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"Nicht mehr für die Schublade"

Anja Hermann & Ute Meybohm
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 1]


Zusammenfassung

Ein einführender Rückblick auf die Forschungskooperation zwischen ajb gemeinnützige Gesellschaft für Jugendberatung und psychosoziale Rehabilitation GmbH und dem Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie1 der Freien Universität Berlin von 2005 und 2009
Vier Artikel geben exemplarisch Einblick in die Ergebnisse einer gemeindepsychologischen Forschungskooperation.

Schlüsselwörter: Gemeindepsychologische Forschungskooperation, Qualitätssicherung in psychosozialer Praxis, Qualifizierungsarbeiten

Summary

"No longer writing for the desk drawer"
An introductory look back on collaborative research projects between the nonprofit Society for Youth Counseling and Psycho-Social Rehabilitation Ltd. and the Department for Clinical Psychology and Community Psychology of the Free University of Berlin from 2005 to 2009 Four representative articles offer insight into the results of collaborative research on community psychology.

Key words: research cooperation in community psychology, quality management in psychosocial practice, qualification on the job



Nach vier Jahren Forschungskooperation blickten wir, Ute Meybohm (Geschäftsführerin der ajb gemeinnützige Gesellschaft für Jugendberatung und psychosoziale Rehabilitation GmbH) und Anja Hermann (am Ende ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin), 2009 auf 12 entstandene Diplomarbeiten, das Filmprojekt "Don Quichotte vom Ostkreuz" und jährliche gemeinsam geplante und durchführte Fachtage der ajb GmbH (im folgenden Text mit ajb abgekürzt) zurück.

Die Zusammenarbeit war aus einer langjährigen Kooperation zwischen dem Projekt Psychosoziale Beratung der Freien Universität und der ajb hervorgegangen: PsychologiestudentInnen, die bei der ajb ihr psychologisches Praktikum im Hauptstudium absolvierten und von PSB-ProjektmitarbeiterInnen in Colloquium und Supervision betreut worden waren, siedelten häufig auch ihre Diplomarbeit in ihrer Praktikumsinstitution an - waren jedoch im Hinblick auf die Diplomarbeiten weder dort noch an der Universität optimal angebunden und betreut.

Innerhalb von 4 Jahren entwickelte sich bis 2009 ein gewinnbringender kontinuierlicher Austausch zwischen gemeindenaher psychosozialer Praxis und gemeindepsychologischer Ausbildung und Forschung. Ausgehend von Fragestellungen der Praxiseinrichtungen, die im Qualitätszirkel der ajb gesammelt und der Freien Universität übergeben wurden, konnten im Rahmen der universitären Betreuung bearbeitbare Fragestellungen entwickelt und mit den PraktikerInnen abgestimmt werden. Alle DiplomandInnen stellten nach Abschluss ihrer Forschungsarbeit die Ergebnisse in der ajb vor und zur Diskussion.

Um sich ein Bild über die Bandbreite der Themen machen zu können, an dieser Stelle eine Aufzählung aller Diplomarbeiten:

