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Psychiatrie im Widerstreit der Interessen - Risiken und Chancen für die Zukunft

Thomas Bock
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 18 (2013), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Liest man die drastischen Zahlen über die Zunahme von Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankung, könnte einem angst und bange werden um die Gesundheit der Gesellschaft. Interpretiert man die Zahlen aber eher als wachsende Bereitschaft, sich zu einer psychischen Erkrankung zu bekennen und entsprechend wahrgenommen zu werden, könnte das bedeuten, dass der Kampf gegen Vorurteile doch langsam Fortschritte macht. In beiden Fällen wird die Struktur der Versorgung der Entwicklung nicht gerecht: Die Ressourcen sind zersplittert und extrem ungerecht verteilt. Ein Primat an Psychotherapie ist zu fordern, doch in der gegenwärtigen Struktur bleiben die Patienten mit ernsten Diagnosen allzu oft außen vor. Kaum ein Versorgungssystem leistet sich so viel Neben- und Gegeneinander wie das deutsche. Die Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung zu überwinden und die finanziellen Belohnungsmechanismen zu verändern, wäre ein echter Fortschritt. Doch wieder tun sich Widersprüche auf zwischen erfolgreichen Modellen und einer entgegengesetzten Gesundheitspolitik im FDP-Ministerium. Die gesellschaftliche Entwicklung verstärkt die Not: Die einen gefährden ihre Gesundheit, weil sie zu viel arbeiten, die anderen bleiben krank, u. a. weil sie auf dem Arbeitsmarkt keine Chance bekommen. Und die Psychiatriereform kann stecken bleiben, wenn es keinen bezahlbaren Wohnraum mehr gibt. Die Debatte wird politisch.

Schlüsselwörter: Sozialpsychiatrie, Integrierte Versorgung, Trialog, Gesundheitspolitik, Psychosen-Psychotherapie, anthropologische Sicht

Summary

Psychiatry in the conflict of interests - risks and chances for the future

The increasing number of sick leaves due to mental disorders could prompt fears for the health of society. Alternatively, the numbers could be interpreted as a growing willingness to admit to psychological disease and be perceived correspondingly, which in turn could mean that advances have been made in the fight against prejudice. In either case, care structures do not sufficiently address the development: resources are fragmented and unfairly distributed. Prioritization in psychotherapy is vital, but in the current situation, patients with serious diagnoses are neglected far too often. Few healthcare-systems exhibit as much redundancy and inconsistency in their services as the German system. Real progress could be achieved by overcoming the separation of outpatient and inpatient care and by changing the financial reward mechanisms. Yet, once again inconsistencies emerge between successful models and an opposing healthcare policy in the FDP Ministry. Societal changes amplify the problem: some are endangering their health because they work too much, others remain sick, partly because they have no opportunities in the labor market. Furthermore, the mental health reform could stall if affordable housing disappears. The debate becomes political.

Key words: social psychiatry, integrated care, trialogue, health care policy, psychoses-psychotherapy, anthropological view

Menschheit kränker oder Krankheit menschlicher?

Hamburg ist die Stadt mit den meisten Krankschreibungen aus psychischen Gründen? Wie ist das zu verstehen? Sind Hamburger besonders krank ... oder sind sie eher ehrlicher? Macht die Anonymität der Großstadt krank oder ist Hamburg besonders liberal und tolerant? Sind die Ärzte ehrlicher und verstecken sich nicht mehr hinter anderen Diagnosen? Oder sind sie schneller und die vielen Krankschreibungen haben damit zu tun, dass es hier so viele Fachleute gibt, die krankschreiben und auch so viele davon profitieren? Bei einer Veranstaltung der Handelskammer erklärte ein Vertreter: Nur noch ein Drittel der Menschen sei gesund, und er hatte Glanz in den Augen .... Schließlich vertrat er die Gesundheitswirtschaft.

