehen zusammen. Am schlimmsten sind die Wochenenden im Sommer. „Da sind halt DIE ANDEREN irgendwie – die gehen halt spazieren – mit Familie oder Partner, und – und ich kann damit nicht soviel anfangen, mir macht ´s irgendwie Schwierigkeiten. Dann denke ich irgendwie, jetzt iss Schönwetter, du musst raus. Das eine ist, dass ich das nicht schaffe, das zeitlich so vernünftig auf die Reihe zu kriegen, und zum andern dann auch, dann sag ich mir, ach, lohnt sich ja sowieso nicht.“ Herr Koch schämt sich „so“, wie er aussieht, an die Öffentlichkeit zu treten. Die fettigen Haare, die ungewaschenen Klamotten, nichts richtiges zum Anziehen, „das Fahrrad ist platt nun schon die zweite Woche“ und „die Papiere sind nicht geordnet“ – alles Gründe, um das Haus besser nicht zu verlassen. „Ich habe das Gefühl, dass ich wenig Zeit habe.“ „Ich sitz dann im Sessel und denke, Mensch du musst doch eigentlich die Blumen gießen und – ja und eh fff - ich zöger’ das dann raus, und irgendwie iss alles `ne Last für mich...“ Herr Koch leidet unter dauernder Müdigkeit, Kopfschmerzen, Lust- und Energielosigkeit. Wenn Herr Koch merkt, dass es mit der Psychose wieder los geht – er kennt sehr genau die charakteristischen Veränderungen des Bedeutungserlebens – setzt er sich in den Zug und fährt nach Westdeutschland. In irgendeiner Stadt steigt er aus und provoziert eine Klinikeinweisung. Dies ist seine Form der Bewältigung. Er will die Psychose möglichst weit weg von seinem Wohnort durchmachen.

Das Beispiel von Herrn Koch zeigt auch, dass der geschilderte Zustand kein unabänderliches Schicksal ist. Vier Jahre nach dem ersten Interview hat Herr Koch, u.a. dank einer psychosozialen Initiative, versucht, sein Leben neu in die Hand zu nehmen. Er ist nun ein sehr engagiertes Mitglied einer Theatergruppe, seine Kopfschmerzen und die Müdigkeit sind weitgehend verschwunden und von seinem Wunsch, eine „Frau fürs Leben“ zu finden, hat er sich nicht abbringen lassen.

Abbildung 1: Plakat Herr Koch


Auf einem weiteren Plakat waren Fotos aus Rolfs Geschichte und von seinen aktuellen Fahrradtouren zu sehen. Darauf war auch ich zu sehen vor unserem Wochenendgrundstück, wohin Rolf manchmal radelt – eine neue Verbindung.

Meine Geschichte mit meinem sächsischen Freund – (O.N.)

Eigentlich ist der Titel irreführend. Die Geschichte mit meinem Freund ist viel umfassender und facettenreicher und die den WorkshopteilnehmerInnen berichtete (Kurz)Geschichte ist eine knapp dreiwöchige Episode mit meinem Freund, seiner Lebensgefährtin und seiner damals 16-jährigen Tochter, die sich – von einem Schüleraustausch aus Lettland rückgeführt – in einem psychotischen Schub befand. Als Nebenfiguren in diesem Drama wirkten mit: mein gerade gekauftes Haus am nördlichen Rande von Berlin, indem es eine freie obere Etage gab; hilflose Psychiater, die allein medikamentös den psychotischen Schub unterbrechen wollten; eine Kindesmutter mit eigenen Psychiatrieerfahrungen; ein sich therapeutisch (griech. Therápon: „Diener, Gefährte“) nennendes Hilfesystem, dass auf unauffällig-auffällige Weise dauerhaft abhängige Patienten formt.


S.B.: Kurzgeschichten haben überraschende Pointen: Wir ZuhörerInnen im Workshop dachten zunächst (und die LeserInnen von O.N.s niedergeschriebener Kurzgeschichte werden verführt zu denken), der Erfolg der Hintertreppe, die O.N. und sein Freund betreten haben, wird daran gemessen, ob die Tochter seines Freundes ohne jegliche Hilfe auf der Vordertreppe die Psychose durchsteht. Am Ende gelangten wir zu einer überraschenden Wendung: Der Versuch war das Entscheidende!

O.N.: Die Geschichte, die wir im Workshop erzählen wollten, war aus unserer Sicht die Initialgeschichte einer auf Beziehung beruhenden engen psychotischen Krisenbegleitung einer jungen Frau durch ihren Vater und dessen Lebensgefährtin. Ein professioneller Helfer sieht sich darin als Begleiter von Angehörigen, um einerseits Impulse im Begleitungsprozess zu geben, den psychiatrischen Notfall (Selbst- und Fremdgefährdung) im Blick zu haben, kontinuierlich Reflektionsfläche zu bieten (hier: abends am Feuer) und nicht den Kontakt zur Betroffenen an sich zu reißen. Die Angehörigen machen die eigentliche Arbeit, ihr (wenn auch belasteter) Kontakt ist zu nutzen. Innerhalb solcher Krisenzeiten besteht die Chance, dass dieser Kontakt sich im guten Sinne verändert und für Wachstum und Reifung als Nährboden dient. Mein Freund und ich haben bewusst vor dem Workshop die Geschichte nicht „vorbesprochen“. Wir wollten die Geschichte vor den Workshopteilnehmern rekonstruieren, damit unterschiedliche Blicke auf den Prozess deutlicher hervortreten konnten und (vielleicht) das „Eigentliche“ sichtbar wurde.

Was von den zwei Geschichten „abgehängt“ wurde – die Kärtchen

Die Karteikarten, auf denen alle TeilnehmerInnen des Workshops Gedanken zu den Geschichten dokumentiert hatten, wurden auf der Hintertreppe den TagungsteilnehmerInnen aus den anderen Workshops vorgestellt.

 

 

Abbildung 2: Beim Anbringen unserer Karteikarten auf der Hintertreppe
Abbildung 3: Die Präsentation unseres Workshops auf der Hintertreppe

In der Schreibwerkstatt haben wir die Karteikarten diskutiert und Heinke Möller hat uns mit folgenden Gruppierungsvorschlag überzeugt und angeregt:

 

Abbildung 4: Unser Baum der Erkenntnis

Der zweite Tag des Workshops nahm eine lebendige Wendung, als der Freund Olaf Neumanns gefragt wurde, warum er seine Tochter nicht wieder mitgenommen hat, als sie nach den Wochen der Begleitung in Olafs Privathaus dann doch verlangte in die Psychiatrie gebracht zu werden, dort angekommen aber doch lieber nicht dort bleiben, sondern mit ihrem Vater wieder abreisen wollte. Der Vater sagte, dass er nicht mehr konnte, sondern nun selbst eine Auszeit brauchte. Wir dachten gemeinsam darüber nach, was es bedeutet, dass die Intensität einer Psychoseerfahrung Einzelne an ihre Grenze bringt.

Vor diesem Hintergrund ist der Baumstamm der Abbildung 4 einzuordnen. Den Baumstamm unseres Baumes bildet die Frage „Was ist Professionalität?“. Und in der Schreibwerkstatt führte uns diese Frage immer wieder zu den Vorder- und Hintertreppen der Psychologieausbildung an der Universität, was in den folgenden zwei Abschnitten nachzulesen ist:

stairway to heaven or stairway to nowhere
Oder: Vordertreppen, Hintertreppen – und ein Treppenwitz? (S.B., diskutiert und geschrieben mit K.F.)

