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Anerkennung in der psychosozialen Betreuung - "die wilde Ehe von Freiheit und Sicherheit"

Carolin Vierneisel
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 1]


Zusammenfassung

Anerkennung - ein Begriff, der breit gefächerte Assoziationen weckt und ein Thema, das ein weites Feld theoretischer Auseinandersetzungen öffnet. Weitaus weniger gibt es zu diesem Thema aus der Praxisforschung zu berichten. Die vorliegende Untersuchung geht daher der Frage nach, wie Anerkennungsprozesse als wichtige Elemente der Identitätsausbildung im psychosozialen Kontext aus der Sicht von jungen Erwachsenen erlebt werden. Dazu arbeitete ich mit einem Projekt zum betreuten Wohnen zusammen und sprach mit in der Einrichtung Betreuten über ihr dortiges Erleben. Über Einzelinterviews (Witzel, 2000) und die Verwendung der Grounded Theory (Glaser & Strauss, 1967) arbeitete ich verschiedene, hier dargestellte Formen der Anerkennung heraus. Zusammengeführt werden soziologische und psychologische Ansätze, um für das Erleben der jungen Erwachsenen einen umfassenden, Verständnis schaffenden Rahmen anzubieten. Abschließend werden die Ergebnisse kurz vor betreuungsspezifischem und gesellschaftspolitischem Hintergrund diskutiert.

Schlüsselwörter: Anerkennung, Bindung, psychosoziale Betreuung, junge Erwachsene, Freiheit, Sicherheit

Summary

Recognition in psycho-social support and care - "The concubinate of freedom and security"
Recognition - a term that awakes broad associations and a topic that opens a wide area of theoretical discussions. Far less can be reported on that topic from a perspective related to psychosocial practice. The present study examines the question how recognizing processes - as essential elements of identity formation - are experienced by young adults in a psychosocial context. To do so I collaborated with a project on assisted living and interviewed young adults on their experiences in the project. By conducting interviews (Witzel, 2000) and working with Grounded Theory (Glaser & Strauss, 1967) different forms of recognition are identified which are described in this article. Psychological and sociological approaches are integrated to offer a framework for a comprehensive understanding of the young adults’ experiences. Finally the results of the study are discussed referring to psychosocial and socio-political backgrounds.

Key words: Recognition, attachment, psycho-social support and care, young adults, freedom, security

1. Einleitendes zum Thema Anerkennung

Identitätskonstruktionen vollziehen sich heute angesichts augenscheinlich unendlicher Möglichkeiten der Lebensführung und eines anderen gesellschaftlichen Hintergrunds als es noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war (vgl. Keupp et al., 2006). Einst klare, lebensnahe Orientierungspunkte, aber auch gesellschaftlich vorgegebene Richtlinien, die für die Identitätsentwicklung genutzt werden konnten, werden von einer Optionenvielfalt abgelöst, die nur noch durch z.B. einen Faktor wie soziale Herkunft weiterhin eingeschränkt bleibt (vgl. Keupp, 2002). Die Wahrnehmung dieser Optionen und der einhergehenden, wachsenden Eigenverantwortung ihrer Handhabe wandeln sich bei jungen Erwachsenen allerdings oft von Chancen hin zu entwurzelnden Faktoren - von Möglichkeiten zur Freiheitsmaximierung hin zur Quelle der Verunsicherung (ebd.). Solch eine verunsichernde Erfahrung bei den jungen Erwachsenen kann sich dann weiter verstärken, wenn ihr Leben den verbliebenen gesellschaftlichen Normen von Erleben und Existenz, wie z.B. psychische Gesundheit oder ein von illegalisierten Drogen freier Alltag, nicht entspricht. In diesem Fall bringen die jungen Erwachsenen, wenn wir die Identitätsbildung als Teil eines Austauschs zwischen Individuum und Gesellschaft verstehen, mit eben z.B. ihrem psychischen Erleben etwas in diesen Austausch ein, dem, trotz der postmodern verkündeten wachsenden Pluralität (Keupp, 2006), keine Anerkennung von Seiten der Gesellschaft zuteil wird - wenn nicht sogar Stigmatisierungs- bzw. Ausgrenzungsprozesse die Folge sind.

Diese elementare Bedeutung von Anerkennung als Teil der wechselseitigen Interaktion von Gesellschaft und Individuum, und somit als Teil einer "gelingenden Identitätsarbeit" (ebd.), ist bereits weitläufig bekannt und wurde früh beschrieben (vgl. Hegel, 1967). Der Blick in die Praxis zeigt, dass Menschen mit psychischen Problemen sich trotz nicht zuteil gewordener Anerkennung in gesellschaftlich normierten Rollen aktiv ihre eigenen, wenn auch zerbrechlichen Identitäten aufbauen (Zaumseil & Leferink, 1997). Verschiedene Quellen können dabei anerkennendes Erleben ermöglichen. So führt Honneth als Bezugspunkt beispielsweise von ihm als "counterculture" (S. 200, 1994) bezeichnete spezifische Subgruppen an. Zaumseil und Leferink (1997) heben ihrerseits die Möglichkeit einer weiterhin starken kulturellen Prägung dieser Identität hervor. Aufgrund der erkannten praktischen Bedeutung dieser Anerkennungsprozesse wird neben den theoretischen Debatten (vgl. Honneth, 1994) auch zunehmend mehr praxisrelevanten Fragen, z.B. aus dem sozial-psychiatrischen Kontext, nachgegangen (Filsinger, 2003).

Es stehen Fragen im Raum wie: Welche Rolle spielen Anerkennung und anerkennendes Verhalten in der Arbeit mit Menschen mit psychischen Problemen? Welche biographischen Hintergründe der Betreuten lassen Anerkennung in einem Betreuungskontext eine solche Rolle spielen? Und: Wie lässt sich das beschreiben, was Betreute als Erleben von Anerkennung schildern und daraus abgeleitet die Frage: Welche ganz praktischen Konsequenzen können Betreuende aus all dem für ihren Arbeitsalltag ziehen?

Durch eine Forschungskooperation zwischen der Freien Universität Berlin und einem Träger für Betreutes Wohnen in Berlin, der Allgemeinen Jugendberatung (ajb) ergab sich für mich die Möglichkeit, jene Anerkennungsformen und -prozesse allgemein und die oben formulierten Fragen im Speziellen bei einer Gruppe junger Erwachsener näher zu betrachten. Bei den betreuten jungen Erwachsenen handelt es sich zudem um Mitglieder einer Gruppe, die durch weitere in der Gesellschaft stigmatisierte Attribute verhältnismäßig viele stark verunsichernde Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt hatten: junge Erwachsene mit psychischen Problemen bei gleichzeitigem Drogenkonsum, also junge Erwachsene mit einer im (sozial-)psychiatrischen Sprachjargon so genannten "Doppeldiagnose". Ziel der Untersuchung ist es, ein erweitertes Verständnis über diese Prozesse und die Lebenssituationen der jungen Erwachsenen zu ermöglichen.

Zunächst werden in diesem Beitrag theoretische Stränge aus Soziologie und Psychologie als Interpretationshintergrund für die später dargestellten Untersuchungsergebnisse verknüpft. Nach einer kurzen Skizzierung der Einrichtung und der Rahmenbedingungen, innerhalb der und derer ich in diesem Zusammenhang arbeitete, beschreibe ich im Anschluss die Gruppe junger Erwachsener, die in der Einrichtung zum Untersuchungszeitraum betreut wurde. Die Beschreibung der Gemeinsamkeiten innerhalb der Gruppe dient als Verständnisgrundlage für die darauf folgende Darstellung der von den Betreuten in der Einrichtung erlebten Anerkennung. Den Beitrag abschließend werden die Ergebnisse vor betreuungsspezifischem und gesellschaftspolitischem Hintergrund diskutiert.

2. Anerkennung und Bindung - Theoretischer Hintergrund

Die folgenden Darstellungen der Konstrukte Anerkennung (Honneth, 1994 bzw. zur Rolle von Anerkennung im Identitätskonstruktionsprozess: Keupp et al., 2006) und Bindung (Bowlby, 1975; Ainsworth, 1989) bilden einen möglichen Interpretationsrahmen für die später dargestellten empirischen Ergebnisse der Untersuchung.

In der Konzeption der Identitätskonstruktion von Keupp et al. (2006), in der sie diese als "offenen Prozess, der einer alltäglichen und zugleich lebenslangen Bearbeitung zugänglich ist" (S.189), verstehen, verorten sie Anerkennung als ein zentrales Identitätsziel (S. 265). Es gilt demnach, dieses Identitätsziel über eine Syntheseleistung, d.h. in diesem Fall die Integration der Bedürfnisse nach Anerkennung und Autonomie, zu erreichen. Im Zuge der so genannten dialogischen Wende der Identitätsforschung bilden Anerkennungsprozesse auch eine Basis für individuelle Identitätsarbeit, wenn "soziale Netzwerke als Bezugspunkte für den kontinuierlichen Abgleich von Fremd- und Selbstwahrnehmung" dienen (S. 99) und folglich Identität "stets in einem Prozess dialogischer Anerkennung" entsteht (S. 201).