Zugleich liegt Hamburg an erster Stelle auf dem sogenannten Glücksatlas. Wie passt das zusammen? Ein Ausdruck an sozialer Ungerechtigkeit: Die in Jenfeld krank, die in Blankenese glücklich? Dass Armut und soziale Benachteiligung psychisch Erkrankungen mitbedingen, verstärken und ihren Verlauf verschlechtern, ist mehrfach erwiesen und zum Glück auch in der Gegenwart Gegenstand von Untersuchungen (Becker, 2012) - und bleibt doch leider weitgehend ohne Konsequenzen für die Verteilung von Ressourcen oder gar für Prävention. Doch zugleich möchte ich vorsichtig fragen: Könnte es auch sein, dass in einem Leben beides Platz hat: die psychische Erkrankung und das Glück, nicht das immerwährende (die Suche danach führt sicher ins Unglück), sondern das kleine Glück, der glückliche Moment? Der Recovery-Begriff bietet hier neue Orientierung, eine Abkehr von dem Mythos der Unheilbarkeit ohne Fixierung auf Symptomreduktion (Amering, 2011). Aus der Perspektive seriöser Epidemiologie muss weitgehend offen bleiben, ob und in welchem Umfang wirklich Erkrankungen zunehmen - und wenn ja, welche - oder eher Krankschreibung und Behandlung. Sicher ist, dass Menschen früher erkranken, jedenfalls früher als krank wahrgenommen werden. Sicher ist, dass sie älter werden, dass es mehr Demenzen gibt. Sicher gibt es Verschiebungen zwischen den Diagnosen. Sicher ist, dass sich die Geschlechter annähern: Auch Jungen werden depressiv, auch Mädchen süchtig. Sicher ist, dass mehr Menschen sich zu psychischen Krankheiten bekennen und mehr Menschen Hilfe in Anspruch nehmen. Offensichtlich wird der Zusammenhang von quantitativer Schätzung und Interessen, wenn im Zusammenhang mit dem neuen Diagnoseschlüssel DSM V darüber nachgedacht wird, sog. Prodromalphasen oder Burnout-Zustände zu Erkrankung zu erklären. In dem einen Fall profitiert v.a. die Pharmaindustrie, in dem anderen die Träger psychosomatischer Kliniken. In einem Fall sind die Patienten betroffen, weil Ihnen eine weitere Lebensphase "enteignet" wird, im anderen Fall geht es allgemein um die Frage, ob gesellschaftliche Missstände durch Medizinisierung zu beheben sind.

Patienten oder Bürger?

Wird die Menschheit kränker oder die Krankheit menschlicher? Welche Perspektive bestimmt unseren Blick und unser Handeln mehr - als Fachleute und als Mitbürger: Sehen wir neben den pathologischen auch die anthropologischen Aspekte, neben den dysfunktionalen störenden Seiten auch die Suche nach Sinn und Bedeutung?

  • Angst [ist] an und für sich keine Erkrankung, sondern [eine] notwendige Fähigkeit, um sich vor Gefahr zu schützen ...
  • Zwangshandlungen oder Rituale [sind] an und für sich nicht störend, wenn sie kulturell eingebunden sind; pathologisch vielleicht dann besonders, wenn der kulturell/religiöse Rahmen fehlt.
  • Depression [ist] zunächst [ein] Schutzmechanismus der Seele, eine Art Totstell-Reflex in absoluter Überforderung. Bevor die Trauer mich wegspült, stelle ich auf Durchzug. Weil mich meine Gefühle überfordern, spüre ich erst mal nichts. Dann Eigendynamik. Einschließlich der Möglichkeit einer Flucht nach vorne....
  • Borderliner sind anstrengend, gewissermaßen Beziehungs-Extremisten, aber haben auch extrem feine Antennen für andere. Und das Spannungsfeld, in dem sie sich besonders weit zerrissen fühlen, unterscheidet sich nicht unbedingt von dem aller Menschen in dem Alter: zw. Nähe und Distanz (bzw. der jeweiligen Angst davor), zw. Autonomie und Bindung, Anpassung und Widerstand.
  • Psychosen sind uns fremd, weil da jemand in einer ganz anderen Realität scheint. Doch zugleich gibt es tiefe Bezüge: Ist der Zustand, alles auf sich zu beziehen, nicht nur psychotisch, sondern auch kindlich? Erscheint der Zustand in Traum oder Psychose subjektiv durchaus vergleichbar - mit dem wichtigen Unterschied, dass ich im Traum durch den Schlaf geschützt bin, in der Psychose nicht. Doch die Doppelsinnigkeit des Traums (Alb- und Wunschtraum) hat auch Relevanz, z.B. für die paranoide Psychose: Die Angst ist offenbar. Wenn drei Geheimdienste hinter mir her sind .... Doch er hat schon drei Geheimdienste hinter sich. Mit James Bond auf Augenhöhe. Wer psychotisch wird, nimmt also Realitätsverlust in Kauf, nicht nur, um Angst zu haben, sondern um Bedeutung zu haben (vgl. Bock, 2012).