Der Workshop war für mich (S.B.), aus der Sicht eines werdenden Psychologen, sehr vieles: Er war ermutigend, irritierend, lehrreich, intensiv, bewegend und vor allem eines: spannend. Der Ermutigung und der Irritation möchte ich mich in diesem Text weiter annähern. Ermutigend war es für mich die unterschiedlichen Geschichten von Versuchen und Erlebnissen zu hören, die sich darum drehten, was Hilfe in einer psychotischen Krise bedeuten kann. Es war ermutigend zu hören, wie viel Ungewissheit bei diesen Versuchen, Hintertreppen zu beschreiten, ausgehalten wurde. Gleichzeitig schien mir diese Ungewissheit ein unausweichlicher Bestandteil der Hintertreppen zu sein.


Überlegen Sie:  
Gibt es auf den Vordertreppen (d.h. in der Standardversorgung) auch Ungewissheit? Wenn ja, wie könnte sie aussehen? Wenn nein: warum nicht?

 

Es war aber vor allem ermutigend zu sehen, dass es sinnvoll erscheinende Wege und Perspektiven im Umgang mit psychotischen Krisen gibt, über die ich sagen kann, dass ich sie mir zu Eigen machen möchte. Eine Perspektive, die sich mir im Studium kaum bot, und wenn, dann außerhalb des Mainstream der Psychologie. Und da bin ich dann schon mitten in den Irritationen, die der Workshop nicht verursachte, sondern in besonders intensiver Weise wieder in mein Bewusstsein drängte: Irritationen die mich seit Beginn meines Studiums begleitet haben. Sie betreffen einerseits den Workshop, andererseits das Studium. Der Workshop irritierte, weil die Geschichten, die erzählt wurden nach dem Absolvieren eines Mainstream-Psychologiestudiums nur dann denkbar sind, wenn man auf besondere Weise resistent gegen die dort vorherrschende Denkweise ist. Die Geschichten widersprechen den professionellen Rollen, die das Studium bietet, die Akteure der Erzählungen widersprechen den Typen und Kategorien, die das Menschenbild der Mainstream-Psychologie für sie bereithält: die des Experten und die des Hilfe suchenden psychisch Gestörten. Dass überhaupt (Lebens-)Geschichten erzählt werden, ist ein ungewohntes Erlebnis, vor allem aber, dass tatsächliche Akteure präsent sind.

Was mich daran am meisten beunruhigte, war, dass ich, obwohl ich einen beträchtlichen Teil meines Studiums außerhalb des Mainstreams absolviert habe, wohl kaum auf die Idee gekommen wäre, so zu handeln, wie es in den Geschichten geschehen ist. Wäre ich doch darauf gekommen, hätte ich mir wohl gesagt: „Schöne Idee, aber vergiss es!“

Diese Irritationen verdichten sich immer mehr zu dem Gefühl, dass im Studium nicht nur etwas „fehlt“, sondern dass die vermittelten Denkweisen in vielen Fällen hinderlich dabei sind, Menschen in Krisen zu helfen. Dieses Gefühl gipfelt in Fassungslosigkeit, wenn ich die Veränderungen in der Hochschullandschaft in Betracht ziehe und mir ihre Konsequenzen für die Zukunft des Faches Psychologie vergegenwärtige. Die ohnehin nur marginalen Stimmen, seien sie aus der Gemeindepsychologie, der Kulturpsychologie oder dem breiten Spektrum kritischer Psychologie, sind im Begriff völlig aus der akademischen Landschaft zu verschwinden.

Von dieser Entwicklung ausgehend möchte ich meine Reflexion über die Hintertreppen und die Affinität der Vordertreppen mit einem naturwissenschaftlich geprägten Psychologiestudium vornehmen. Wenn ich von Vorder- und von Hintertreppen spreche, beziehe ich mich auf Wege, die Professionelle, Betroffene und Angehörige inner- und außerhalb der psychiatrischen Versorgung beschreiten. Die Vordertreppen sind die üblichen, institutionalisierten und professionell tradierten und legitimierten Handlungs- und Entscheidungsabfolgen, die z.B. im Falle einer psychotischen Krise seitens der Beteiligten in die Wege geleitet und verfolgt werden – evidence based! Hintertreppen sind im Gegensatz dazu der Versuch, „eigene Wege“ durch die psychiatrische Versorgungslandschaft zu finden, wie geschildert in den vielen Geschichten in unserem Workshop. Dieses „Eigene“ scheint mir eine Eigenschaft der Hintertreppen zu sein.

Im Abschnitt „Vor der Treppe – Vordertreppe“ geht es um das Psychologiestudium, das meines Erachtens immer stärker durch ein Vordertreppendenken geprägt ist und somit den Nährboden schafft für das Vordertreppenverhalten vieler PsychologInnen. Im Abschnitt „Die Mainstream-Psychologie: ein Treppenwitz?“ stelle ich mir die Frage, ob das Studium eher hilfreich oder doch hinderlich ist, wenn man in der psychiatrischen Versorgung arbeiten möchte. In „Hinter der Treppe – Hintertreppe“ werfe ich einen Blick in meine berufliche Zukunft und frage mich, welche Rolle Hintertreppen in ihr spielen werden.

Vor der Treppe – Vordertreppe

„Vor der Treppe“ bezeichnet meinen berufsbiographischen Standpunkt vor dem Eintritt ins Arbeitsleben (evtl. in der psychiatrischen Versorgung) mit einem (fast) vollendeten Studium der Psychologie. Und von diesem Studium soll hier die Rede sein. Und zwar geht es dabei um die Frage: Was geschieht vor der Treppe, also bevor die Psychologiestudierenden die Treppe des psychosozialen / psychotherapeutischen / psychiatrischen Tätigkeitsfeldes langsam hinauf (oder hinab?!) steigen? Was geschieht an den Universitäten, dass allein das Sprechen über die Hintertreppen – wie im Workshop – zu einer Irritation bei mir führen kann, obwohl ich bereits mein Studium auf den akademischen Hintertreppen der Psychologie verbrachte? Ich will von meinem Studium ausgehend reflektieren, was mich dazu gebracht hat, mich mit Hintertreppen in der psychiatrischen Versorgung zu beschäftigen. Mein Studium war bestimmt von vielstimmiger Kritik am psychologischen Mainstream; Stimmen, die, zu dieser Zeit ohnehin schon selten, jetzt an den Universitäten völlig verstummen. In Abgrenzung zu meinen Erfahrungen lässt sich vielleicht verstehen, was den meisten Psychologiestudierenden „vor der Treppe“ widerfährt, welche Erfahrungen ihnen im Rahmen des Studiums ermöglicht werden und, vor allem, welche nicht. Die Theorien, die Gesprächskultur und der Aufbau des Mainstream-Studiums führen, so argumentiere ich in diesem Abschnitt, mit größter Wahrscheinlichkeit an das Geländer der „Vordertreppe“.