Eine systematische Aktualisierung und Weiterentwicklung des bereits bei Hegel (1967) erörterten Anerkennungstheorems erfolgt bei Honneth mit seiner Theorie zur moralischen Entwicklung von Individuen in der Gesellschaft (1994). Als Soziologe liegt sein Schwerpunkt dabei auf den gesellschaftsbezogenen Dimensionen der Theorie. Nichtsdestotrotz bezieht er in seiner Beschreibung der wechselseitigen Interaktionen zwischen Individuum und Gesellschaft auch psychologische, genauer: psychoanalytische Erklärungsmodelle zur Herausbildung von Individualität ein. Die Grundidee des anerkennungstheoretischen Gedankens bildet dabei die Annahme, dass Menschen eigene Handlungsfreiräume wahrnehmen und leben und sie aber gleichzeitig freiwillig zugunsten von Handlungsfreiräumen anderer begrenzen. Dies wird konflikttheoretisch durch die These angereichert, dass Menschen durch eine erfahrene Verweigerung dieser Gewährung von Freiräumen in einen Kampf um Anerkennung eintreten. Reifere Anerkennungsbeziehungen seien folglich nur durch vorher erlebte Missbilligung der eigenen Person möglich (Beispiele s. Tabelle 1). Diese Anerkennungsbeziehungen seien notwendig, damit sich der Mensch positiv mit seinen Eigenschaften identifizieren könne. Eine wachsende Individualisierung werde erreicht durch ein stetiges Erkämpfen und Erleben höherer, aufeinander aufbauender Anerkennungsebenen.

Honneth beschreibt drei Formen, d.h. Arten und Weisen der Anerkennung: (a) emotionale Zuwendung, (b) kognitive Achtung und (c) soziale Wertschätzung (s. Tabelle 1).

(a) Die emotionale Zuwendung drückt sich nach Honneth in Form von Liebe und Zuneigung aus. Diese könne zu und mit Eltern, Partner/inne/n in einer Liebesbeziehung oder Freund/inn/en bestehen. Hier werde die konkrete Bedürfnisnatur des Individuums, d.h. das Individuum als bedürftiges Wesen anerkannt. Affektive Zustimmung und Ermutigung, Befriedigung und Erwiderung seien die Mittel zur Erfahrung dieser Anerkennungsform. Erfahre ein Individuum diese Form der Anerkennung, könne es zur Ausbildung von Selbstvertrauen kommen. Diese Herausbildung beschreibt Honneth anhand der psychoanalytischen Theorie der Objektbezogenheit von Winnicott (1990) bzw. deren Bezug auf die Theorie der affektiven Bindung: Zeige ein Kind die - durch die Gewissheit der Dauerhaftigkeit der mütterlichen Zuwendung entwickelte - Fähigkeit zum Alleinsein, sei dies ein praktischer Ausdruck einer Form der individuellen Selbstbezogenheit, was nach Erikson (2000) mit Selbstvertrauen gleichzusetzen ist.

Ergänzend und erweiternd ist es an dieser Stelle, einen kurzen Exkurs in die psychologische Diskussion der Bindungserfahrungen zu unternehmen. Nach Bowlby (1975) und Ainsworth (1989) können Menschen im Rahmen einer Beziehung anderen einen schützenden Hafen (safe haven) anbieten, der sich dadurch auszeichnet, dass er jederzeit in Anspruch genommen werden kann, um Schutz und Sicherheit zu suchen. Gleichzeitig könne eine Beziehung auch eine sichere Basis (secure base) und einen stabilen Ausgangspunkt bilden, von dem ausgehend eine Erkundung der Umwelt möglich sei. Fügt man diesen zwei Komponenten noch die der Beibehaltung der Nähe (proximity maintenance) und die des Stress bei Trennung (separation distress) hinzu, spricht Ainsworth von emotionaler Bindung, attachment (s. Schaubild 1).

Abbildung 1: Bindungskomponenten, Smith, 2002, Theorien und Methoden in der Entwicklungspsychologie

Eine emotionale Bindung definiert Ainsworth als andauernde Beziehung, in der sich Partner/innen als einzigartige Individuen wichtig genommen und nicht durch andere Personen ersetzbar fühlen. Bekannt ist die Bindungstheorie hauptsächlich aus dem Kleinkindkontext, in dem Kinder sichere, unsicher-ambivalente und unsichere Bindungsstile ihren Bindungspersonen gegenüber zugeordnet bekommen (Ainsworth, 1989). Der Theorie zufolge trägt Bindungssicherheit mit dem feinfühligen und auf das Kind eingehenden Verhalten der Bindungsperson zur Ausbildung von Selbstvertrauen beim Kind bei. Bereits Bowlby (1975) weist darauf hin, "daß Bindungsverhalten nicht nach der Kindheit verschwindet, sondern das ganze Leben hindurch anhält" (S. 319). Bindungserfahrungen prägen so genannte innere Repräsentationsmodelle, die wiederum den Umgang mit Emotionen und darüber hinaus das Verhaltenssystem, wie Exploration, Zuneigung, Partnerschaft und Sorgeverhalten beeinflussen (Ainsworth, 1989; Bowlby, 1975; George, Kaplan & Main, 1996). Nach Bowlby (1975) entwickelt sich im Zuge dessen auch ein Selbstmodell mit zwei Komponenten: zum einen die Komponente, wie man sich selbst erlebt (ob als liebenswert etc.) und zum anderen die, welche Erwartungen man an das Verhalten anderer einem selbst gegenüber stellt (ob vertrauenswürdig etc.). Diese internen Arbeitsmodelle dienten dem Individuum dazu, sich in seiner Umgebung zurechtzufinden und Gefühle der Sicherheit zu maximieren. Nach Buhrmester (1992) ist es ab einer späten Phase der Adoleszenz möglich - u.a. als Ausgleich für die wachsende Autonomie von den Eltern als primäre Bindungspartner/innen - neue Bindungen aufzubauen. Diese könnten z.B. zu Therapeut/inn/en entwickelt werden. Durch die Beziehungsarbeit mit den Therapeut/inn/en könnten sich Veränderungen von bestehenden Repräsentationsmodellen vollziehen. Veränderte Repräsentationsmodelle könnten das Umfeld und Beziehungen anders und neu erfahrbar machen und so für ein verstärktes Sicherheitsgefühl sorgen, welches wiederum die weitere Ausbildung von Identität und Persönlichkeit vorantreibe. Ähnliches gilt für Menschen aus dem Freundeskreis (Ainsworth, 1989). Manche Freundschaften seien ausreichend eng und andauernd genug, um als emotionale Bindung zu gelten. Dies beinhalte wieder, dass sich die Partner/innen in der Beziehung als unersetzbar und einzigartig wertgeschätzt fühlten. So könnten Bindungen - mit u.a. zwei ihrer wichtigen Faktoren, der Bereitstellung eines schützenden Hafens und einer sicheren Basis - auch nach dem Kindesalter, sowohl mit Gleichaltrigen als auch älteren, z.T. Lebenshilfe leistenden Personen entstehen und so einen neuen Umgang mit dem sozialen Umfeld durch die Veränderung von Repräsentationsmodellen ermöglichen.

Neben der Komponente emotionale Zuwendung (bzw. Bindung bei Ainsworth) betrachtet Honneth aber noch zwei weitere Elemente von Anerkennung:

(b) Die Erfahrung Kognitiver Achtung werde einem Individuum ermöglicht durch bestehende Rechtsverhältnisse, d.h. durch das dem Individuum jeweils zustehende Recht.

Objekt der Anerkennung sei hierbei die moralische Zurechnungsfähigkeit des Individuums und dessen Status als "frei" und "Person". Erfahren werde diese Anerkennung dadurch, dass das eigene Handeln als Äußerung der eigenen Autonomie erlebt würde. Die Erkenntnis, dass man als Person anerkannt wird, die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an der diskursiven Willensbildung befähigen, schaffe eine positive Form des Selbstbezugs, d.h. Selbstachtung. Problematisch sei hierbei zum einen der "Gewährleistungsprozess", d.h. welche Partei A bewertet Partei B als (un-)zurechnungsfähig. Zum anderen habe sich die Art und Anzahl der Rechte im Laufe der Zeit erweitert (z.B. von Freiheits- zu Wohlfahrtsrechten), was die Frage aufbringe, wer diese Rechte in Anspruch nehmen kann, und damit letztlich wieder den Kampf von Individuen um diese Anerkennungsform initiiere.