Hier liegt eine der Hauptherausforderungen der Sozialpsychiatrie: Das Bedürfnis nach Bedeutung ist zutiefst menschlich. Gerade Menschen mit psychischer Erkrankung wollen nicht nur als brave Hilfeempfänger dastehen; sie haben einen Hunger nach Bedeutung. Dazu gehört auch der Wunsch nach Arbeit und sinnvoller Tätigkeit.

Psychiatriereform auf halbem Weg

Zwar wurden die inhumanen Zustände der früheren psychiatrischen Anstalten überwunden und sozialpsychiatrische Institutionen sowie Tageskliniken und Ambulanzen aufgebaut. Der Paradigmenwechsel von den institutionszentrierten hin zu den personenbezogenen Hilfen wurde vollzogen mit der Konsequenz, dass das ambulante betreute Wohnen heute immer häufiger Vorrang vor stationären Wohnhilfen hat und sich dieser Wandel allmählich auch auf andere Lebensbereiche, wie die Teilhabe an Arbeit, ausweitet. Trotzdem gibt es weiterhin Strukturprobleme bei der psychiatrischen Versorgung und deren Finanzierung. Die Grenzen bei der Umsetzung der Psychiatriereform haben verschiedene Hintergründe:

  • Es gibt weiterhin eine Übermacht der großen Institutionen.
  • Es gibt Probleme beim Angebot von Wohnraum und Arbeit.
  • Die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen dauert an.
  • Beziehungsqualität und -kontinuität leiden zunehmend unter der Ökonomisierung und Privatisierung psychosozialer Hilfen sowie an der damit verbundenen Zerstückelung und Ungerechtigkeit.
  • Noch immer haben viele psychiatrische Fachleute ein reduktionistisches statt eines anthropologischen Verständnisses von psychischen Erkrankungen.
  • Die Orientierung auf den sozialen Lebensraum der Betroffenen und ihrer Familien ist nicht besonders ausgeprägt (vgl. Bock, 2011a, S 22).

"War die Situation psychisch Kranker von Ausgrenzung in Anstalten und großen Sälen ohne Privatsphäre geprägt, so drohen heute ein ambulantes Ghetto oder Akutstationen mit rein klinischer Atmosphäre, Beziehungs- und Bedeutungslosigkeit" (ebd., S. 22).