 

Hintergrundwissen Aufbau des Psychologiestudiums
Generell wird zunächst ein umfangreicher Überblick über die verschiedenen Theorien vermittelt und erst dann folgt während des Praktikums im Hauptstudium ein Blick in die berufliche Praxis, was in der Regel auf einen „Praxis-Schock“ hinausläuft (ein lähmendes Gefühl mit all der erlernten Theorie gar nichts anfangen zu können), der jedoch im universitären Rahmen kaum genauer besprochen wird. Laut Diplomstudienordnung ist schon im dritten Semester des Grundstudiums eine so genannte „Berufserkundung“ vorgesehen, um den Studierenden „Einblicke und realistische Vorstellungen in unterschiedliche Tätigkeitsfelder von Diplom-Psychologen“ zu gewähren und sie anzuregen, sich mit „den Aufgaben, institutionellen Bedingungen und theoretischen Grundlagen dieser Tätigkeitsfelder sowie mit der beruflichen Sozialisation der Psychologen auseinander zu setzen“. Dafür wird vorgeschlagen, in der Praxis tätige PsychologInnen in entsprechende Veranstaltungen einzuladen oder Exkursionen in verschiedene Institutionen vorzunehmen. Bedauerlich ist es, dass es sich aus Kapazitätsgründen hierbei nicht nur um keine Pflichtveranstaltung handelt, sondern diese „Berufserkundung“ schlichtweg („derzeit“) nicht angeboten wird (vgl. Diplom-Studienordnung Psychologie der FU Berlin, §12, Abs. 9). Auf den Versuch einer Sicherung und Förderung des Praxisbezugs der Studieninhalte im Grundstudium wird stillschweigend verzichtet.

Eine universitäre Hintertreppe stellte bis zum Frühjahr 2008 das Projekt Psychosoziale Beratung in der Uferstraße dar, das einen Raum bot, in dem nicht nur das Konzept der in der Studienordnung vorgeschlagenen Berufserkundung umgesetzt wurde, sondern dieses auch mit einer intensiven Praktikumsbetreuung in Form von Supervision und Colloquium verbunden wurde.

Überlegen Sie: Wie kann es sein, dass die Studierenden im Hauptstudium ein solches Angebot als Luxus empfanden?

Ausblick: In der Bachelor-Studienordnung ist von solch einer Berufserkundung nicht einmal mehr die Rede. Es ist lediglich ein „Studienbereich allgemeine Berufsvorbereitung“ vorgesehen, der den Erwerb verschiedener Berufskompetenzen sichern soll (worunter hauptsächlich die „sichere Anwendung diagnostischer Verfahren“ verstanden wird) und ein im Gegensatz zum Diplomstudiengang um die Hälfte reduziertes berufsbezogenes Praktikum beinhaltet. Praktikumsbegleitende Colloquien oder Supervisionen, die schon im Diplomstudiengang während des Hauptstudiums ein Sonderangebot waren, sind zukünftig in der Ausbildung der Bachelor-PsychologInnen nicht mehr vorgesehen.

 

„Vor der Treppe“ gibt es also fast ausschließlich „Vordertreppe“, oder mit anderen Worten: Es gibt kaum eine Möglichkeit vom Vordertreppendenken unbeeinflusst zu bleiben. Meines Erachtens drückt sich dieser Einfluss vor allem in der Expertenrolle aus, die PsychologInnen, in Anbetracht der Entwicklungen in der akademischen Psychologie, zu übernehmen geradezu verdammt sind.

Wir haben uns im Schreibprozess dazu entschieden, „die Expertenrolle“ als Hauptübel ins Zentrum der Argumentation zu rücken. Dabei habe ich mich immer wieder gefragt: Aber ich BIN doch ein Experte, wieso kann diese Rolle also für mich zum Problem werden? In der Auseinandersetzung kam ich zu dem Schluss, dass es vor allem zwei Aspekte sind, die die von uns kritisierte Expertenrolle ausmachen: 1. die Rolle wird so verstanden, dass man sich als Experte für das Wohlergehen, die Bedürfnisse, die Probleme und Krisen seines Gegenüber versteht, und 2. die Rolle wird unabhängig von Situationen und Inhalten beansprucht und ein Verlassen des Expertenstatus wird einem Verlassen der professionellen Rolle gleichgesetzt. Trete ich nicht als Experte auf, mache ich mich angreifbar und gefährde meine professionelle Legitimation.

 

Tipp
Wenn Sie unsicher sind, lassen Sie es sich nicht anmerken. Tun Sie einfach so, als wüssten Sie Bescheid! Lassen Sie ein paar Namen fallen (? Technik des „Name-Dropping“) und erwähnen Sie Begriffe einer Theorie oder eines Konzeptes. Es wird kaum auffallen, dass Sie überhaupt keine Ahnung haben, was Sie tun.

Doch warum verhilft einem das Studium dazu, sich diese unreflektierte Expertenrolle anzueignen? Die Erklärung findet sich unter anderem in dem recht banalen Grund, dass im Studium kaum Auseinandersetzungen mit der eigenen wissenschaftlichen und beruflichen Identität geführt werden. Die Rolle ist also nicht Resultat einer ausführlichen Auseinandersetzung, an deren Ende die Rollenübernahme steht, sondern das Resultat mangelnder Reflexion. Sie bildet sich kaum merklich aus und meines Erachtens tragen einige Aspekte des Studiums entscheidend dazu bei.

Die größten Schwierigkeiten beim Schreiben bereitet mir der Versuch, nicht nur abstrakt die „ursächlichen Bedingungen“ des Studiums zu erörtern, sondern genauso die unbedeutend erscheinenden alltäglichen Momente der Herstellung der Rolle durch die Studierenden selbst und deren persönliches und professionelles Umfeld in Betracht zu ziehen. Einen solchen Moment möchte ich an Hand eines alltäglichen Dialogs mit einem Psychologiestudenten illustrieren:


„Und, was studierst du?“
„Psychologie.“
„Oha, da muss ich jetzt aber aufpassen, was ich sage!“


Ich erkenne in dieser Situation einige Punkte wieder, die hier relevant sind: Erstens, dass meine Anwesenheit durch die Erwähnung meines Studienfaches in irgendeiner Form als Bedrohung empfunden werden kann. Zweitens wird in dieser Situation die Rolle des Experten in gewisser Weise an mich herangetragen, als sei ich aufgrund meiner Ausbildung jemand, der mehr über mein Gegenüber weiß, als ihr oder ihm lieb ist.

Doch dieses Bild kommt nicht von ungefähr, es ist kein Bild, dass die Psychologie nur ungerechter Weise auf sich zieht, sondern das sie sich über die Jahrzehnte hart erkämpft hat, getrieben von dem Willen, die einzige Wissenschaft zu sein, die tatsächliches Wissen über das Erleben und Verhalten des Menschen „entdecken“ kann.


Merke
Stimulus: Theorie-Praxis-Kluft im Studium >> Organismusvariable: Unsicherheit in der Praxis bei fehlendem Raum zur Reflexion >> Reaktion: Übernahme der Expertenrolle >> Konsequenz: Vordertreppe

Ich möchte weniger über den naturwissenschaftlich-quantitativen Mainstream der Psychologie, deren Kritik hier im Zentrum stehen soll, schreiben, sondern über die anderen Stimmen, die mich in meiner Rolle als Experte verunsicherten und sie somit überhaupt einer Reflexion zugänglich machten. All die Veranstaltungen, die hier genannt werden, waren in meinem Studium bereits universitäre Hintertreppen, die schon wacklig waren. Heute sind sie fast alle eingerissen.