(c) Die dritte Form der Anerkennung ist nach Honneth die soziale Wertschätzung. Anerkannt würden hierbei spezifische Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen, weshalb sie auch die letzte der drei Anerkennungsstufen darstelle. Als Voraussetzung für eine solche Bewertung von Eigenschaften stünde zunächst eine Orientierung der Gruppe an gemeinsamen Werten. Fähigkeiten und Eigenschaften würden danach beurteilt, in wieweit sie zu der Umsetzung der kulturell definierten Werte beitragen könnten. So gebe das kulturelle Selbstverständnis einer Gemeinschaft die Bewertungskriterien vor. Wenn Individuen nun Leistungen auf sich zurück beziehen könnten und das Vertrauen hätten, dass diese Leistungen in der Gesellschaft als wertvoll angesehen würden, entstünde eine weitere Form des positiven Selbstbezugs, die der Selbstschätzung. Selbstschätzung bei Honneth entspricht dem gebräuchlicheren Begriff des Selbstwertgefühls. Die Brisanz hierbei betrifft wieder die Frage, wer die Deutungs- und Bewertungshoheit darüber hat, was als wertvoll angesehen werden kann. Die soziale Wertschätzung befindet sich nach Honneth so im permanenten Kampf zwischen den Gesellschaftsgruppen, die jeweils versuchen, die Werte ihrer Lebensführung aufzuwerten. Er deutet hier auch den Zusammenhang von Bestimmungshoheit und ökonomischen Mitteln heraus.

3. Rahmenbedingungen der Untersuchung

In der Untersuchung arbeitete ich mit einem Projekt der Allgemeinen Jugendberatung (ajb) zusammen, das jungen Erwachsenen mit psychischen Problemen und Drogengebrauch betreutes Einzelwohnen und zusätzlich Tagesstrukturierung durch den Besuch eines Treffpunkts (an-)bietet. Neben einer Bezugsbetreuung (jede/r Klient/in wird eng von einer bestimmten im Projekt arbeitenden Person betreut) zeichnet sich das Projekt durch die niedrigschwellige Konzeption aus, die von den Betreuten keine vollkommene Drogenabstinenz, sondern eine so genannte Punktnüchternheit (z.B. während des Aufenthalts im Treffpunkt) fordert. Um einen Eindruck von den Abläufen im Treffpunkt zu bekommen, d.h. auch einen besseren Zugang zu den Betreuten und ihrem Erleben, besuchte ich drei Monate lang regelmäßig verschiedene Angebote des Treffpunkts, wie das gemeinsame Frühstück, das Mittagessen, nahm an Ausflügen teil und verbrachte daneben Zeit mit den Betreuten in den Räumen des Treffpunkts. Nach dieser Zeit traf ich mich gesondert mit fünf der Betreuten, um mit ihnen darüber zu sprechen, wie sie die Einrichtung erleben (Problemzentriertes Interview, Witzel, 2000). Die befragten Betreuten waren zum Zeitpunkt der Interviews im Alter zwischen 18 und 26 Jahren, lebten zwischen drei Monaten und eineinhalb Jahren in der Einrichtung der ajb, hatten alle mindestens einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung und - neben der ajb - weitere psychosoziale Betreuungsangebote erlebt. Alle gaben sie an, Drogen über einen längeren Zeitraum und regelmäßig zu konsumieren oder konsumiert zu haben. Als diagnostizierte Störungsbilder wurden von den interviewten jungen Erwachsenen verschiedene benannt: "Schizophrenie", "drogeninduzierte Psychose", "Borderline" und "Depression".

4. Die Gruppe der jungen Erwachsenen - "Verunsicherung des Selbst"

Zur Lebenssituation junger Erwachsener mit einer so genannten Doppeldiagnose und den für sie spezifischen Herausforderungen in ihrer Identitätsentwicklung gibt es weder umfassende systematische Reflexionen noch empirische Arbeiten, die ihre Lebens- und Erfahrungswelt aus ihrer eigenen Perspektive heraus hinreichend genau beschreiben. Meist bleibt es bei einer reduzierten Darstellung ihrer stigmatisierten Attribute: dem Drogenkonsum und ihren psychischen Problemen. Auf die Bedeutung, die diese für sie haben, wird nur selten eingegangen (vgl. Holzer, 2001). Um jedoch ein Verständnis für das Erleben der jungen Erwachsenen zu bekommen, halte ich es für sinnvoll, ihre Perspektive in diese Beschreibungen mindestens mit einzubeziehen, wenn nicht sogar zur Grundlage aller diesbezüglichen Aussagen zu machen. Daher werden im Folgenden auf der Basis fünf qualitativer Interviews zu den Erfahrungshintergründen der jungen Erwachsenen erste Antworten auf die eingangs gestellten Fragen und damit ein tieferes Verständnis für die Lebenssituation der Betreuten gesucht. Die Untersuchung bzw. die Auswertung basieren methodologisch bzw. methodisch auf der Grounded Theory (Glaser & Strauss, 1967). Die Darstellung der Ergebnisse in dem vorliegenden Text setzt sich zum einen aus der verdichteten Darstellung der in der Untersuchung herausgearbeiteten und in meiner Arbeit von 2006 (Vierneisel, 2006) umfassender dargestellten Interpretationen zusammen. Zum anderen werden jeweils im Anschluss an die interpretativen Zusammenfassungen Zitate der Interviewten aufgeführt, die - in Blöcken gebündelt - eine möglichst große eigene Aussagekraft entwickeln sollen. Dabei gilt, dass nicht alle Aussagen über alle interviewten Personen hinaus verallgemeinerbar sind.

Als ihnen gemeinsam wird von den interviewten Betreuten dargestellt, dass die erlebte Anerkennung in der Einrichtung für sie erst dadurch eine so große Bedeutung gewinnt, weil sie diese bisher in ihrem Leben in dieser Form oft nicht kennen lernen konnten. Ihre bisherigen Erfahrungen beschreiben sie eher als ihr Selbst bzw. das verunsichernd, was im Prozess war oder ist, sich dazu zu entwickeln. Die Ursprünge dieser Verunsicherung können an drei Punkten ausgemacht werden: an (a) einer erlebten Ausgrenzung, (b) einer erlebten Entmündigung (im sozial-psychiatrischen Kontext) und (c) erlebten Zweifeln an Eigenem (s. Tabelle 1).

(a) Erlebte Ausgrenzung

Eine intensiv erlebte Ausgrenzung nimmt ein Teil der Betreuten bereits sehr früh in der individuellen Persönlichkeitsentwicklung durch ihr direktes Umfeld wahr, wenn Familie und Freund/inn/e/n auf ihr psychisches Erleben und ihren Drogenkonsum mit Unverständnis und Verurteilungen reagieren (→ Zitate 1 und 2). Die jungen Erwachsenen haben nicht das Gefühl und auch nicht die Gewissheit, auf Rückhalt oder Hilfe aus ihrem sozialen Netzwerk bauen zu können (→ 3). Ablehnende zwischenmenschliche Erfahrungen in Form von entgegengebrachtem Unverständnis und Verurteilung erleben die jungen Erwachsenen auch durch den wahrgenommenen Umgang des erweiterten Umfeldes und der Gesellschaft mit Psychose- und Drogenkonsumerfahrenen. Neben der grundsätzlichen Stigmatisierung von Drogengebrauch, erzeugen vor allem die Unsicherheit anderer Menschen im Umgang mit unvertrautem psychischen Erleben und deren Vorsicht oder sogar Angst im Umgang mit Fremdem, so die interviewten Betreuten, dass sie sich wiederum im gesellschaftlichen Miteinander ausgegrenzt und an den Rand gestellt fühlen (→ 4). Eine weitere Ausgrenzungserfahrung besteht darin, dass ihnen regelmäßig vermittelt wird, sie könnten die an sie gerichteten Erwartungen nicht erfüllen und würden den gesellschaftlich normierten Rollen nicht gerecht (→ 5).

Zitate

(1) Hab' nich' so funktioniert, wie meine Eltern das wollten. Da hab' ich nur Ablehnung erfahren. [...] Also, für viele Leute war ich dann abgeschrieben. Auch die ganze Familie, das is' alles weg gebrochen. Für die bin ich der Irre. (I 2, Z. 459-461 und 1440-1443)

(2) Da hab' ich mich gefühlt wie ein ausgesetzter Hund, irgendwie. Bin dann irgendwie auch kaputt gegangen, hab' viel getrunken und konsumiert. (I 3, Z. 43-46)

(3) Also, ich hab' Leute in höchster Verzweiflung angerufen, "Mensch, ja, du musst mir helfen", und so. Viele Freunde, also Pseudofreunde, ham mich total im Stich gelassen, auch innerhalb der Psychose. (I 2, Z. 1412-1416)

(4) Wenn man in der Außenwelt jetzt auf jemanden trifft und sagt, "Ey, du, ich bin schizophren", dann kommt da "Uh, was, Geistesspaltung? Öh, wirst du gleich zum Monster?" Da fehlt halt der Gesellschaft 'n bisschen die Toleranz. (I 5, Z. 804-809)

(5) Die Gesellschaft an sich stellt ja einfach Ansprüche an dich. Und wenn du dann einfach nicht so funktionierst, dann kriegst Du fast Minderwertigkeitskomplexe." (I 2, Z. 1649-1653)