Ausgangslage in einem gespaltenen Hilfesystem

Das Deutsche Versorgungssystem ist im europäischen Vergleich teuer, in vieler Hinsicht partialisiert und deshalb nicht besonders effektiv: Psychiatrie - Psychosomatik, privat - gesetzlich, ambulant - stationär, klinisch - ausserklinisch. Das Nebeneinander beeinflusst auch die Beziehungskultur. Derselbe Bezugstherapeut unabhängig vom Behandlungsstatus? Therapeutische Kontinuitäten zu organisieren, ist im Kontext der allgemein gültigen Krankenhausfinanzierung fast unmöglich. Die Fixierung auf Pflegesätze schafft eine unglückliche Konzentration auf stationäre Leistungen. Rein kostentechnisch wird eine "Bettenburg" belohnt und ein modernes bedürfnisorientiertes Behandlungszentrum bestraft. Die Zersplitterung setzt sich in den lebensweltbezogenen Hilfesystemen fort: Betreutes Wohnen, PPM, ambulante Pflege, Soziotherapie, Medikation - minutenweise abgerechnet können unterschiedliche Menschen mit abgegrenzten Funktionen zum Einsatz, evtl. auch zu Besuch kommen, ohne umfassende Wahrnehmung, lebendige Beziehung oder wirklichen Halt gewährleisten zu können.

Hilfe nach Bedarf oder nach Zufall und Geldbeutel?

Wie auch immer: Mehr Menschen erwarten Hilfe für Ihre wunde/kranke Seele! Wie gehen wir damit um? Wo geht es um Lebenshilfe und sozialen Rückhalt, wo um Psychiatrie und Psychotherapie? Wo brauchen wir eine Stärkung von Selbsthilfe und nachbarschaftliche Unterstützung, wo den Fachmann für die Leiden des Einzelnen, wo den für das Zusammenleben von Paaren, Familien und sozialen Systemen? Und wie erreichen wir, dass bei dem entbrannten Verteilungskampf zwischen Institutionen und Berufsgruppen nicht die Patienten hinten anstehen, die professionelle Hilfen vielleicht am meisten brauchen, aber am wenigsten laut selbst dafür sorgen können? Wie tragen wir dazu bei, dass z.B. bei psychoseerfahrenen Patienten nicht Zufall, Markt, Geld oder vermeintliche Attraktivität über bestimmte Hilfen entscheiden, sondern individuelle Bedürfnisse und Ressourcen, klinische Erfahrungen und wissenschaftliche Behandlungsleitlinien? Uralt sind die Forderungen, die Krankenhausfinanzierung zu ändern, um die Strukturen durchlässiger zu machen und personellen Ressourcen bedürfnisnäher, bettenunabhängiger, damit flexibler und kontinuierlicher einzusetzen. Und endlich, 30 Jahre nach Beginn der Aktionen der Plattformverbände (DGSP, DGVT, GwG u.a.), gibt es Träger und Kassen, die neue Modelle erproben; hervorzuheben sind hier besonders Regionales Budget und Integrierte Versorgung. Uralt ist auch die Forderung, die Barrieren zwischen Kranken- und Eingliederungshilfe (SGB V und XII) durchlässiger zu machen. Und schon bei der Einführung des Psychotherapeutengesetzes wurde von Kritikern befürchtet, dass ohne strukturelle Einbindung und Ausbildungsoffensive die neuen Ressourcen eher den fast gesunden als den schwer erkrankten Menschen zugute kommen. Die gegenwärtige regional ungleiche und inhaltlich ungerechte Verteilung der psychotherapeutischen Ressourcen gibt Ihnen Recht (Bock, 2011a). Ähnliches gilt für unsere Kritik am Psychotherapeutengesetz, dass die Strukturen der Einzelpraxis ernsthaft psychisch erkrankte Menschen systematisch ausgrenzen. Mit der gleichen Verzögerung von etwa 30 Jahren kommt nun endlich eines Diskussion in Gang, welche Änderungen an Ausbildungsinhalten, Versorgungsstrukturen und Gutachterverfahren nötig sind, um z.B. auch Menschen mit Psychosen und Bipolaren Störungen psychotherapeutisch zu behandeln, wie das moderne Leitlinien eindeutig fordern.