Die ersten Semester meines Studiums waren geprägt von großem Durcheinander. Nicht unbedingt von meinem eigenen Durcheinander, sondern vom theoretischen Durcheinander an der Universität. Jeder Professor hatte seine ganz eigenen Vorstellungen davon, was wahr und was falsch ist. Das passte nicht zu meiner diffusen Idee, die ich ins Studium mitbrachte, dass ich ja nun „DIE Wissenschaft vom Menschen“ erlernen würde, also eine wohl ganz normale Alltagsvorstellung darüber, was die Psychologie ist. Nicht besonders reflektiert und nicht besonders präsent, aber einfach da. Die Vielfalt war bunt und auch teilweise interessant, allerdings schien sie mir eine Schwäche des Faches oder der Freien Universität Berlin zu sein, ein heilloses Durcheinander. Ich wunderte mich über die vorgestellten Theorien, ihre Widersprüche untereinander und dass irgendwie kein Zusammenhang erkennbar war. Am meisten aber wunderte mich, dass kaum ein Seminar, trotz meines großen Willens, das menschliche Leben zu verstehen, meine Leidenschaft oder doch zumindest ein anhaltendes Interesse entfachte. Als ersten Anker in diesem Chaos erwählte ich mir die Biologische Psychologie, da mir hier die harten Fakten, also doch wohl noch am ehesten die richtigen Antworten, zu liegen schienen. Erst als ich vom Sozialen Konstruktionismus hörte, von Foucault, von der Postmoderne, der Narrativen Psychologie und der Kulturpsychologie, drehte sich langsam mein Verständnis von der Psychologie um: Es geht ja gar nicht darum die einzig wahren Antworten zu geben, es geht ja gar nicht darum in einem linearen Wissenschaftsprozess nach und nach alle Puzzleteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Viel wichtiger ist es, unterschiedliche Beschreibungen von der Welt und vom Menschen zuzulassen, ihre Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen; die kulturelle Eingebettetheit des Menschen zu verstehen, den Gebrauch von Sprache, die Normen und die Macht zu reflektieren, die in unserer Sprache und in unseren Theorien stecken. Es geht immer darum, der eigenen Perspektivität auf die Schliche zu kommen, es geht in gewisser Weise darum, „nicht zu wissen“.


Fallbeispiel Von der Expertenrolle betroffen
A. H., Dozentin
„Ich habe mehrere Jahre gebraucht, bis ich als Dozentin die innere Sicherheit entwickelt hatte, vor versammelter Menge zu sagen: Ich weiß es nicht.“

Aus dieser Perspektive erscheint die Vielstimmigkeit der Psychologie im Grundstudium in einem anderen Licht. Ich bin sehr dankbar dafür, aber ich will sie nicht besser erscheinen lassen, als sie war. Sie war meines Erachtens in weiten Teilen sehr unproduktiv und eingefahren, bestand also aus vielen Stimmen, die sich nicht hörten, jedoch trug sie dazu bei, mein Misstrauen gegenüber der EINEN Perspektive zu nähren. Das anfänglich verspürte Unbehagen an der Psychologie begann schärfer zu werden, es wurde mir möglich, es immer genauer zu benennen.

Im Hauptstudium war es zunächst ein Seminar bei Anja Hermann über „Qualitative Methoden“, welches mir mein Vertrauen in sinnvolle psychologische Forschung zurückgab. Umso frustrierender ist es aber seitdem festzustellen, dass für qualitative Forschung in der Mainstream-Psychologie kein Platz ist. Dann waren es die gemeindepsychologischen Veranstaltungen im Rahmen des PSB-Projektes in der Uferstraße, die mir neue Perspektiven boten - endlich auch mal mit einem Bezug zu meinem eigenen Leben. Hier wurde die Erkenntnis geradezu unausweichlich, dass das Berufsleben nicht nur von den Therapeutischen Ansätzen bestimmt sein würde, sondern auch entscheidend durch die komplexen Bedingungen der psychiatrischen Versorgung und des Gesundheitssystems. Ebenso unausweichlich wurde die Einsicht im Psychoseseminar, dass Beziehungen (und zwar zwischen Menschen und nicht zwischen Variablen) eine entscheidende Rolle im „therapeutischen Miteinander“ spielen.


Beispiel Gesprächskultur
  1. Klassisch: Die Psychopathologie - Vorlesung
    Wie aus dem Namen schon hervorgeht, wird in dieser Vorlesung, in der sich die Studierenden (Experten-)Wissen über psychopathologische Diagnosen und Befunde aneignen sollen, ein Fall vorgestellt. Der Fall ist in diesem Falle ein meist aktuell stationierter Patient der entsprechenden Psychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik, der sich bereit erklärt hat, bei der Veranstaltung in einem Gespräch mit dem Vortragenden über sich selbst, seine Krankheitsgeschichte und aktuelle Befindlichkeiten zu berichten. Anschließend beantwortet er gegebenenfalls Fragen von den Studierenden und verlässt daraufhin den Vorlesungssaal. Nun sind die Studierenden gefragt: Sie dürfen sich als ExpertInnen üben, indem sie Auffälligkeiten benennen und Vermutungen über mögliche Diagnosen äußern. Der Fall-Vortragende bietet weitere Zusatzinformationen über durchgeführte Diagnostik und Interventionsmaßnahmen an und hält natürlich schon die richtige Lösung bereit, die er an Hand schlagkräftiger ICD-10 Kriterien zu untermauern weiß. All dies und der weitere Austausch über die Krankheit, die durch das Fallbeispiel repräsentiert wurde, und über deren Behandlung und Prognose finden ohne Anwesenheit des Patienten statt.
    Ziel der Lehrveranstaltung ist es, laut Vorlesungsverzeichnis „die psychiatrische Untersuchungstechnik zu erlernen und einen aktuellen Überblick der psychiatrischen Störungen und deren modernen Therapiemöglichkeiten“ zu bekommen. Die Patienten der Uni-Klinik werden in dieser Form des Lehrens bestenfalls als Veranschaulichung herangezogen, ihre Rolle ist klar definiert. Sie sind die Patienten, die vortragende Person (meist behandelnde/r Psychiater/in) ist der Experte/ die Expertin und auch die Studierenden finden sich auf der Seite der (zukünftigen) ExpertInnen wieder. Neben dem „Expertenwissen“ erlernen die Studierenden jedoch noch eine weitere wichtige Sache, die allerdings nicht thematisiert wird: „Über den Betroffenen sprechen“ als Gesprächskultur.

    Überlegen Sie: Mögen Sie es, wenn über Sie in der dritten Person gesprochen wird? Wie würden Sie sich da fühlen? Was würden Sie sich wünschen?

  2. Eine ehemalige universitäre Hintertreppe: Das Psychose-Seminar
    Ganz im Gegensatz zur Psychopathologie-Vorlesung geht es in einem Psychose-Seminar nicht darum, etwas über jemanden zu lernen, sondern von einander. „Studenten, Psychose-Erfahrene, Angehörige und Praktiker treten gleichberechtigt als Experten ihrer jeweiligen Perspektiven auf und es stehen der Erfahrungsaustausch und die Entwicklung von Diskurs- und Verhandlungsmöglichkeiten im Vordergrund.“ Das Ziel der Veranstaltung ist (oder besser war) laut Vorlesungsverzeichnis „ein gemeinsamer Prozess, in dem Bildung statt Betreuung und Verhandlung statt Behandlung wichtig sind“. Die Gesprächskultur, die in diesem Rahmen erlernt wird, ist also davon gekennzeichnet „miteinander zu reden“, „Erfahrungen auszutauschen“ und „einander zuzuhören“. Es geht nicht mehr nur um den anderen, sondern zu wesentlichen Anteilen auch um einen selbst, um persönliche (auch mangelnde) Erfahrungen und Unsicherheiten, Befürchtungen, Vorurteile und Unwissenheiten und vor allem, wie damit umzugehen ist.

    Aufgabe: Versuchen Sie die Adresse eines in Ihrer Nähe stattfindenden Psychose-Seminars herauszufinden und gehen Sie mal hin. Tauschen Sie sich anschließend mit jemanden über Ihre Eindrücke aus.