(b) Erlebte Entmündigung

Eine weitere Quelle für Verunsicherungen des Selbst stellen erlebte Entmündigungen dar, wie beispielsweise Erfahrungen im sozial-psychiatrischen Kontext, bei dem Entscheidungen über die Köpfe der interviewten Betreuten hinweg getroffen, oder eine Form des körperlichen Ausgeliefertseins erfahren wurde. Die Betreuten schildern z.T. Zwangseinweisungen, bei denen sie in eine passive Rolle gedrängt wurden, in der sie nicht mehr selbst entscheiden (→ Zitat 1). Stattdessen wird für sie entschieden und die Betreuten empfinden ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Dieses Gefühl lässt sie sehr direkt und klar spüren, dass sie nicht mehr selbst, sondern andere über ihr Leben bestimmen, d.h. auch der eigene Wille von anderen nicht mehr respektiert wird. Die Erfahrung entmündigt zu werden, muss jedoch nicht durch physisches Ausgeliefertsein gemacht worden sein; viel häufiger und alltäglicher erleben es die interviewten Betreuten, wenn ihnen ein Austausch mit Mitarbeitenden in Behörden oder sozialpsychiatrischen Einrichtungen auf gleicher Augenhöhe verwehrt wird (→ 2) und Entscheidungen, die sie betreffen, so z.B. zur Betreuung oder Jobsuche von außen, also z.B. durch Behörden getroffen werden (→ 3 und 4).

Zitate

(1) Und, ja, irgendwann bin ich dann auf der Landstraße von der Polizei aufgefasst worden und das erste Mal in die Klinik befördert worden. Da ham se mich dann fixiert, was keine sehr schöne Erfahrung is', eine sehr negative Erfahrung. (I 5, Z. 32-36)

(2) Es ging nur über Vorschriften, "musst das machen, musst das machen". [...] Die Betreuer [Anm: vorherige Betreuungseinrichtung] waren natürlich an sich nett usw. usf., aber sie haben mich halt wie 'n Kind behandelt. Quasi so, als ob ich nicht selber denken könnte. (I 5, Z. 625-633)

(3) Zur Anfangszeit war ich sehr selten hier, weil sie [Anm.: Angestellte des Sozialpsychiatrischen Dienstes] mich reingelegt haben. [...] Na, ja, die hatten gesagt, das is' keine Betreuung. (I 4, Z. 639-645)

(4) Und die Meinung der SPD [Anm.: Sozial Psychiatrischer Dienst] Leute besagt ja auch, dass ich mich festigen soll und dann arbeiten gehen soll. Aber die wissen ja eigentlich nich', wie's mir halt ging (I 3, Z. 1082-1085)

(c) Erlebte Zweifel am Eigenen

Die in (a), Erlebte Ausgrenzung, bereits aufgeführten Erfahrungen der Minderwertigkeit aufgrund des Nichtfunktionierens in der Gesellschaft, bedingen mit die erlebten Zweifel am Eigenen, d.h. die Zweifel an dem, was man bisher als das Eigene in Form eines Selbstkonzepts erlebt hat. Ausgangspunkt sind meist konkrete Erfahrungen in einzelnen Situationen, oftmals in einer akuten Psychose, die gebündelt dazu führen, eigene Kompetenzen radikal in Zweifel zu ziehen (→ Zitat 1). Dies resultiert dann oft in einem prinzipiellen Infragestellen der eigenen Fähigkeit, in dieser Welt bestehen zu können (→ 2). Gerade nach einer akuten Psychose werden existentielle Fragen aufgeworfen, wenn in dieser als "real" Erlebtes im Nachhinein eine andere Deutung durch die Betreuten erfährt und sich bei ihnen ein Gefühl einstellt, einer "falschen" Realität aufgesessen zu sein (→ 3). Darüber hinaus herrscht oft auch eine große Unsicherheit bis hin zu Ernüchterung, was die eigenen Kontrollmöglichkeiten und den Einfluss auf den Verlauf der Psychose betrifft (→ 4) - als Resultat aus den bisherigen Erfahrungen, dass die Psychose in akuten Phasen allbestimmend sein kann (→ 5).

Zitate

(1) ... dass man also erst mal total verzweifelt, so. Also, ich hadere immer noch mit meinem Schicksal, so, "Scheiss Schizophrenie",  und, "je mehr ich mich kennen lerne,  desto beschissener ist es eigentlich". Wenn man merkt, "Mensch, früher konnteste stundenlang diskutieren und so reden und so weiter", und das geht einfach nich' mehr, also, die Belastungsgrenze is' total gesunken.[...] Ich war Filialleiter, zum Beispiel, und nach zwei Monaten hab' ich festgestellt, dass das nicht geht. Ich hab' mich bei der Kasse verrechnet, ich konnt' mich überhaupt nich' mehr konzentrieren und so weiter. Ich hab' dann von mir aus gekündigt, so dass mein Chef keine Probleme kriegt. (I 2, Z. 168-178 und Z. 282-287)

(2) Manchma' dachte ich, "Mensch, du bist für die Welt einfach nich' geschaffen, aufgrund deiner Sensibilität". (I 2, Z. 1575-1577)

(3) Und dann verändert man halt so seine Realität und da muss man erst rausgerüttelt werden. (I 5, Z. 837-839)

(4) Aber das kann ja immer wieder ma' passieren, dass so was ausbricht. Hab' ich so das Gefühl. Weiß ich nich'. Kann auch anders sein, keine Ahnung. Aber ich hoff' ma', dass das nich' mehr passiert. Also, in der Hinsicht mach' ich mir schon Gedanken. (I 1, 1425-1430)

(5) Mein ganzes Leben is' bestimmt durch die Psychose (I 2, Z. 456-457)


All diese Faktoren in ihren verschiedenen Ausprägungen tragen dazu bei, dass die Interviewpartner/innen in ihrem Lebensverlauf bisher, für ihre Gruppe spezifische, das Selbst verunsichernde Erfahrungen gesammelt haben - Erfahrungen, die die Wahrnehmungen dessen trüben, wer man ist und zu wem man sich entwickeln könnte. Diese erlebte Verunsicherung wirkt auch auf das Verhalten und Erleben der interviewten Betreuten in der sie betreuenden Einrichtung ajb.

5. Erlebte Anerkennung

In den Interviews fragte ich nicht explizit nach anerkennendem Erleben in der Einrichtung. Es zeigte sich erst im Laufe der Gespräche und der Auswertung, dass es dieses Erleben von Anerkennung ist, das die Betreuung für die jungen Erwachsenen mitunter so besonders gestaltet. Die daraufhin vorgenommene Fokussierung von Anerkennung in der Auswertung als axiale Kategorie der Grounded Theory (Glaser&Strauss, 1967) bildet nur einen, wenn auch sehr umfassenden und bedeutenden Ausschnitt des Erlebens der Betreuten in der Einrichtung und entsprechend auch nur einen möglichen Ansatz dieses Erleben zu fassen.

Analog zur Verunsicherung des Selbst sind im Bereich Anerkennung ebenfalls drei Erlebensformen herausgearbeitet. Das meint, dass in der Einrichtung jedem der drei großen Bereiche, in denen oder durch die Verunsicherung erfahren wurde, jeweils ein Weg oder Bereich entgegengestellt werden kann, durch den die Betreuten Anerkennung erfahren können: (a) Anerkennung im Schutzraum, (b) Anerkennung der Freiheiten und (c) Anerkennung durch (Wieder-)Entdecken von Eigenem (s. Tabelle 1). Anerkennung im Schutzraum (a) stand während der Gespräche und im Laufe der Auswertung im Vordergrund und wird hier entsprechend ausführlicher dargestellt.

(a) Anerkennung im Schutzraum

Der Treffpunkt wird von den jungen Erwachsenen als Sicherheit (→ Zitat 1) und Schutz (→ 2) wahrgenommen. Im folgenden Abschnitt dargestellt werden die diese Einrichtung als Schutzraum hauptsächlich auszeichnende Akzeptanz und die weiteren Charakteristiken Schutz, Gleichwertigkeit und Bedingungslosigkeit. Außerdem wird das familiäre Miteinander dargestellt, das sich aus diesen Charakteristiken ergibt sowie die Unterstützungsfunktion des Schutzraums, die sich in gelebtem Verständnis und Rückhalt äußert.

Die interviewten Betreuten beschreiben die durch sie wahrgenommene Realität als z.T. grausam, bedrohlich und beängstigend. Dieser Außenwelt setzt die Einrichtung in den Schilderungen der Betreuten Sicherheit und Geborgenheit entgegen (→ 3), die Betreuten werden in ihrer Schutzbedürftigkeit anerkannt. Was diesen Schutzraum und diese Sicherheit ausmacht und was er aber gleichzeitig für die Betreuten bringt, ist die dabei erlebte Akzeptanz (→ 4). Die akzeptierende Grundhaltung aller im Schutzraum ist gleichzeitig die Basis für das weitere Erfahren von Anerkennung.