Je kränker, desto weniger Hilfe - in der übrigen Medizin undenkbar

Die Versorgungsrealität in Deutschland sieht folgendermaßen aus: Wer eine schizophrene/kognitive Psychose oder eine Depression/Manie mit psychotischen Spitzen entwickelt, bekommt nur selten eine adäquate psychotherapeutische Hilfe - obwohl der Nutzen erwiesen und die Bereitschaft vorhanden ist. Am Beispiel von Patienten mit diesen Diagnosen (F20 und F31) wird deutlich: Ein bloßer Zuwachs an Psychotherapie-Praxen alleine hilft den psychotisch Erkrankten nicht wesentlich; es geht auch um bessere Qualifikation und Zusammenarbeit, weniger Vorurteile und Ausgrenzung, vor allem um andere Strukturen, die mehr Kontinuität sowie eine andere Verteilung von ambulanten und stationären Ressourcen erlauben. Die so genannten Hilfen zur Wiedereingliederung fehlen entweder ganz oder werden durch Marktmechanismen zersplittert. Dieser Mangel bedingt ein Übergewicht stationärer Unterbringung - für den Einzelnen schlechter, für alle teurer. Eine paradoxe Situation: Weil ambulant qualifizierte Hilfen fehlen, landen und bleiben Patienten in Kliniken und Heimen, für die das schlechter und teurer ist. Je kränker jemand ist, desto geringer sind seine Chancen auf qualifizierte (ambulante) Hilfe. In der übrigen Medizin wäre diese Ungerechtigkeit undenkbar.

Integrierte Versorgung - Nutzen und Risiken verschiedener Modelle

Nun kommt Bewegung in die Psychiatrie - doch leider zunächst nur in Gestalt von Separatverträgen zwischen einzelnen Kassen und Anbietern nach dem Modell der Integrierten Versorgung. Home Treatment, Need Adapted Treatment, Assertive Community Training (ACT), Peer Support, Experienced Involvement. Mal abgesehen, dass uns die deutsche Sprache verloren geht, ist die inhaltliche Richtung sehr erfreulich. Dass sie auch aus der finanziellen Not der Krankenkassen geboren ist, macht die Entwicklung nicht falsch. Die Zielsetzung "ambulant vor stationär" kann man nicht unbedingt als neu bezeichnen, doch sie scheint endlich ernst gemeint. Mobile Krisenintervention, Einbeziehung der Angehörigen, Nutzung von Ressourcen - Forderungen, die von den Verbänden der Psychiatrie-Erfahrenen und der Angehörigen ebenso wie von Deutscher Gesellschaft für soziale Psychiatrie und Dachverband Gemeindepsychiatrie seit langem und mit großer Dringlichkeit erhoben werden. Die breite Gesundheitspolitik droht die Entwicklung zu verschlafen oder - FDP-gesteuert - zu blockieren (s.u.). Modelle der "Integrierten Versorgung" wollen die vorhandenen Ressourcen verfügbarer und die Behandlung tragfähiger machen. Im deutschen Gesundheitswesen eine Sisyphusaufgabe! Weil der Gesetzgeber entsprechende Leistungen (noch) absichert, bieten einzelne Kassen Sonderverträge:

  • Verträge, die v.a. die Krankenhausfinanzierung ändern und Kliniken dafür belohnen, Ressourcen in den ambulanten Bereich umzuwidmen und Home Treatment aufzubauen (Hamburger Modell DAK/AOK u.a.),
  • Verträge, die den Auftrag an Träger der Sozialhilfe und Eingliederung (SGB XII) um ambulante Krisenintervention inkl. Home Treatment (SGB V) erweitern (TK-Modell),
  • Verträge, die Facharztpraxen aufzuwerten versuchen mit dem Ziel, komplexere und niedrig-schwellige Leistungen anzubieten (Psyche Aktiv der AOK Sachsen, Berliner Modell DAK/BKK).

Im Folgenden werden zunächst zwei Modelle der Integrierten Versorgung gegenübergestellt und dann die Idee des regionalen Budgets mit den eher kleinteiligen Bemühungen um eine offizielle Krankenhausfinanzierungsreform konfrontiert.