Mein Praktikum im betreuten Wohnen und die begleitende Supervision machten mir deutlich, wie weit die Theorie von der Praxis entfernt war. Immer wieder stellte ich fest, dass mein Blick bestimmte Aspekte der Arbeit systematisch übersah. Es schien nicht nur mir so zu gehen, dass ich überrascht war, worüber wir hier sprachen. Der folgende Satz wurde oft zu Beginn der Supervisionssitzung gesagt und hat sich mir eingeprägt: „Eigentlich habe ich gar kein Thema, aber...“. Daraus entstanden oftmals Diskussionen, zu denen dann alle etwas beizutragen hatten und an Hand derer die eigenen Erfahrungen reflektiert werden konnten. Zentrale Inhalte waren immer wieder die professionelle Identität (und die der jeweils Anderen), eigene Unsicherheiten und die zunehmende Gewissheit, dass man in der Praxis auch nur mit Wasser koche, teilweise sogar mit sehr lauwarmem. Themen, die vorher bei mir eher unter dem Label „Persönliches“ liefen, wurden auf einmal zum Kern professionellen Handelns. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen, Normen, Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten und Fähigkeiten, also der Blick nach innen, war etwas Neues an der Uni.

Insgesamt betrachtet hat mir das Studium wichtige Einsichten ermöglicht. Es war ein weiter Weg von der diffusen Irritation zu Beginn zu einem wachsenden Verständnis der Stärken und Schwächen der Disziplin. Das Studium und der Workshop haben mir Denkräume eröffnet, haben mir ermöglicht, Hintertreppen zu sehen, sie zu denken und sie zu betreten. Je sicherer ich werde in meiner professionellen Identität, in meinen Standpunkten und Überzeugungen, desto leichter fällt es mir, Unsicherheiten zuzulassen.

Wie wäre mein Studium jedoch verlaufen, hätte es diese Lernmöglichkeiten nicht gegeben? Wie wäre es verlaufen, hätte ich ein Studium der Mainstream-Psychologie absolviert? Wie wäre es verlaufen, wäre ich im Bachelor gelandet? Ich vermute, meine Irritation über die Psychologie wäre diffus geblieben, ich hätte mich im Laufe der Jahre an sie gewöhnt. Vielleicht hätte ich die ein oder andere Kritik gelesen oder von ihr gehört. Doch ich hätte keine Personen, keine Gesichter, mit denen ich sie verknüpfen könnte. Sie wären mir nicht näher gebracht worden von Menschen, deren Meinung mich interessiert und deren Urteil ich traue.

Im Berufsleben wären sie stärker in den Vordergrund getreten, vielleicht hätte ich irgendwann alles in die Tonne getreten, gemäß dem Motto: Vergiss alles, was du an der Uni gelernt hast, das hier ist die Praxis! Und vielleicht wäre das dann gar nicht so falsch gewesen. Was hätte mich darin verunsichert, meinem Gegenüber den Experten vorzuspielen? Wo wäre ich heute, hätte die Psychologie mit nur einer Stimme gesprochen?

Um noch ein Mal auf die eingangs geschilderte Situation zurückzukommen: Einer Person gegenüber, die meint zu wissen, was gut für mich ist, finde ich die Reaktion „da muss ich jetzt aber aufpassen, was ich sage“, durchaus berechtigt. Vielleicht ist es ja richtig, sich von einigen PsychologInnen bedroht zu fühlen, zumindest ist Misstrauen angebracht. Nicht nur weil sie manchmal, ohne es zu merken, die Klienten für die tägliche Dosis an Bewunderung oder auch an Selbstwirksamkeitserfahrung missbrauchen, sondern gerade weil sie ihnen Gutes tun wollen.


Merke

The road to hell is paved with good intentions.
(englisches Sprichwort)


Im Mainstream der Psychologie fehlt also nicht nur vieles, was mir immens wichtig erscheint. Vor allem aber gibt er den Studierenden einen Blick mit, der problematisch ist. Dieser Blick ist zu sehr auf Individuen gerichtet und zu wenig auf Beziehungen und Systeme; zu sehr auf Defizite und zu wenig auf Ressourcen; zu sehr auf Erklären und zu wenig auf Verstehen; zu sehr auf Krankheiten und zu wenig auf komplexe Lebensprobleme; zu sehr auf die Anderen und zu wenig auf uns selbst; zu sehr auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten und zu wenig auf Kultur; zu sehr auf Wissen und zu wenig auf Fragen. Zu sehr auf vermeintliche Erfolgsgeschichten und zu wenig auf unser Scheitern.

Wo ist der Blick auf das schöne Leben?

Am Ende meiner Zeit „vor der Treppe“ stelle ich mir nun die Frage: Wofür können wir eigentlich ExpertInnen sein? Wofür sollten wir ExpertInnen sein, um als Profis möglichst gut helfen zu können?

Wir können nicht aufgrund unserer Ausbildung zu Experten der Anderen werden. Dennoch können wir uns gegenseitig kennen lernen, so wie Anja und Rolf sich kennen gelernt haben. Somit können wir Experten von einander werden, Experten unserer eigenen Krisen und der Krisen unseres Gegenübers. Wir können Experten unserer Selbst werden, unserer Normen, Bedürfnisse, Fähigkeiten, Baustellen, Ansprüche, Stärken und Schwächen. Wir können Experten unseres schönen Lebens werden. Wir können Experten der Möglichkeiten und Grenzen in und um das psychiatrische System werden. Wir können Experten unserer eigenen Kultur, der gesellschaftlichen Bedingungen und der Machtstrukturen werden. Wir können Experten von Karrieren werden, sowohl von Professionellen als auch von Betroffenen. Wir können Experten davon werden, wie wir selber und andere mit Krisen umgehen.

Egal wofür wir Experten sind, das kann nie bedeuten, dass wir mit Sicherheit wissen können, was genau ein Mensch in einer Krise braucht. Wir können immer nur versuchen; die Möglichkeit des Scheiterns ist immer da.


R.R.: „Nur versuchen“ klingt mir zu negativ. Das gemeinsame Suchen, gemeinsam einen Weg zu suchen, sich dabei einander zuzuwenden, das ist wertvoll.

Die Mainstream-Psychologie: ein Treppenwitz?

Ich finde, dass zwei Lesarten des Treppenwitzes in diese Diskussion passen: Erstens eine historische und zweitens eine berufsbiographische.


Begriffsklärung Treppenwitz

Meyers Lexikon online
Treppenwitz, allgemein treffsicherer Gedanke, der einem erst hinterher, gewissermaßen beim Weggehen auf der Treppe, einfällt. Im engeren Sinn Bezeichnung für kuriose beziehungsweise paradoxe historische Ereignisse und Entwick-lungen; geht zurück auf das 1882 in erster Auflage erschienene Buch »Treppenwitz der Weltgeschichte« von W.L. Hertslet.


Die historische Lesart, als Treppenwitz der Geschichte, ist, dass eine geschichtliche Begebenheit im Nachhinein als absurd angesehen wird. Diese Lesart ist eher eine kleine Träumerei meinerseits, dass der heutige Mainstream der Psychologie in nicht allzu ferner Zukunft als Treppenwitz der Geschichte gehandelt wird:


dass es dann von der scientific community als absurd betrachtet wird,
dass man zu Beginn des 21. Jahrhunderts einem Wissenschaftsverständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts nacheifert;
dass ein Forscher nicht neutral und objektiv ist, nur weil er denkt er sei es;
dass sich die Welt und die Menschen nicht so verhalten wie es sich ein paar Wissenschaftler wünschen, damit sie ihre Theorien beibehalten können.