In der Einrichtung können sich alle als gleichwertig erleben, d.h. jeder Person wird eine grundlegende Wertschätzung entgegengebracht. Das gilt für die Betreuten untereinander als auch für den Kontakt mit den Betreuenden. Diese tragen mit ihrem gleichwertigen Umgang, der sich oft auch durch Humor zeigt, mit- und untereinander dazu bei, dass eine solch wertschätzende Atmosphäre entstehen kann (→ 5). Es findet keine Abgrenzung statt - auch keine des psychischen Erlebens der Betreuten. Die Betreuten untereinander erleben sich zudem als gleichgestellt, mit gleichen Rechten für alle.

Der erlebte Schutzraum zeichnet sich des Weiteren durch seine Bedingungslosigkeit aus. So, wie die Betreuten sind, können sie ihn nutzen, ohne dass dies an Konditionen gebunden ist (→ 6). Zudem zeigt der Schutzraum eine Kontinuität in der Bedingungslosigkeit, die ein Teil der interviewten Betreuten bisher ebenfalls nicht kannte. Stabilität und Regelmäßigkeit spielen hier eine Rolle und werden von den interviewten Betreuten im Zusammenhang mit "normal", "sicher", "dauernd", "verlässlich" gesehen (z.B. → 12). Durch das gleichwertige Miteinander bietet der Schutzraum für die Betreuten auch die Möglichkeit eines entspannten Zusammenseins. In der Einrichtung müssen sie nicht den gesellschaftlichen Rollen gemäß funktionieren. So wird der Druck, den die interviewten Betreuten zuvor im Alltag aufgrund dessen verspürten, dass sie diesen Rollen nicht hatten entsprechen können, entschärft (→ 7). Stattdessen fühlen sie sich in der Einrichtung angenommen wie sie sind.

Die hier im obigen Abschnitt dargestellten Elemente des Schutzraums stellen die Grundlage dar, auf der die Gesamtgruppe, bestehend aus Betreuenden und Betreuten, eine Gemeinschaft, eine zweite Familie, bildet (→ 8). Die interviewten Betreuten sehen sich untereinander zum Teil als Freund/inn/e/n an; die Betreuenden schaffen durch ihr Anteilnehmen am Leben der Betreuten ein Zusammengehörigkeits-, ein "Wir-Gefühl". In diesem Miteinander wird auch gegenseitig Verantwortung übernommen, was wiederum den Betreuten in ihrer jeweiligen Rolle ein Stück Anerkennung in der Gruppe verschafft.

Die interviewten Betreuten erleben auch sehr konkrete Momente der Unterstützung. Unterstützend wirkt auf sie, dass die anderen Verständnis zeigen, Rückhalt geben und sich um sie kümmern (→ 9). Auch erleben die Betreuten einen bei Freund/inn/en und Familie z.T. verloren gegangenen Rückhalt dadurch, dass in der Einrichtung jemand zu ihnen und an ihrer Seite steht. Dieser Rückhalt äußert sich sowohl auf ganz praktische Weise, wie bei der Unterstützung bei Renovierungsarbeiten, als auch auf emotionaler Ebene (→ 10). Allgemein erleben sie, dass sich jemand sorgt und um sie kümmert, was für die Betreuten schön und z.T. neu ist (→ 11). Die Betreuten erleben (hauptsächlich) die Bezugsbetreuenden als Personen, die immer da sind, bei denen sie sich "ausheulen" können, bei denen sie ihr "Herz ausschütten" können, bei denen sie los lassen können, die sie in diesem Loslassen annehmen und darin auffangen (→ 12). Die besondere Qualität entsteht für die jungen Erwachsenen dadurch, dass ihnen echtes Interesse und (auf ihre Person bezogene) Wertschätzung entgegengebracht werden (→ 13).

Zusammenfassend betrachtet bieten das betreute Einzelwohnen und der Treffpunkt Möglichkeiten des Rückzugs und des Schutzes. So wird die Basis gelegt, um Selbstvertrauen aufbauen zu können. Dies ist wiederum eine wichtige Voraussetzung für ein gelingendes Leben ohne bzw. mit weniger professioneller Hilfe.

Zitate

(1) Der Treffpunkt für mich is' Sicherheit. (I 2, Z. 1715)

(2) Die Einrichtung ist für mich ein Schutz vor der grausamen Realität draußen. (I 5, Z. 1088-1089)

(3) Hier hatte man halt irgendwie so 'ne Art soziales Fangbecken. Also, hier kam man her, hier war man nich' bedroht, hier musste man keine Angst haben, hier hat man sich gleich geborgen gefühlt mit den Leuten. (I 5, Z. 149-155)

(4) Es is' hier auch so, dass jeder Probleme hatte oder hat. Dass man mit denen vielleicht irgendwie was gemeinsam hat. So, dass es vielleicht auch deswegen keine Probleme gibt, so. [...] man wird akzeptiert, halt. Auf ne gute Art und Weise. [...] Hier muss man das gar nich' so nachhaken. Weil's schon 'ne ganz andere Gruppe is'. (I 3, Z. 538-542; 580-581, 678-684)

(5) Man unterhält sich, macht dann auch seine Späßchen und so, und die Betreuer stellen sich jetzt nich' so hin, "Wir wissen alles! Ihr Kleinen wisst nichts!" (I 5, Z. 479-482)

(6) Und zu wissen, dass du jederzeit mit allem zu jemandem gehen kannst. (I 2, Z. 917-919)

(7) Da is' einfach kein Druck da! Sondern du kannst einfach so sein, wie du bist. Und du musst einfach nich' so funktionieren, wie ich das jahrelang gegenüber meinen Eltern musste. Oder auch die Gesellschaft an sich stellt ja einfach Ansprüche an dich. (I 2, Z. 1647-1651)

(8) Is' wie so'ne zweite Familie. (I 1, Z. 1220-1221)

(9) Hier in der Einrichtung hab' ich halt das erste Mal einen zuhörenden und verständnisvollen Gesprächspartner gefunden. (I 2, Z. 296-298)

(10) Die ham mir halt immer Kraft gegeben in der Hinsicht und Unterstützung, weil ich schon immer Suchtdruck hatte, so die ganze Zeit über. Und ham gemeint, versuch's ma' anders, und mit dir Gespräche gesucht und so. Rein auf der menschlichen Basis, so. [...] Mein Betreuer hat mir auch mit meiner Wohnung renovierungsmässig geholfen - die komplette ajb eigentlich. Haben so 'ne Renovierungsgruppe gemacht. Hat jeder so Treuepunkte gekriegt und so. (I 1, Z. 430-436, 986-993)

(11) Wie ich schon sagte, also, es tut verdammt gut, wenn sich auch ma' einer Sorgen um einen macht! [...] Also, da is' auch zwischenmenschlich was irgendwie. Und das war fast neu für mich gewesen. (I 2, Z. 1453-1454)

(12) Und da hatte ich hier immer regelmäßig Gespräche mit meiner Betreuerin, wo ich halt auch immer mein Herz ausschütten konnte. Das war auch immer ganz schön. (I 5, Z. 187-190)

(13) Ja, und man merkt einfach, dass sie einen mögen. Dass is' einfach cool, irgendwie. (I 2, Z. 1663-1664)

(b) Anerkennung der Freiheiten

Im Gegensatz zu den bisherigen Erfahrungen mit (sozial-)psychiatrischen bzw. psychosozialen Einrichtungen, die im Wesentlichen durch mangelnde Anerkennung und Entmündigungen geprägt waren, wird den Betreuten in der Einrichtung Respekt entgegengebracht. Ihre Individualität und ihre Talente werden gefördert. Akzeptanz und Anerkennung spielen eine große Rolle bezüglich der eigenen Entscheidungs- und Bestimmungskompetenz, kurz: in einem größeren Maße das zuerkannt zu bekommen, was in diesem Zusammenhang gemeinhin mit dem Label "erwachsen" einhergeht (→ Zitat 1). Wie der Zusatz "jung" in diesem Zitat andeutet, geht es dabei nicht um eine als absolut erlebte Freiheit. Vielmehr handelt es sich um eine solche, die, mit der Anerkennung im Schutzraum (a) in ein angemessenes Verhältnis gesetzt, den Betreuten ein in ihrer Lebenssituation förderliches Maß von Freiheit und Sicherheit bietet. Die Anerkennung der Freiheiten beginnt damit, dass sich die Betreuten den Betreuenden gegenüber in der Einrichtung als gleichwertig erfahren (s. "Schutzraum"-Gedanke) und sie gewisse Freiräume haben bzw. diese ihnen gewährt werden, um ihre eigenen Wege zu finden (→ 2). Am deutlichsten äußert sich die Anerkennung darin, wie Entscheidungen und Überzeugungen der Betreuten in Gesprächen speziell und der Bezugsbetreuung allgemein von Seiten der Betreuenden akzeptiert werden (→ 3). Das heißt nicht, dass die Betreuenden ihre Erfahrungen und  Meinungen außen vor lassen, sondern, dass sie stattdessen einen gleichberechtigten Austausch anregen (→ 4). Sie werden als Betreuende in der Form aktiv, dass sie die Betreuten motivieren, sich selbst Gedanken zu machen. Sie schreiben nichts vor, sondern geben lediglich Impulse. Gleiches gilt bei den Betreuten untereinander und auch beim Besuch des Treffpunkts: Entscheidungen zu Abgrenzung und Erhalt der eigenen Freiräume werden respektiert und die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, wie oft man das Angebot der Tagesstätte wahrnimmt, wird als positiv erlebt und dargestellt (→ 5).