Und sie bewegt sich doch (die Klinik) - Grundidee des Hamburger Modells

Das Hamburger Modell zielt auf eine kontinuierlich und mobile Behandlung akut oder chronisch schwer Kranker (zunächst vor allem F2 und F3 Diagnosen). Auf der Basis der realen Kosten für dieses Klientel drei Jahre vorher wird der regional zuständigen Klinik eine Jahrespauschale bewilligt, die alle (teil-)stationären und ambulanten Leistungen einschließt, sie zum Aufbau eines Home Treatment-Teams verpflichtet, die Kooperation mit der Gemeindepsychiatrie fördert und die Beteiligung der niedergelassenen Psychiater belohnt (Lambert et al., 2010a; Bock, 2011b). Plötzlich ist nicht mehr das belegte Bett Maß aller Dinge, sondern die Fähigkeit eines ambulanten Netzes zu tragen. Eine schier unglaubliche Änderung im Selbstverständnis und in der Ressourcenzuteilung! Mit starken Ergebnissen hinsichtlich Liegezeiten (weniger als die Hälfte), Zwangseinweisungen (weniger als ein Drittel), Symptomatik und Lebensqualität (deutlich besser). Der Schlüssel liegt in einer eindeutigen Zuständigkeit und personellen Kontinuität durch Institutsambulanz und Home Treatment-Team. Durch den Einschluss der stationären Kosten stehen insgesamt mehr Ressourcen zur Verfügung als beim TK-Modell. Insgesamt ein Win-Win-Win-Geschäft für Patienten/Angehörige (Kontinuität, Rufbereitschaft, Krisenintervention), Klinik (flexibler Einsatz von Ressourcen, Arbeitszufriedenheit) und Kassen (Kostentransparenz u. -ersparnis).

Abbildung 1
 Ergebnisse (Lambert et al., 2010b)
  • Steigerung ambulanter Kontakte (von durchschnittlich 0,2 auf 2,2 je Woche / x 11)
  • Steigerung Anteil Psychotherapie (von durchschnittl. 5% auf 52% / x10)
  • Halbierung stationärer Zeiten/Kostenreduktion insgesamt
  • Mehr Behandlungstreue/Reduktion Behandlungsabbruch / deutlich weniger Zwangsmaßnahmen
  • Anhaltende Abnahme Psychopathologie (CGI u.a.)
  • Anhaltende Zunahme Lebensqualität und soz. Funktionsniveau (GAF)
  • Deutlich mehr Behandlungszufriedenheit (Patienten und Angehörige)

Verantwortung und Risiko - Grundidee des TK-Modells

Das TK-Modell will Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen und verschiedener Bedürftigkeit einschließen. Die Kosten werden prospektiv berechnet/geschätzt und in 5-6 Pauschalen sortiert. Diese liegen jeweils deutlich niedriger als die realen Kosten der Vergangenheit und insgesamt auch deutlich niedriger als im Hamburger Vertrag (s.o.). Das Modell zielt auf eine Stärkung der Gemeindepsychiatrie und einen Einschluss von Behandlungsleistungen wie Home Treatment und mobile Krisenintervention. Gerade in der Kombination mit SGB XII Leistungen ein großer Zugewinn in der lebensnahen Tragfähigkeit mit großen Chancen auch hinsichtlich der Kontinuität. Doch müssen die Träger zugleich ein Risiko übernehmen, das sie nicht allein begrenzen können: Kommt es trotz aller Anstrengungen zu einer (teil)stationären Behandlung, wird diese als Malus angerechnet; d.h. der Träger haftet für stationäre Kosten und wird so dazu verleitet, Patienten mit Rückfallrisiko auszuschließen. Doch genau für die ist integrierte Versorgung eigentlich gedacht. Anfangs galt der Malus sogar für die Nutzung der regional zuständigen Institutsambulanz. Das konnte von den Trägern gemeinsam zurückgewiesen werden; nun wird es darauf ankommen, die Malus-Regelung insgesamt zu revidieren. Problematisch erscheint auch, dass die inhaltliche Konzeption räumliche Nähe erfordert, die Träger aber zu überregionalen Geschäftsmodellen (Managementgesellschaften) gedrängt werden.