  • Bettina Müller: "Die Krankheit, die zwingt fast schon dazu, sich selber kennen zu lernen." Sinngebungsprozesse deutscher junger Erwachsener mit einer Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis im Kontext des Betreuten Wohnens der ajb GmbH
  • Carolin Vierneisel: Anerkennung - Wie Junge Erwachsene eine Einrichtung zum Betreuten Wohnen erleben
  • Annette Glasenapp: Das Verständnis der Mitarbeiter eines multiprofessionellen Teams im Bereich Betreutes Wohnen für junge Volljährige der Allgemeinen Jugendberatung Berlin von ihrer (Zusammen-) Arbeit
  • Maximilian Schinz: "Was alle angeht, können nur alle lösen." - Neukonzeptionierung der Evaluation im Bereich Betreutes Wohnen der ajb GmbH mithilfe einer partizipativen Forschungsstrategie
  • Jakob Szczotko: Gelungene Verselbstständigung und Beziehungsgestaltung im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung. Die retrospektive Bewertung des Betreuten Wohnens für psychisch kranke junge Erwachsene der ajb-GmbH aus Klientensicht
  • Esther Mergenthaler: Eine qualitative Untersuchung zur Bedeutung von Religiosität für psychisch kranke junge Erwachsene mit christlich-religiösem Hintergrund im betreuten Wohnen der ajb GmbH
  • Sebastian Bowe: Sprechen über Praxis - Eine qualitative Studie zum Sprechen über Beziehungsgestaltung in einem Team des betreuten Wohnens
  • Lydia Welitzki: "Na, was soll ich denn zu Hause machen? Mein Gott! Verfaulen?" Arbeiten in einem Integrationsprojekt für langzeitarbeitslose Frauen mit Migrationshintergrund - Eine qualitative Untersuchung der Auswirkungen auf die persönliche Entwicklung
  • Sarah Quappen: Ein Integrationsprojekt für langzeitarbeitslose Migrantinnen aus Sicht der ehemaligen Teilnehmerinnen. Bedeutungen und Bewertungen der Arbeit in der Retrospektive.
  • Johannes Schoof: "Ein Eiertanz in zwei Richtungen" - Eine qualitative Studie zum Belastungserleben professioneller Mitarbeiter in einer Einrichtung der beruflichen Rehabilitation psychisch kranker junger Erwachsener
  • Annette Brandes: Das Erleben einer Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme durch teilnehmende junge Erwachsene mit psychischer Beeinträchtigung - eine qualitative Untersuchung
  • Britta Dittmann: "... jetzt steh ich aber auf der ANDEREN Seite" Eine qualitative Untersuchung des ajb Zuverdienstprojekts Patientenbibliothek - das Erleben der TeilnehmerInnen

Wir fragten bei den ehemaligen Diplomandinnen und Diplomanden an, wer Interesse habe, ausgehend von der Diplomarbeit mit einem Artikel konkreten Einblick in die Ergebnisse der Forschungskooperation zu geben. Diese Kooperation endete aufgrund veränderter Schwerpunktsetzungen im Arbeitsbereich Klinische Psychologie an der Freien Universität und mit dem Weggang Anja Hermanns von der Universität im Mai 2009. Die Forschungskooperation verfolgte gemeindepsychologische Ansprüche, weshalb wir uns freuen, exemplarische Ergebnisse im Forum Gemeindepsychologie vor und zur Diskussion zu stellen. Vier Artikel über unterschiedliche Bereiche und Fragestellungen der ajb GmbH liegen nun vor. Die zugrunde liegenden Diplomarbeiten enthalten wertvolle Systematisierungen und Inspirationen für die PraktikerInnen; und die DiplomandInnen lernten die Herausforderungen praxisrelevanter Forschung kennen und meistern.

Im Folgenden werden wir sowohl die ajb GmbH als auch das Konzept der ajb-Diplomarbeitsgruppe vorstellen, um Ihnen eine Einordnung und Kontextualisierung der Artikel dieser Ausgabe des Forum Gemeindepsychologie zu ermöglichen.

Die ajb GmbH (Ute Meybohm)

Die ajb GmbH - gemeinnützige Gesellschaft für Jugendberatung und psychosoziale Rehabilitation - ist ein anerkannter Träger der Jugendhilfe, der gemeindepsychiatrischen Versorgung, der Berufsorientierung sowie der Beschäftigung und Qualifizierung. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen Menschen mit einem besonderen Förderbedarf, in Krisen, in besonderen Lebenssituationen oder mit psychischen Erkrankungen. Die ajb bietet ein ganzheitliches Angebot von Beratung, Therapie und Begegnung, Betreutem Wohnen, Arbeiten, schulischem und beruflichem Lernen nicht nur für junge Menschen, sondern auch für Menschen unterschiedlicher Altersstufen und Ethnien. Als gemeinnützige Gesellschaft unter dem Dach des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPW) ist die ajb gmbh in folgenden Berliner Bezirken tätig: Charlottenburg-Wilmersdorf, Friedrichshain-Kreuzberg, Hellersdorf-Marzahn, Mitte, Lichtenberg-Hohenschönhausen, Neukölln, Pankow und Treptow-Köpenick. Sie beschäftigt einen Mitarbeiterstamm von 96 Fachkräften unterschiedlicher Professionen (wie z.B. PsychologInnen, Diplom- und SozialpädagogInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, BetriebswirtInnen, Elektro- und GartenbauingenieurInnen, Gärtnermeister und Küchenmeisterin, Bäcker, TischlerIn, Diplomdesignerinnen, EDV-Dozentin, Wäschereimeisterinnen und Verwaltungsfachleute). Darüber hinaus sind bei ihr 50 geförderte MitarbeiterInnen beschäftigt. Organisatorisch ist die ajb gmbh in vier Fachbereiche gegliedert, die in ihren Betriebsabläufen weitgehend selbstständig arbeiten und von einer gemeinsamen Verwaltung unterstützt werden. Regelmäßige Fachteams und ein fachbereichübergreifendes gemeinsames Qualitätsmanagement sichern die Transparenz und den Rahmen der gesamten Organisation.