Zitate

(1) Hier wird man halt wie 'n junger Erwachsener behandelt. (I 5, Z. 444-445)

(2) Dass sie jedem so seinen Freiraum lassen, so. Um damit selbst fertig zu werden. Um selber den richtigen Weg einzuschlagen. (I 3, Z. 766-768)

(3) Mein Betreuer hat jetzt nich' immer so den Finger so gehoben, weil letztendlich is' es ja meine Entscheidung. Und, und das is', glaub' ich, bei den anderen Betreuern genauso, dass die halt die Entscheidung des Einzelnen respektieren, weil wir halt schon erwachsen sind und keine Kinder, weil wir können schon Entscheidungen treffen. (I 5, Z. 516-522)

(4) Meine Betreuerin unterbreitet mir Vorschläge oder erklärt irgendwelche Zusammenhänge, die man vielleicht vorher nich' so genau gesehen hat. Äh, erweitert quasi den Horizont, in dem man miteinander spricht, usw. usf. Weil jeder hat ja auch seine Meinung und jeder hat andere Ansichten und wenn man die Ansicht des anderen ma' kennen lernt, kann man ja auch ma' drüber nachdenken, warum er diese Ansichten hat usw. usf. Und dann kommt man auf Schlüsse, die man vorher vielleicht nich' machen konnte. (I 5, Z. 557-568)

(5) Wenn du mal einen Tag nicht kommst, is' das überhaupt kein Thema. Dann ging's dir halt nich' so gut, oder so. Dann biste halt mal nicht gekommen. Das einzige, was dann passiert is', dass die Betreuer dann sagen, "Mensch, schade, dass du nich' da warst!"" (I 2, 1656-1661)

(c) (Wieder-)Entdecken von Eigenem

Bei der (Wieder-)Entdeckung von Eigenem spielt Anerkennung in sofern eine Rolle, als dass die interviewten Betreuten durch das Erreichen von (eigenen) Zielen und Veränderungen Anerkennung durch die Betreuenden und Mitbetreuten erfahren. Dinge, die den Betreuten verschüttet schienen (durch Drogenkonsum oder die Psychose) und nicht Gekanntes werden durch in der Einrichtung ermöglichte Veränderungen wieder oder neu entdeckt.

Die in der Einrichtung angebotenen Gruppenaktivitäten spielen bei der (Wieder-)Entdeckung des Eigenen eine besondere Rolle. Beim Sport zum Beispiel können Betreute sehen, wie es ist, seinem Körper Beachtung zu schenken und ihm und sich meist nach langer Zeit wieder etwas Gutes zu tun (→ Zitat 1). Dabei kann Ehrgeiz geweckt werden, auch eine Art Stolz über das Erreichte und eine Motivation, sich auf diesen Gebieten weiterhin zu betätigen. Mit Ehrgeiz, einer Art von Stolz und Motivation werden dabei Empfindungen ausgelöst, die lange Zeit meist so nicht verspürt wurden. Zudem werden durch Aktivitäten, wie z.B. Darten oder die Filmgruppe, Interesse und Spaß wachgerufen. Neuartige Erlebnisse z.B. beim Trommeln in der Trommelgruppe bringen die Betreuten dazu, die Konzentration auf die eigenen Sinne zu richten und diesen nachzugehen. Bestätigung von verloren geglaubten Leistungen kann z.B. in der angebotenen Gruppe zum Kognitiven Training erlangt werden (→ 2). Zu der Freude über eigene Leistungen tritt, diese vor den Augen anderer zu erbringen und andere so zum "Staunen" zu bringen, das heißt, jemanden positiv zu überraschen und Erwartungen im Übermaß zu erfüllen (→ 3). Anerkennung in Form des Staunens  kann bei den Betreuten ein Gefühl des Stolzes auslösen, das sich. positiv auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Dieser Stolz zeigt sich darin, wie die interviewten Betreuten Veränderungen und Errungenschaften, die von den Betreuenden wertgeschätzt werden, nach außen tragen. Gleichzeitig erleben die Betreuten Anerkennung für die eigene Person und ihre Leistungen dadurch, dass sich die Gesamtgruppe in der Einrichtung über Erreichtes für sie freuen kann und ihnen diese Anerkennung dafür nicht verwehrt bleibt wie in früheren Kontexten (→ 4).

Bedeutend in diesem Zusammenhang ist z.T. auch eine Aussicht auf die Teilhabe am Erwerbsleben, wenn einige Betreute diese gleichsetzen mit einer anzustrebenden erfolgreichen Reintegration in die Gesellschaft und einer dementsprechend erwarteten Anerkennung in dieser gesellschaftlich normierten Rolle (→ 5; weiterführend siehe die Forschungsarbeit Welitzki, 2008 im Rahmen der ajb-FU Forschungskooperation). Die interviewten Betreuten nehmen von Seiten der Einrichtung auch Unterstützungsangebote für einen Wiedereinstieg ins Arbeitsleben wahr, die von ihnen in unterschiedlichem Maße angenommen und umgesetzt werden können.

Zusammenfassend gesagt, können so die interviewten Betreuten durch die in dem Projekt gemachten Entwicklungen und die Anerkennung hierfür sowohl durch Betreuende als auch Mitbetreute an Selbstwert gewinnen und ihr Selbstkonzept stärken und ausbauen.

Zitate

(1) Da ging's mir danach viel besser. Nach dieser Aktivität. [...] Na, man is' halt dann froh, irgendwie stolz, dass man's durchgezogen hat, erst mal. Und dann hat man natürlich auch 'n gutes Gefühl dabei gehabt, so. Also, das hat mir dann gefallen, dass ich das so noch erreichen kann. (I 3 , Z. 283-302)

(2) Dann zum Beispiel auch diese Art kognitives Training. Da ham wir mal Matheaufgaben gemacht und ich war sehr erstaunt, was ich noch alles wusste. Also, Gleichungen auflösen und so. Das gibt dann auch wieder 'n bisschen Selbstvertrauen, so, 'ne? Weil, ja, man hat ja doch den Eindruck, dass man total abgebaut hat, durch die Drogen und durch die Psychose und so. Aber is' noch nich' Hopfen und Malz verloren, also, das hab' ich dann auch wieder erfahren. (I 2, Z. 1229-1238)

(3) Na ja, und jetzt mittlerweile, da staunt der Bernd auch, mittlerweile bin ich so weit, dass ich sage, ich mach' das auf jeden Fall mit der Entzugstherapie und will auch aufhören. (I 2, Z. 653-656)

 (4) Und an die Leistungen kann ich jetzt wieder anknüpfen und ich kann jetzt auch den Job machen, den ich wirklich gerne mache [...] und das macht mir auch sehr viel Spaß. Da freut sich auch meine Betreuerin. Da freuen sich auch alle hier mit mir zusammen. In dieser Gruppe fehlt auch das Konkurrenzdenken. Wenn ich da an die Schule zurückdenke, da hattest ja nur mit Sticheleien zu tun. Jeder wollte der Beste sein. Und wenn du halt zu den besseren gehörst, musste halt immer einstecken von irgendwelchen Leuten. (I 5, Z. 993-1005)

(5) Dass ich mein Leben irgendwann auf die Reihe krieg. Auf'm Arbeitsmarkt wieder anfangen kann. [...] Halt normal arbeiten gehen, acht Stunden am Tag, vernünftiges Arbeitsverhältnis. (IP 1, 1016-1018; 1049-1050)


So bilden Anerkennung im Schutzraum, Anerkennung der Freiheiten und (Wieder-)Entdecken von Eigenem die drei Wege, auf denen Betreuten in der Einrichtung Anerkennung zuteil wird.

6. Anerkennendes Erleben und Konzeptionsspezifika des Projektes

Die Ergebnisse dieser Arbeit können dazu beitragen, weitergehendes Verständnis für die Situation und Erlebenswelten der Betreuten zu schaffen. Gleichzeitig geben sie mit der Darstellung von anerkennendem Erleben in drei Unterteilungen anschaulich Antwort auf die eingangs gestellte Frage, wie Anerkennung in einem Betreuungskontext aussehen kann. Im Folgenden geht es in diesem Abschnitt um konzeptionelle Rahmenbedingungen des Projektes mit dem ich arbeitete, die ein solch anerkennendes Erleben befördern: die Bezugsbetreuung, der Ansatz der Punktnüchternheit und die Tagesstrukturierung durch den Treffpunktcharakter des Projektes.