Aber leider zeichnet sich dieser Sinneswandel noch nicht ab. Eher im Gegenteil geht die „Erfolgsgeschichte“ der Psychologie weiter, durch konsequentes Marketing sind die Hauptexportschlager „Scheinobjektivität“ und „technisches Denken“ in immer mehr Bereichen der Gesellschaft gefragt. Nichts deutet im Moment also darauf hin, dass sich in näherer Zukunft diese Lesart durchsetzen würde.

Die berufsbiographische Lesart handelt vom „treffsicheren Gedanken“, der einem auf der Treppe, also nach dem Verlassen der Universität einfallen könnte: „Ach ja, das war es, was mir die ganze Zeit gefehlt hat: der Realitätsbezug! Was hatte das eigentlich mit der Praxis zu tun? Und was bringt mir das, was ich die letzten Jahre gelernt habe? Die an der Uni haben nicht verstanden, dass man in der Praxis ganz andere Mittel braucht als die akademische Psychologie bereitstellt. Die haben ja gar nicht verstanden, dass alle Techniken zwar schön und gut sind, jedoch kein Allheilmittel.“ Der Zeitpunkt dieser Gedanken stellt sicher, dass die akademische Psychologie weitgehend unerschüttert von seinen Konsequenzen bleibt, sie kann sich in ihrem realitätsfernen Elfenbeinturm unbeeindruckt ihrer eigenen Reproduktion widmen.


Fallbeispiel Von Psychologie-Studierenden betroffen

Leitung einer psychosozialen Institution in Berlin
„Wenn da so Psychologie-Absolventen zu uns kommen, um bei uns zu arbeiten, planen wir 1-2 Jahre ein, bis wir die soweit umsozialisiert haben, dass sie für uns sinnvoll arbeiten können. Und damit sie verstehen, worauf es ankommt.“


Für mich persönlich war das Studium kein Treppenwitz, viele treffsichere Gedanken wurden mir an der Universität ermöglicht. Allerdings war dafür Eigeninitiative, Interesse sowie zeitlicher und inhaltlicher Raum von Nöten. Interesse und Eigeninitiative kann man schlecht vorschreiben, aber man kann den Raum dafür geben. Im Bachelor-Studium (was der Master bringt, ist noch nicht abzusehen) zeichnet es sich deutlich ab, dass dieser Raum verschwindet. Der zeitliche Raum wird ausgefüllt durch eine komplett durchstrukturierte Woche mit vollem Stundenplan und vielen Hausaufgaben, die in die Abschlussnote einfließen. Der inhaltliche Raum wird vom naturwissenschaftlich-quantitativen Mainstream ausgefüllt.


Exkurs Gedanken einer Psychologiestudentin

Zur Verbindung von Studium und schönem Leben
Wer kennt sie nicht, die Gespräche vom schönen Studentenleben. „Achja, damals, das war meine beste Zeit“, höre ich immer wieder in meiner Familie oder von Bekannten und gern bezieht man sich auf das klassische Bild vom Studenten, der erst um 10.00 Uhr zur Vorlesung geht, schön lange Semesterferien hat und auch unter der Woche feiert, sprich, sein schönes Leben genießt. Schönes Leben meint dabei den Umstand, StudentIn zu sein. Und die vielen Vorteile, die mir der Studentenstatus bietet, will ich auch in keiner Weise leugnen. Auch ich genieße die vielen Möglichkeiten, neue Dinge auszuprobieren, und die Chancen, die sich mir bieten. Ich kann durchaus sagen, dass mein „schönes Leben“ zu einem Großteil von den Freiheiten bestimmt wird, die mir mein Studium ermöglicht (was sicherlich auch dem Umstand geschuldet ist, dass ich noch im Diplomstudiengang studiere). Irritierend ist allerdings, dass andersherum dieses schöne Leben gerade im Psychologie-Studium selbst gar keinen Platz zu haben scheint. Es geht hauptsächlich um das ErLeben der Anderen; wir lernen Brücken nach außen zu bauen und zu erklären, wie die uns zukünftig gegenüber sitzende Person funktioniert. Das persönliche Erleben (ob schön oder nicht schön) ist kaum relevant bzw. fällt im universitären Kontext schnell unter die Rubrik „alltagspsychologisch“ oder pseudowissenschaftlich. Wann und wo lernen wir jedoch, dass psychologisches Verstehen auch erst einmal heißt, sich selbst verstehen zu wollen, ja, dass es ganz und gar erst einmal um ein Verstehen geht, und nicht um ein sofortiges Erklären? Die Brücke nach innen, zu sich selbst, entdeckt oder erbaut man mit Glück im Schönen Leben außerhalb des Studiums. Oder auch in Zeiten eigener Krise. Aber ganz gewiss nicht im universitären Rahmen.

Überlegen Sie: Ist Ihr Leben schön? Wenn ja: wann, wo, wie und mit wem? Wenn nicht: überlegen Sie noch mal!


Hinter der Treppe – Hintertreppe?

Mein Studium ist so gut wie abgeschlossen, ich bin also die Treppe des Studiums bis fast zu ihrem Ende hinaufgestiegen. Was kommt danach? Der Blick richtet sich nun stärker nach vorn. Der autobiographische Sog der Vordertreppen wird spürbar. Was will ich arbeiten? Welche Ausbildung kommt als nächstes? Mache ich eine Ausbildung zum Psychotherapeuten? Wähle ich ein Kassenverfahren, um auf dem Markt besser dazustehen, obwohl mich andere Ansätze mehr reizen? Bleibe ich in Berlin? Was wird aus meinem schönen Leben? Werde ich den Mut für Hintertreppen haben?

Der Workshop war eine Ermutigung und er war der Beginn eines Prozesses. Durch die Schreibwerkstatt ist die Auseinandersetzung mit der Metapher der „Hintertreppen“ nicht auf zwei Tage im Sommer beschränkt geblieben, sondern hat mich die letzten Monate beschäftigt. Die Metapher ist bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen und prägt seitdem meine Auseinandersetzung mit meiner beruflichen Zukunft.

Insbesondere die Frage nach dem schönen Leben ist seit dem Workshop deutlicher in den Vordergrund, auch meiner professionellen Überlegungen, getreten. Würde ein Leben, das sich ausschließlich auf der Vordertreppe abspielt, nicht zu einer dauerhaften Krise für mich? Kann ich mir ein schönes Leben ohne Hintertreppen vorstellen?

Und noch einmal: Universitäre Räume und in psychotischen Krisen gesammelte Erfahrungen (R.R. & A.H)

Auf unseren Spaziergängen zur Vorbereitung des Workshops rekonstruierten wir vieles, was uns miteinander vor, in, nach, trotz und unabhängig von Krisen hat wachsen lassen.

An dieser Stelle wollen wir die „Uferstraße“ herausgreifen, d.h. die Räume des Projektes Psychosoziale Beratung der Freien Universität Berlin (bereits eingeführt siehe oben im Abschnitt vor der Treppe). Das Projekt war bis zu seiner Auflösung im Wintersemester 2007/08 als Außenstelle der Universität auf einer Etage im Vorderhaus eines Berliner Mietshauses im Bezirk Wedding in der Uferstraße untergebracht.


A.H.: Bereits als Studentin waren das besondere Räume für mich. Hier gab es eine Küche für alle, die DozentInnen waren ganz anders erreich- und ansprechbar. Hier kam ich mit MitstudentInnen viel besser in Kontakt als zwischen den Seminarräumen und den endlosen Gängen der Universität. Ich stellte Fragen, dachte laut und diskutierte mit, weil ich mich eingeladen und beachtet fühlte.