Die Wurzeln der ajb liegen in den 70er Jahren, der Zeit des Aufbruchs und sozialer Bewegungen in Berlin. Hierzu gehörten die Anti-Heimkampagne in der Jugendhilfe und die Entwicklung alternativer Wohnformen für junge Menschen, die Psychiatriereform und der Aufbau gemeindepsychiatrischer Versorgungsstrukturen, die Benachteiligtenförderung im Rahmen von Qualifizierungs-und Beschäftigungsmaßnahmen zum Aufbau von Chancengleichheit. Die Gründungsväter kamen aus dem Bereich der Gewerkschaften, der Jugendförderung, der Konflikt-und Bildungsberatung der Falken und aus dem damaligen Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin. Den theoretischen Hintergrund bildeten die Kritische Psychologie (Klaus Holzkamp) mit ihrer Kritik an gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen und dem Recht auf Selbstbestimmung und die italienische Psychiatrie (Franco Basalglia) mit der Forderung, auch schwerst psychisch Erkrankten Leben und Arbeiten in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Diese Grundgedanken sind eingegangen in das Leitbild und die Strukturen der ajb und haben auch heute noch Gültigkeit in grundlegenden Prinzipien unserer Arbeit, wie z.B.:

  • die zentrale Bedeutung der Integration von psychisch Kranken und Benachteiligten in Arbeit
  • das Wissen um die krankmachenden Bedingungen von Arbeitslosigkeit und Isolation und die Notwendigkeit von unterstützenden Qualifizierungs- und Beschäftigungsprogrammen, um Chancengleichheit überhaupt zu ermöglichen - Der Slogan der ajb "Arbeit in sozialer Verantwortung" stellt den Träger immer wieder vor die Herausforderung neue Integrationskonzepte zu entwickeln und Förderungen zu finden.
  • der sozialpsychiatrische Krankheitsbegriff und ein differenziertes ambulantes gemeindepsychiatrisches Versorgungssystem mit differenzierten Wohn-, Beratungs- und Beschäftigungsangeboten, integrierter Psychotherapie und beruflicher Orientierung bzw. Eingliederung, das Partizipation unterstützt
  • ein entwicklungsorientiertes methodisches Vorgehen, das ansetzt an vorhandenen Erfahrungen, Stärken fördert, Defizite ausgleicht und Übergänge begleitet

Zu Beginn der Forschungskooperation im Jahr 2005 stand die ajb vor neuen Herausforderungen. Der Träger hatte ein Qualitätsmanagementsystem aufgebaut und war erstmalig zertifiziert. Es gab eine langjährige Kooperation mit der Freien Universität (FU), in der bereits verschiedene Diplomarbeiten über den Träger geschrieben worden waren. Die Ergebnisse wurden aber im Träger nicht ausgewertet oder diskutiert. Die Themen der Diplomarbeiten oblagen den Studierenden.

Bei der Geschäftsführung und im Rahmen des Qualitätszirkels entstand der Wunsch, Diplomarbeiten als Evaluationsinstrument zu nutzen und die Ergebnisse in der ajb vorzustellen und zu diskutieren. Voraussetzung dafür war, dass die ajb an der Themenentwicklung über den Qualitätszirkel beteiligt war und somit bei den MitarbeiterInnen der ajb auch ein Interesse an Begleitung und Diskussion der Ergebnisse geweckt werden musste. Studierende sollten also nicht nur "Arbeit machen", sondern den MitarbeiterInnen und der Geschäftsführung durch ihre Forschung Aufschluss zu Fragestellungen geben, die die ajb bewegen.