In der hier dargestellten Bezugsbetreuung bedeutend ist die erlebte Bedingungslosigkeit im Rückhalt: in Gesprächen und auf der praktischen Ebene, bei Fragen der Emotionalität oder der Alltagsbewältigung. Parallel wird die Eigenständigkeit der Betreuten gefördert: Statt Vorschriften geben die Betreuenden Impulse und Veränderungen bei den Betreuten sollen aus eigener Überzeugung erfolgen. Dabei ist die Begegnung - bei einer leistungsunabhängig zuteil werdenden Wertschätzung - gleichwertig, wenn auch nicht gleichgestellt, da eine völlige Hierarchiefreiheit in diesem Setting kaum realisierbar wäre bzw. ggf. auch nicht durchgehend förderlich. Im Sinne von Ainsworth (1989) bieten die Betreuenden den Betreuten sowohl einen schützenden Hafen als auch eine sichere Basis.

Die Interviewten beschreiben, wie sie im Treffpunkt ihre Freiheiten, Entscheidungen zu treffen und Erfahrungen zu sammeln, anerkannt erleben. Exemplarisch hierfür steht die Tatsache, dass von den Betreuten zu Beginn der Betreuung noch keine vollständige Drogenabstinenz gefordert wird. In diesem Punkt erfahren die jungen Erwachsenen, dass ihre Entscheidungen und Einstellungen akzeptiert werden, d.h. auch, dass sie als Person akzeptiert und in ihren Rechten und Freiräumen anerkannt werden als das, was Honneth (1994) Rechtsperson nennt. Diese Handhabung von Drogengebrauch ist in wenigen Einrichtungen des psychosozialen Versorgungssystems gängig. Daher ist es ein wichtiges Ergebnis, dass diese spezifische Handhabe der Problematik eine starke Quelle der erfahrenen Anerkennung für die Betreuten darstellt.

Das Angebot des Treffpunkts wir von den Interviewten nicht als aufgezwungen und gleichzeitig aber verlässlich erlebt. Der Treffpunkt und die in diesem Zusammenhang angebotenen Aktivitäten bzw. Programme tragen dazu bei, dass die jungen Erwachsenen eigene Fähigkeiten und Möglichkeiten (wieder-)entdecken können. Zugleich ist durch das regelmäßige Zusammenkommen die Möglichkeit gegeben, für erbrachte Leistungen eine Wertschätzung im sozialen Miteinander durch die anderen jungen Erwachsenen (der peergroup) und/ oder die Betreuenden zu erfahren. Darüberhinaus gibt es über den regelmässigen Austausch zwischen Betreuten untereinander und Betreuten mit Betreuenden einen Raum für gegenseitiges Verständnis.

Damit schafft die Einrichtung mit der Anerkennung transportierenden Grundatmosphäre für die Betreuten einen der früheren erlebten Verunsicherung entgegen gesetzten Rahmen, in dem sich dann eine weitere Identitätsentwicklung vollziehen kann. Gerade im Zusammenhang mit der Frage, welche handlungsleitenden Konsequenzen Betreuende aus diesen Ergebnissen für ihre Arbeit ziehen können, bleibt offen, welche Motivationen/ Einstellungen bzw. welches Verhältnis an Motivationen/ Einstellungen der Betreuenden in der Begegnung mit den Betreuten mit ausschlaggebend für das anerkennende Erleben sind. Um konkrete (Handlungs-) Empfehlungen an Praktizierende entwickeln zu können, ist eine weitergehende Auseinandersetzung mit diesen Motivationen und Einstellungen notwendig.

7. Anerkennung - Zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit

Honneths Ausarbeitungen bieten einen guten Systematisierungsansatz und einen Verständnishintergrund für die Ergebnisse dieser Arbeit, wie die folgende Gegenüberstellung veranschaulicht:

Tabelle 1: Gegenüberstellung Ergebnisse der Auswertung und Formen der Anerkennung bei Honneth

  Honneth Ergebnisse
1. Stufe Missachtungsform Gewalt Erlebte Ausgrenzung
Anerkennungsform
Liebe (emotionale Zuwendung) Schutzraum
 2. Stufe Missachtungsform Ausschließung Erlebte Entmündigung
Anerkennungsform
Rechte (kognitive Achtung) Freiheiten und Freiräume
 3.Stufe Missachtungsform Entwürdigung Zweifel an Eigenem
Anerkennungsform
Solidarität (Soziale Wertschätzung)
Entdecken von Eigenem


Auch wenn der Anerkennungsform (a) eine hervorgehobene Bedeutung zukommt, spielt bei dem Erleben der Betreuten in der Einrichtung die Berücksichtung aller drei Anerkennungsformen eine besondere Rolle. Insbesondere entscheidend ist die Berücksichtigung eines angemessenen Verhältnisses der Formen untereinander. Die Gewährleistung dessen kann sich im Betreuungsalltag herausfordernd gestalten. Die Bedeutung, alle drei Formen in einem angemessenen Verhältnis zueinander zu berücksichtigen und die Herausforderungen, die sich daraus in der Praxis ergeben, werden im Folgenden diskutiert.

Die durch Honneth theoretisch systematisierte Bedeutung der Anerkennung für die Identitätsausbildung fasst Filsinger (2003) in seinen "anerkennungstheoretischen Reflexionen zur psychosozialen Praxis" wie folgt zusammen: "Nur wenn das Individuum emotionale Zuneigung, kognitive Achtung und soziale Wertschätzung erfährt, und damit zu Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung gelangt, wird es sich als zugleich autonome und individualisierte, als gleichgestellte und doch besondere, als einmalige Person begreifen können" (S. 23).

Für die praktische Arbeit wird hier ein seit jeher bestehender, aber in der heutigen Gesellschaftsform stetig stärker auftretender, dem Anerkennungsthema inne liegender Grundkonflikt deutlich, der sich im Zusammenleben von Individuen in einer Gemeinschaft zeigt: das eben nicht endgültig lösbare Dilemma der Vereinbarung der Bedürfnisse von Freiheit und Sicherheit (Baumann, 2009; in dieser Arbeit in Form des Begriffspaares: "Anerkennung im Schutzraum" und "Erleben von Freiheiten und Freiräumen"). Auf der einen Seite steht dabei der Anspruch auf ein gewisses Maß an freiheitlichem Handeln. Je nachdem, ob dieser Anspruch ein Wunsch des Individuums ist oder eher eine Anforderung der Gesellschaft darstellt, verstärkt er mehr oder minder ein Bedürfnis nach Sicherheit, das Menschen sich jeher in einer Gemeinschaft gestillt vorstellen (ebd.). Das eine Bedürfnis kann aber in Gänze nur zum Preis des anderen erfüllt werden. Eine Ausbalancierung der beiden Bedürfnisse nach allgemeingültigem Rezept gibt es nicht, das Verhältnis muss individuell stetig neu ausgehandelt und Übergangslösungen müssen erreicht werden, weshalb Baumann auch das Bild der "wilden Ehe von Freiheit und Sicherheit" wählt (ebd.). Diese Ausbalancierung zeigt sich als notwendig, denn elementar für ein "gutes Leben" sind beide Bedürfnisse, wie folgendes Zitat von MacIntyre zu vermitteln versucht: "Zwei Tugenden sind es, die den Menschen befähigen, ein gutes Leben zu führen: Die eine ist seine praktische Vernunft, die nach Unabhängigkeit strebt. Die andere aber liegt im Eingeständnis seiner fundamentalen Abhängigkeit." (2001, zitiert nach Filsinger 2003, S.25).

In der psychosozialen Betreuungsarbeit zeigt sich dabei nun die Herausforderung, diesen zu verschiedenen Phasen unterschiedlich ausgeprägten Bedürfnissen in ihrer Abhängigkeit von einander zu begegnen. Das meint zum einen, den ggf. verunsicherten Klient/inn/en an einem "geschützten Ort" eine verlässliche Beziehungs-, also Bindungserfahrung zu ermöglichen. Zum anderen gilt es, Bestrebungen und Bedürfnisse bzgl. der Erweiterung von Freiräumen zu begleiten und zu fördern. Dabei ist wichtig, auf die Veränderung der Bedürfnisse über die Zeit im Rahmen der Identitätsentwicklung zu achten und ggf. entsprechend darauf zu reagieren. Filsinger beschreibt die Rolle der Betreuenden als respektvoll zugewandte Assistent/inn/en, die die Aufgabe haben, Perspektiven zu erweitern (vgl. Filsinger, 2003). Auch Szczotko (2007) sieht die Ausbalancierung von Freiheitsräumen als elementar an in der Betreuten-Betreuenden-Beziehung. Er arbeitet Betreuungserfolg als eine im Rahmen einer stabilen Betreuungsbeziehung individuell ausgehandelte Passung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung heraus.