R.R.: Für mich war die Uferstraße das „Mutterhaus“ – ein Ort, an dem ich mich wie ein Mensch ohne Behinderung fühlen konnte. Ich wurde nicht als Sonderling beachtet, aber es wurde auch nie ignoriert, was gerade los ist. Wenn ich jetzt zu Anja an die Universität fahre, erlebe ich den Kontrast: Ich finde sie in dem riesigen, anonymen Gebäude kaum, ich werde nicht mehr persönlich an der Eingangstür empfangen und kann erst einmal ankommen. Aus ihrem Zimmer kann ich sie nur abholen und es muss sofort verschlossen werden, wenn wir es verlassen. Das heißt, ohne sie habe ich keinen Zutritt zu Arbeitsräumen. In der Uferstraße gab es Raum und Zeit für mich. Auch wenn die Mitarbeiterinnen wie Anja und Heinke an ihren Schreibtischen oder mit Studierenden weiter arbeiteten, konnte ich bleiben. Auch ich konnte dort arbeiten, z.B. an einem Artikel schreiben.


Inwiefern betrachten wir also die Uferstraße als eine Hintertreppe für Sinnstiftung und Anerkennung?
Es war ein öffentlicher Raum, der Zugang war niedrigschwellig.


R.R.: Ich konnte zum Lernen, Lehren, Austausch, Ausruhen und für mich Ausprobieren kommen, ohne die Uferstraße wäre mir das Arbeiten am Computer heute nicht so selbstverständlich.

A.H.: Rolf gab dem, was ich lernte und später lehrte mit seiner Anwesenheit oder seinen Kommentaren einen klaren Praxisbezug und erinnerte uns an die Notwendigkeit, Perspektivwechsel zu üben.


Unsere These: Professionelle in (großen bzw. etablierten) Institutionen verlernen leicht die Regeln des menschlichen Umgangs. Auf Vordertreppen wird vergessen, wie wichtig es ist, sich in Demut zu üben, d.h. sich zu vergegenwärtigen, wie es mir selbst in der Rolle des Gegenübers gehen und was ich brauchen würde. Auf Hintertreppen rücken wir enger zusammen und erleben, wie nah wir uns kommen können, dass wir anderes zu sehen bekommen und auf uns selbst zurückgeworfen sind. So auch in der Uferstraße.

Ein anderer Aspekt, den wir hervorheben wollen: Psychoseerfahrung und Psychosenbegleitung kosten Kraft. Alle Beteiligten brauchen Raum, Zeit und Menschen zum Kraft tanken.


R.R.: Es ist wichtig zu bedenken, dass eine erste Psychose auch eine erste Behandlungserfahrung nach sich zieht, die sehr prägend ist. Deshalb hat mich die Geschichte von O.N., seinem Freund und dessen Tochter sehr berührt. Meine Ersterkrankung liegt mehr als 35 Jahre zurück. Die gesammelten Erfahrungen haben mich professionell gemacht. Ich kenne mich in Vorphasen und akuten Krisen. Heute weiß ich viel besser, wer ich bin. Ich habe mich kennen gelernt – besonders auch vor und in Krisen (bevor sie ins Destruktive umschlagen, zeigt sich meine Kreativität, werden Kräfte frei und verschüttete Persönlichkeitsanteile kommen heraus). Der Krankheitsbegriff ist deshalb problematisch. Denn er ist Defizit orientiert. Dass meine Psychoseerfahrungen (und die positiven Erfahrungen in der Begleitung) mir auch geholfen haben, zu dem zu werden, was ich heute bin, gerät dadurch aus dem Blickfeld. Im Workshop haben wir herausgearbeitet, dass Profis auch Krisen induzieren können. Zum Beispiel, wenn sie in ihrem Rollenverhalten nicht verlässlich und transparent sind. Sie merken oft ihre Grenzverletzungen nicht. Gefährlich erscheinen mir Profis, die z.B., nachdem sie mir auf einer persönlichen Ebene begegnet sind, ohne Vorwarnung bzw. aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen auf eine institutionelle, distanziert-professionelle Ebene wechseln. Das verunsichert mich, entwertet und kann Krisen hervorrufen.Krisenbegleitung fordert für die Zeit der Begleitung die ganze Präsenz der ganzen Person. Ich muss mich in einer Krise darauf verlassen können, dass sich mein Gegenüber selbst um das Netz und die Bedingungen kümmert, durch die es wieder auftanken kann und bei Kräften bleibt.

K.F.: Unter welchen Bedingungen gelingt es mir jedoch, als zukünftige Ansprechpartnerin für Menschen in Krisensituationen immer wieder aufzutanken und bei Kräften zu bleiben? Oder wo liegen hierbei die Schwierigkeiten? Welchen Rahmen benötige ich, dass ich nicht geradewegs selbst in ein Burnout steuere und wird mir dieser Rahmen in den Strukturen, in denen ich arbeiten werde, zugesprochen? Werde ich nicht nach kurzer Zeit erkennen, dass ich ebenso von den Lücken und Unzulänglichkeiten des psychiatrischen / psychosozialen Versorgungssystems betroffen bin, in dem ich Hilfe leisten möchte, wie diejenigen, die diese Hilfe suchen?

Zurück zum Verhältnis zwischen Vorder- und Hintertreppen (H.M.)

Wie lassen sich unsere Überlegungen in der Schreibwerkstatt an das Tagungsthema rückbinden?Vordertreppen haben im Allgemeinen die Funktion, ein bestimmtes äußeres Bild vom Ganzen zu vermitteln – sie symbolisieren das Offizielle. Vordertreppen können sehr unterschiedlich sein: Die verwendeten Materialen reichen von einfachen oder hochwertigen Holztreppen bis zu solchen aus Marmor. Die Höhe von einzelnen Treppenhäusern und deren Treppenstufen unterscheiden sich in Breite und Höhe. Ähnlich verhält es sich mit dem Treppengeländer und mit der Beleuchtung. Aber jedes Treppenhaus repräsentiert eine Norm.Auf unser Thema „vom schönen Leben“ bezogen, orientieren Vordertreppen ihre NutzerInnen mehr oder weniger darauf, was ihn oder sie hinter der jeweiligen Tür konzeptionell oder pekuniär erwartet. Expertenschaft wird gern durch gerahmte Expertisen an den Wänden sichtbar gemacht und soll wenig hinterfragt werden. Vordertreppen stehen nach diesem Bild für offiziell vorgegebene und gegebenenfalls abrechenbare Wege im Gesundheitswesen: Krisenintervention, Psychotherapie, Behandlung, Rehabilitation, Beratung.Hintertreppen scheinen nicht mehr ganz zeitgemäß, aber es gibt sie. Ihre Funktion ist nicht mehr eindeutig als Personal- oder Sicherheitstreppe erkennbar oder auch nur vorhanden. Hintertreppen fallen eher durch eine gewisse Uneinheitlichkeit auf. Auf ihnen werden – zeitlich begrenzt – Gegenstände „abgestellt“, die zumindest vorübergehend nicht mehr gebraucht werden. Hintertreppen sind häufig nicht so gut ausgeleuchtet, man weiß nicht so recht, wem man begegnet, was sich dort findet und welcher Wert den Dingen beizumessen ist. Ob über Hintertreppen nützliche Werkzeuge erschlossen werden können, muss in Krisensituationen herausgefunden werden und ist von Fall zu Fall neu zu klären. Der Nutzen einer Hintertreppe zeigt sich oft im Vorfeld einer Krise, wenn offizielle Wege noch nicht beschritten werden, wenn das soziale Umfeld von Betroffenen noch auf die Kraft der eigenen Ressourcen vertraut und davon ausgeht, dass das krisenhafte Ereignis und Geschehen zeitlich begrenzt bleibt und alles wieder so wird wie früher.