Darüber hinaus war die ajb ein 33 Jahre alter Träger mit dem Bedürfnis, sich zu verjüngen. Mit der Kooperation gab es die Möglichkeit, die Studentinnen und Studenten näher kennen zu lernen und ggf. zukünftige MitarbeiterInnen zu eruieren.

Da der Fachbereich Wohnen der ajb bereits Erfahrungen mit den Studierenden der FU hatte, bestand hier die größte Bereitschaft, die Kooperation auf systematischere Beine zu stellen und die Ergebnisse der Arbeiten im Rahmen einer Ringvorlesung in der Öffentlichkeit der ajb zu diskutieren. Erst nachdem einige Diplomarbeiten vorgestellt wurden und positive Erfahrungen berichtet wurden, waren auch der Fachbereich berufliche Rehabilitation, der Zuverdienst für psychisch Kranke in Friedrichshain-Kreuzberg und die Wäscherei, die mit psychisch kranken und benachteiligten MigrantInnen arbeiten, offen für eine Beforschung.

Wichtig für eine offene Auseinandersetzung war der Aufbau von vertrauensvollen Arbeitsbeziehungen zwischen Universität und Träger. Hierfür stand die wissenschaftliche Mitarbeiterin Anja Hermann, die auch oft vermittelnde und erklärende Funktion hatte. Nicht nur aus Sicht der Geschäftsführung haben die vier Jahre Kooperation mit Anja Hermann und den Studierenden der FU der ajb gmbh ausgesprochen gut getan. Wir haben neue, auch theoriegeleitete Anregungen für unsere Arbeit bekommen, uns mit interessanten Ergebnissen beschäftigt und deren Konsequenzen gemeinsam diskutiert. Darüber hinaus konnten wir nach ihrem Diplom fünf junge engagierte Kollegen gewinnen.

Wir haben sehr bedauert, dass das PSB an der FU abgewickelt wurde und halten eine enge Vernetzung zwischen Universität und Praxiseinrichtungen für unabdingbar, um Studierende auf die Praxis vorzubereiten und bei Trägern der Wohlfahrtspflege eine Offenheit herzustellen, ihre Arbeit regelmäßig evaluieren zu lassen. Hierfür bedarf es allerdings vertrauensvoller Beziehungen auf der Basis gegenseitiger Wertschätzung und gegenseitigen Respekts. Diese haben wir uns miteinander erarbeitet.

Die ajb-Diplomarbeitsgruppe (Anja Hermann)

Eine kontinuierlich betreute Diplomarbeitsgruppe ist der zentrale Bestandteil der Forschungskooperation auf Seiten der Universität gewesen. In der Betreuerin gab es eine zentrale Ansprechpartnerin und Verantwortliche. Wie lässt sich nun diese Arbeitsform charakterisieren? Was unterstützt Studierende bei der Durchführung ihrer Qualifikationsarbeit im Rahmen einer Forschungskooperation?

Ausgehend von meinen Erfahrungen in der Betreuung von Diplomarbeiten, die qualitative und partizipative Methoden anwenden, entwickelte ich ab 2005 mit den Studierenden folgende Struktur bzw. Regeln:

Die Diplomanden treffen sich wöchentlich für mindestens 2 Stunden, in der einen Woche mit der Betreuerin, in der darauffolgenden Woche ohne diese. Regelmäßige Teilnahme ist von der Themenfindung an verpflichtend. Mit der Betreuerin können alle Fragen besprochen werden, für die in der Gruppe keine Klärung erreicht wurde. Fragen, die am Beispiel einer Arbeit mit der Betreuerin besprochen bzw. diskutiert werden, können von den Anderen auf ihre Arbeit übertragen und durchdacht werden. Die regelmäßige gemeinsame Interpretationsarbeit, d.h. Perspektivenvielfalt trägt dazu bei, dass in qualitativen Diplomarbeiten mehr als die Bestätigung von Vorurteilen erreicht wird.