In der Betreuung des ajb Projektes, mit dem ich arbeitete, scheint den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit zufolge ein Verhältnis zwischen diesen Komponenten von Anerkennung gegeben zu sein, das die Betreuten positiv erleben. Ein oben bereits angeführtes Zitat fasst dies zusammen: "Hier wird man halt wie 'n junger Erwachsener behandelt." Das meint, wie in dieser Arbeit herausgestellt, dass die Betreuung den Betreuten neben dem erfahrenen Schutzraum ein Erleben von Freiräumen und Freiheiten und die Hilfestellung beim (Wieder-)Entdecken von eigenen Fähigkeiten bietet - und das in einem den Bedürfnissen der Betreuten angemessenen Verhältnis der Anerkennungsformen untereinander. Das Zitat macht deutlich, dass es dabei nicht um ein Erleben absoluter Sicherheit oder absoluter Freiheit geht (die so im psychosozialen Kontext auch kaum realisierbar wären) - sondern um ein jeweils zu findendes angemessenes Verhältnis. Bei Baumann (2009) findet sich dieser Gedanken wieder, wenn er von einem stetig neu auszuhandelnden Verhältnis der beiden Bedürfnisse spricht.

In diesem Zusammenhang ist auch die in der Einleitung dieses Textes aufgeworfene Frage zu sehen, in wiefern ein gemeinsamer biographischer Hintergrund der Betreuten die Bedeutung anerkennenden Erlebens mit bestimmt. Die Betreutengruppe zeichnet sich durch sehr spezifische Erfahrungen aus, was sich in der herausgearbeiteten Bedeutung der Kategorie "Verunsicherung des Selbst" zeigt. Gerade aufgrund der geschilderten intensiv erlebten Missachtungs- und Ausgrenzungserfahrungen spielt das von der Einrichtung in dem dargestellten spezifischen Verhältnis angebotene anerkennende Erleben eine große Rolle. Interessant zu klären bleibt, wie und ob bei anderen Subgruppen im psychosozialen System das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit ausgeprägt ist und wie bzw. ob dies als Argument für breit gefächerte und spezifisch abgestimmte Angebote im psychosozialen System verwendet werden kann.

Neben den Diskussionspunkten, die sich auf die praktische Ebene beziehen, ergeben sich auch Forderungen auf einer übergeordneten, gesellschaftspolitischen Ebene, die, auch wenn sie nicht direkt die praktische Betreuungsarbeit betreffen, in diesem Zusammenhang, wie ich finde, automatisch mitgedacht werden müssen - denn wirkliche und nachhaltige Verbesserungen der Lebensumstände von Gruppen, wie jungen Erwachsenen mit psychischen Problemen und Drogenkonsum, erfordern neben dem Engagement auf der individuellen Betreuungsebene auch Veränderungen im gesamtgesellschaftlich betrachteten Zusammenleben. So fordert Filsinger (2003) eine verstärkte Teilhabe von Menschen mit psychischer Erkrankung am gesellschaftlichen Leben, eine Sozialintegration, wie er es nennt, und begründet die Forderungen mit dem Gerechtigkeitsgedanken. Baumann (2009) geht einen Schritt weiter und postuliert, dass Gerechtigkeit in Bezug auf Anerkennung nicht ohne die Frage bzw. Forderung nach sozialer Umverteilung debattiert werden kann (vgl. auch die von Honneth beschriebene von ökonomischen Mitteln abhängige Bestimmungshoheit über die Anerkennungsform "soziale Wertschätzung", s. auch Punkt 5 (c) dieses Textes). So ginge es darum, dass jede/r das gleiche Recht habe, unter fairen Bedingungen und bei gleichen Chancen nach Wertschätzung zu streben, statt nur darum, dass jede/r das gleiche Recht auf gesellschaftliche Wertschätzung habe.

Doch Forderungen nach Gerechtigkeit oder solche, die darauf beruhen, lassen sich nur gemeinschaftlich stellen und umsetzen. Dazu bedarf es Gesellschaftsgruppen, die durch mehr als Toleranz verbunden sind, nämlich durch Solidarität und die ebenso, nämlich solidarisch, mehr Rechte einfordern - womit der Kampf um Anerkennung in eine neue Runde ginge.

Das Konstrukt Anerkennung kann - wie in dieser Forschungsarbeit geschehen - so verstanden werden, dass sich zur Auseinandersetzung damit zwei Perspektiven anbieten: zum einen eine soziologische, zum anderen eine psychologische. Die meisten theoretischen Darstellungen sind meist jedoch stärker durch den Blickwinkel einer dieser Disziplinen geprägt - so bezieht sich Honneth zwar explizit auf Winnicott und dessen Theorie der Objektbeziehung, könnte diese im Deutungszusammenhang von Anerkennung in meinem Verständnis aber noch stärker in seinen Erklärungsansätzen berücksichtigen. Zu betonen, dass eine Integration beider Perspektiven noch fruchtbarer für die Bearbeitung des Themas genutzt werden kann als bisher, ist mir ein Anliegen in dieser Forschungsarbeit. Für weitere Auseinandersetzungen - sowohl im Theoretischen als auch im Praktischen - kann eine, von diesen beiden Seiten inspirierte Herangehensweise ggf. noch viel Erkenntnis- bzw. Verständnisgewinn vermitteln, so z.B. bei der oben bereits aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis der Anerkennungsbedürfnisse bei anderen Gruppen im psychosozialen System oder nach möglichen Anerkennung fördernden Einstellungen oder Motivationen bei Betreuenden in Einrichtungen für junge Erwachsene.

8. Literatur

Ainsworth, M. (1989). Attachments Beyond Infancy. American Psychologist, 44, 4, 709-716.

Allgemeine Jugendberatung (2004). Kurzkonzept für ein niedrigschwelliges Betreutes Einzelwohnen mit Schwerpunkt Tagesgestaltung für psychisch kranke junge Erwachsene mit Suchtmittelabusus. Unveröffentlichtes Skript.

Baumann, Z. (2009). Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt. Frankfurt: Suhrkamp.

Bowlby, J. (1975). Bindung. München: Kindler Verlag GmbH.

Buhrmester, D. (1992). The developmental courses of siblings and peer relationships. In F. Bou & J. Dunn (Eds.), Children’s sibling relationships (pp 192-40). Hillsdale, NJ: Erlbaum.

Erikson, E. (2000). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt: Suhrkamp.

Filsinger, D. (2003). Anerkennungstheoretische Reflexionen zur psychosozialen Praxis. Psychiatrische Praxis, 30, 1, 21-27.

George, Kaplan & Main (1996). The Adult Attachment Interview Protocol (3rd ed). Unpublished manuscript. California: University of Berkeley.

Glaser, B .G. & Strauss, L. G. (1967). The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research. New York: Aldine de Gruyter.

Hegel, G. W. F. (1967). System der Sittlichkeit. Hamburg: Felix Meiner.

Holzer, A. (2001). 'Anders als normal'. Illegale Drogen als Medium der biographischen und psychosozialen Entwicklung junger Frauen. Centaurus Verlag.

Honneth, A. (1994). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt: Suhrkamp.

Keupp, H. (2002). My home is my castle - Wohnen und Identitäten. In H.-L. Siemen (Hrsg.), Gewohntes Leben. Psychiatrie in der Gemeinde (S. 19-47). Neumünster: Paranus.

Keupp, H. et al. (2006). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg: Rowohlt.

Sczcotko, J. (2007). Gelungene Verselbständigung und Beziehungsgestaltung im Spannungsfeld zwischen Selbst­ und Fremdbestimmung. Unveröffentlichtes Manuskript einer Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Smith, J. (2001). Theorien und Methoden in der Entwicklungspsychologie. Unveröffentlichtes Manuskript. Freie Universität Berlin.

Vierneisel (2006). Wie erleben Junge Erwachsene mit einer Doppeldiagnose eine Einrichtung zum Betreuten Einzelwohnen? Unveröffentlichtes Manuskript einer Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Welitzki, L. (2008). "Na, was soll ich denn zu Hause machen? Mein Gott! Verfaulen?" Arbeiten in einem Integrationsprojekt für langzeitarbeitslose Frauen mit Migrationshintergrund. Unveröffentlichtes Manuskript einer Diplomarbeit. Freie Universität Berlin.

Winnicott, D. (1990). Babys und ihre Mütter. Stuttgart: Klett-Cotta.

Witzel, A. (2000). Das Problemzentrierte Interview. Forum Qualitative Sozialforschung/ Qualitative Social Research [Online Journal], 1(1). Abrufbar über http://qualitative-research.net/fqs. [Letzter Zugriff: 20.05.2006].

Zaumseil, M. & Leferink, K. (1997). Schizophrenie in der Moderne - Modernisierung der Schizophrenie. Bonn: Edition Das Narrenschiff Psychiatrie-Verlag.

Autorin

Carolin Vierneisel
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Carolin Vierneisel studierte Psychologie und arbeitet im Bereich der Gesundheits- und Selbsthilfeförderung.



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