Im Workshop haben wir aus den Erzählungen Betroffener und ihrer BegleiterInnen gelernt, dass die Ressourcen der Hintertreppe sich tatsächlich als zeitlich begrenzt erwiesen und irgendwann die Unterstützung durch die Experten der Vordertreppe gesucht wurde. Die Vordertreppen-Funktionäre gehen in der Regel davon aus, dass ab dem Zeitpunkt der Kontaktaufnahme sie „den Hut auf haben“ und die Behandlungsvorgaben machen. Das kann evtl. im Einzelfall und in Absprache richtig sein, führt aber häufig auch dazu, dass bestimmte Ressourcen nicht mehr in den Blick kommen und das Primat der Medikamente obsiegt. Betroffene und Angehörige im weitesten Sinn werden dadurch darum gebracht, dass sich ihnen der Sinn der Ereignisse durch Reflexion und gemeinsames Handeln erschließen kann. Nur wenn die Hintertreppe ein wichtiger Bezugsrahmen für das offizielle Gesundheitssystem wird, mit deren Hilfe auch unkonventionelle Wege erarbeitet werden können, bleibt die Verantwortung mit bei denen, in deren Umfeld das Problem entstanden ist. Nur wenn kein soziales Umfeld, in unserem Bild keine Hintertreppe, vorhanden ist, müssen Vordertreppen-Vertreter und Betroffene dialogisch Lösungswege erschließen, in denen Letztere zu Experten ihrer Erfahrungen werden können. Dies schließt das Entstehen einer neuen Hintertreppe durchaus ein.

Schlussbemerkungen – Oder „Einmal im Kreis und doch woanders angekommen“

A.H.: Dies ist ein Werkstattbericht, Fragmente sind unser Ergebnis. In unseren Schreibwerkstatttreffen stellten wir fest, dass wir erst am Anfang sind, dass der regelmäßige bzw. fortgesetzte Austausch wertvoll ist und bleibt. Da wir Sie / Euch aber nicht warten lassen wollen, bis unser Sachbuch „Was wäre wenn? - Ratgeber für potentiell Betroffene der psychiatrischen Versorgung“ erscheint, lassen wir Sie / Euch an unserem Austausch in Form dieses Artikels teilhaben und freuen uns über neue MitautorInnen der zukünftigen Schreibwerkstatt „Was wäre wenn?“!!!

O.N.: Wenn ich nun unseren Werkstattbericht lese, bin ich erstaunt und erfreut zu sehen, was (in guter Tradition der GGFP) da seinen Ausgang auf der Tagung genommen hat. Und ich glaube, auch Sie als Leser / Leserin bekommen in den Texten eine Ahnung von der Gesprächs- und Reflektionsatmosphäre innerhalb unserer Schreibwerkstatt. Eines ist mir am Ende noch wichtig: Es war (für mich) nicht so einfach, den (Leitungs-)Faden ab dem zweiten Tagungstag aus der Hand zu geben (siehe unsere einleitenden konzeptionellen Ausführungen zum Workshop). Aber ich bin froh, es getan zu haben und daraufhin erlebt haben zu dürfen, wie sich an die Initiativgeschichten andere Geschichten anschlossen, die zu Themen geronnen sind, die hier in diesem Bericht beschrieben worden sind.
Besonders dankbar bin ich für die Offenheit und Anregungen, die ich in den Diskussionen von den Psychoseerfahrenen bekommen habe und die Art des Austausches, den wir gemeinsam hergestellt haben. Ohne diese spezifische Kultur wären die anregenden Texte nicht entstanden. Ein kleines Beispiel: Als ich im Prozess der Erstellung dieses Werkstattberichtes unruhig wurde, weil ich befürchtete, wir würden nicht fertig, wurde ich liebevoll einen Abend lang als „Jogi“ betitelt (in Anlehnung an unseren Bundestrainer). Ich habe verstanden! Und nun: Auf zu neuen Ufern, auf zum dialogischen Sachbuch!

Autoren

Kontaktadresse:

Olaf Neumann
Berliner Krisendienst Region Ost
Irenenstraße 21 A
D-10317 Berlin
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailo.neumann@bitte-keinen-spam-berliner-krisendienst.de


Sebastian Bowe, studierte Psychologie von 2003 – 4/2009, Interessen: „das Sprechen über...“, das Verhältnis von Theorie und Praxis und die Möglichkeiten sinnvoller Praxisforschung, Kulturpsychologie, soziale Verantwortung, „Echtheit“, Politik und massenmediale Inszenierung.

Kristina Fischer, studiert Psychologie an der FU Berlin, Interessensschwerpunkte: psychosoziale Versorgungsforschung in ländlichen Regionen, Geschichte und Reform der Psychiatrie, Recovery und biografisches Verstehen vonPsychosen.

Anja Hermann, promovierte Diplompsychologin, nach langjähriger Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Freien Universität mit den Arbeitsschwerpunkten Gemeindepsychologie, psychosoziale Versorgung, Dialog- und Kooperationsmodelle sowie Psychoonkologie, inzwischen als Psychologin im Brustzentrum des Klinikums Ernst von Bergmann in Potsdam tätig.

Heinke Möller, Sozialarbeiterin und langjährige Mitarbeiterin und Dozentin im Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Freien Universität mit den Arbeitsschwerpunkten Psychosoziale Beratung und Versorgung, Gesprächsführung, Gemeindepsychologie. Anmerkung von Anja Hermann: Heute für ehemalige Kolleginnen Beraterin und Coach bei psychosozialen Fragestellungen und neuen beruflichen Herausforderungen und Gastgeberin unserer Schreibwerkstatt.

Olaf Neumann, Diplomsozialarbeiter, Theaterpädagoge und approbierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut promovierte an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Psychologie. 1987 Gründungsmitglied des Krisenhauses in Ost-Berlin, das er ab 1994 leitete, baute ab 1999 den Berliner Krisendienstes Region Ost auf, der 2005 unter seiner Leitung als erster Krisendienst nach ISO 9001 zertifiziert wurde. Arbeitschwerpunkte: (Forschung und Lehre in) Krisenintervention und -begleitung, Kreativität(sforschung), Organisationsentwicklung, Qualitätsmanagement, Personalentwicklung, Psychosoziale Unterstützung (PSU) in Großschadenslagen. Seine (heimliche) Leidenschaft gehört dem Kinder- und Jugendtheater.

Rolf Ruszetzki, Dreher, berentet, psychoseerfahren seit 1972, seit 1994 bot er Fortbildungen für Fachpfleger in der Psychiatrie an, Teilnahme an Kongressen zu sozialpsychiatrischen Fragestellungen und Gasthörer an der FU-Berlin, z.B. in Seminaren zum Thema Schizophrenie, Gründungsmitglied des Weddinger Psychoseseminars, ausgelöst im Psychoseseminar und in dessen Umfeld bis dahin für unmöglich gehaltene, große persönliche Veränderungen hin zu mehr Lebensqualität, Selbstbewusstsein und -sicherheit und neuen Interessensgebieten, derzeit leidenschaftlicher Ausflügler auf seinem Fahrrad.



alttext