Steht eine Diplomarbeit vor dem Abschluss, kann ein neues Mitglied in die Gruppe aufgenommen werden. In einer laufenden Gruppe wie dieser können die Studierenden ihr in der Gruppe erworbenes Wissen an NachfolgerInnen weitergeben, so sind die interne Weitergabe von Wissen und Erfahrungen, eine Intervisionskultur und eine gemeinsame Literatursammlung (inhaltliche und Methodenliteratur) gewährleistet und gleichzeitig wächst unter den DiplomandInnen Sicherheit bezüglich des eigenen Könnens bzw. Erreichten.

Wofür ist eine Arbeitsgruppe außerhalb der beforschten psychosozialen Einrichtung notwendig?

Zentrale Herausforderungen in qualitativer und partizipativer Forschung sind m.E. das Pendeln zwischen teilnehmender Nähe und analytischer Distanz. Berg und Fuchs (1993) beschreiben beispielsweise das Konzept der teilnehmenden Beobachtung (»Teilnahme und Distanznahme«) als paradox und »in sich spannungsgeladen« (S. 18). In den Datenerhebungsphasen (wenn nicht bereits im Praktikum) in Feldern der ajb entwickelte sich bei allen ForscherInnen eine Nähe zu den InterviewpartnerInnen. Es ist eine zentrale Aufgabe der Diplomarbeitsgruppe, sich mit den Chancen und Gefahren auseinander zu setzen, die diese Nähe impliziert. Denn in einer Forschungskooperation, wie der hier beschriebenen besteht die Gefahr, sich vom Feld instrumentalisieren zu lassen und die beobachtende und analytische Distanz zu verlieren bzw. nicht wieder herstellen zu können. Diese Gefahr besteht wiederholt im Forschungsprozess:

In der Phase der Themenfindung, der Eingrenzung und Operationalisierung der Forschungsfrage: Die Studierenden brauchten Unterstützung, um eine im Rahmen einer Qualifikationsarbeit bearbeitbare Fragestellung zu entwickeln. Die Fragen aus der Praxis waren in den meisten Fällen eher global oder aber enthielten den Wunsch, etwas konkret nachzuweisen, was die Einrichtung als Argument gegenüber z.B. Auftraggebern verwenden kann. Die Entwicklungsarbeit musste also in Richtung Konkretisierung der Fragestellung bei gleichzeitiger Ergebnisoffenheit gehen.

In der Phase der Auswahl der InterviewpartnerInnen bzw. MitforscherInnen: Einige PraktikerInnen neigten dazu, bestimmte Personen als InterviewpartnerInnen vorzuschlagen und andere schützen zu wollen. Dem konnte über die Reflektion der Auswahl in der Diplomarbeitsgruppe und Rücksprachen mit denjenigen, die den Zugang zu konkreten Forschungsfeldern ermöglichten und verantworteten, entgegen gewirkt werden. Wechselseitige Verbindlichkeit, Transparenz und wachsendes Vertrauen (z.B. durch die ersten Ergebnispräsentationen) waren Schlüssel für wachsende Gestaltungsspielräume im Rahmen der Forschungskooperation.

In der Phase der Auswertung: Hier brauchten die DiplomandInnen Raum und Zeit, um wieder analytische Distanz herstellen zu können. Als Betreuerin konnte ich sie vor drängenden Fragen aus der Praxis schützen und gleichzeitig in der Praxis sicherstellen, dass die Studierenden methodisch und inhaltlich unterstützt werden und Ergebnisse erarbeiten, die der Praxis anschließend zur Verfügung gestellt werden.

In der Phase der Rückmeldung der Forschungsergebnisse: Es erfordert doppelt Mut einerseits heuristisch und ergebnisoffen zu forschen und andererseits Neues und das Forschungsfeld eventuell Verstörendes auch schriftlich zu dokumentieren und zurückzumelden. Die Arbeitsgruppe hat sowohl ermutigt, Verstörendes zu denken und die Denkmuster des Praxisfeldes zu verlassen, als auch zu diskutieren, ob unter Berücksichtigung von Anonymisierung, Ergebnisse rückgemeldet werden können, ohne Einzelnen zu schaden. Dieser Prozess korrespondierte mit deutlich formulierten Wünschen aus der ajb verstört zu werden, d.h. Entwicklungsimpulse zu erwarten (was die Angst und Sorge einzelner Einrichtungen oder Personen nicht unbedingt mindert).

Das Besondere an der ajb-Arbeitsgruppe war m.E., dass sie einen gemeinsamen Arbeits- und Denkort zur Verfügung hatte. Die Studierenden konnten jederzeit bei Bedarf in Räumen der Universität arbeiten, die gemeinsame Küche nutzen. Es entwickelte sich nicht nur eine lebendige, kreative und konstruktive Arbeits- und Denkatmosphäre, sondern auch ein konkretes Unterstützungsnetz, um die Arbeit fertig zu stellen.

Abschließende Überlegungen (Ute Meybohm und Anja Hermann)

Mit der Einführung der Ringvorlesung wurde für MitarbeiterInnen und Studierende in der ajb gmbh ein gemeinsamer Ort gefunden, Ergebnisse vorzustellen, gemeinsam zu diskutieren und Ideen weiter zu entwickeln, die dann im Qualitätszirkel oder im Projektleitungsausschuss bearbeitet werden konnten. Die Ringvorlesung sollte nach Beendigung der Forschungskooperation weiterentwickelt werden zu einer internen Fortbildungsreihe von MitarbeiterInnen für MitarbeiterInnen. Dieses Vorhaben konnte leider nicht umgesetzt werden. Meines Erachtens (Ute Meybohm) liegt ein Grund darin, dass die Ringvorlesung ihre Lebendigkeit aus der Innen- und Außensicht (ajb und Universität) bezog. Dies war die Quelle für Neugier und gemeinsames Lernen, die im Träger allein nicht hergestellt werden kann. Auch Fortbildungsverbünde und Qualitätsgemeinschaften über Wohlfahrtsverbände oder andere Träger sind nicht frei von Konkurrenz und Marktinteressen, was den Grad an Offenheit einschränkt. Insofern würden wir uns freuen, wenn es in den Universitäten auch weiterhin Interesse an gemeindepsychologischer Forschung und Zusammenarbeit mit freien Trägern gibt und die Ausbildung nicht allein in universitären Institutsambulanzen erfolgt. Allein die Anzahl der abgeschlossenen Diplomarbeiten und die nun veröffentlichten Artikel dokumentieren die Fruchtbarkeit unserer Forschungskooperation. Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal bei allen bedanken, die die Kooperation mitgetragen haben und lebendig werden ließen: Wir danken allen InterviewpartnerInnen bzw. MitforscherInnen, den ehemaligen DiplomandInnen, deren Engagement teilweise weit über die Abgabe der Diplomarbeit hinaus ging (da die Ergebnispräsentationen und -diskussionen anschließend stattfanden), den beteiligten und interessierten MitarbeiterInnen und dem Qualitätszirkel der ajb!

Auf der "Praxistagung Klinische Psychologie. Kooperation zwischen Universität und psychosozialer Praxis" am 9.11. 2007 fassten DiplomandInnen und wir unter der Überschrift  "Nicht mehr für die Schublade" bereits zusammen, was wir hier nun ausgeführt haben:

Literatur

Berg, E. & Fuchs, M. (Hrsg.) (1993). Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Endnote

  1. seit 2008 Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie

Autorinnen

Dipl.-Psych. Ute Meybohm
ajb gmbh - gemeinnützige Gesellschaft für
Jugendberatung und psychosoziale Rehabilitation
Geschäftsführerin Ute Meybohm
Kottbusser Damm 79 A
D-10967 Berlin
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailu.meybohm@bitte-keinen-spam-ajb-berlin.de

Ute Meybohm, Diplompsychologin, Psychologische Psychotherapeutin  und
Geschäftsführerin der ajb GmbH, einem gemeinnützigen Träger für Jugendberatung und psychosoziale Rehabilitation, Delegierte der Berliner Psychotherapeutenkammer.

Anja Hermann, promovierte Diplompsychologin, nach langjähriger Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Freien Universität mit den Arbeitsschwerpunkten Gemeindepsychologie, psychosoziale Versorgung, Dialog- und Kooperationsmodelle sowie Psychoonkologie, seit Ende 2008 als Psychologin im Brustzentrum des Klinikums Ernst von Bergmann in Potsdam tätig.



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