Integrierte Versorgung integrieren!

Das Hamburger Modell von DAK/AOK und Uniklinik setzt auf eine grundlegende Veränderung der Krankenhausfinanzierung. Das hier vorgestellte Modell von Techniker-Krankenkasse und Dachverband setzt auf den Zugang der Gemeindepsychiatrie zu SGB V. Das Hamburger Modell bezieht den Träger, der die größten finanziellen Ressourcen bindet, ein und schafft dort andere Belohnungsmechanismen. Das wertet die neuen Angebote (Home Treatment) auf, birgt aber das Risiko, dass die Klinik zu viel Dominanz entwickelt. Die Kooperation mit der Gemeindepsychiatrie wird zwar erwartet und gefördert; doch diese profitiert nicht unmittelbar. Das TK-Modell stärkt die Gemeindepsychiatrie, belegt sie aber auch mit einem hohen Risiko. Die Belohnungsmechanismen der Kliniken werden nicht verändert. Dadurch fehlen für die Reform beträchtliche Ressourcen. Beide Ansätze sind nicht alternativ, sondern entsprechen uralten Forderungen der Psychiatriereform! Es kommt darauf an, beide zu integrieren. In beiden Varianten würde es Sinn machen, Dreier-Verträge (Gemeindepsychiatrischer Träger - Klinik - Kasse) zu entwickeln und zu erproben, die im einen Fall die Kooperation mit der Gemeindepsychiatrie verbindlich festlegen sowie im anderen Fall die Kliniken vertraglich beteiligen und verpflichten. Überregionale Verträge sollten eine gemeindenahe Ausgestaltung verbindlich vorschreiben.

Abbildung 2: Gegenüberstellung der beiden wichtigsten I.V.-Modelle (Bock, 2010) (Copyright: Prof. Dr.Thomas Bock, Uniklinik Hamburg-Eppendorf)
  Hamburger Modell Uniklinik (DAK, HEK, IKK u.a.) TK-Modell (außerklin. Schwerpunkt)
Idee Jahrespauschale für alle Leistungen einer Klinik ab Beginn der Behandlung bestimmter Patienten, Umkehr der Belohnungsmechanismen: Statt „Full-house“ ambulante Arbeit gestufte Pauschalen für gemeindepsychiatr. Dienste nach der stationären Erstbehandlung, Aufbau von Leistungen, die neue stationäre Behandlung unnötig machen, Budget-Modell
Zielgruppe Psychosen, Bipolare Störungen, aber übertragbar (akut o. chronisch) mehr Diagnosen, aber Start mit Teilbereichen möglich
Kernleistung
in Pauschale
Institutsambulanz, Home Treatment, z.B. (teil)stationäre Leistungen amb. Pflege, Soziotherapie, Home Treatment, Krisen-Betten
Kooperation
außer Pauschale
Amb. Pflege, Ergotherapie, Psycho-therapie, gemeindepsychiatr. Dienste Psychiater, Psychotherapeuten, Ergotherapie, Eingliederungshilfe
Ermittlung Pauschale retrospektiv anhand realen Kosten in Vorjahren inkl. Fremdbelegung prospektiv anhand vermuteter Folge- Kosten nach Gesamtkosten 2006/7
Besonderheit Verfügungssumme durch Einschluss stationärer Kosten höher Konzentration auf ambulanten Bereich
Risiko korrekte Zuordnung der Erlöse zu Leistungserbringern wichtig ambulanter Träger haftet für stationäre Aufnahmen
Bonus/Malus Bonus für kooperierende Praxen Malus für Klinik-Behandlung
Hometreatment explizit eingeschlossen mit therapeut. Beziehungsqualität; „Management“ allein reicht nicht! amb. Krisenintervention und länger-fristige Begleitung zuhause (ACT) vorzuhalten (Qualität budgetabhängig)
Psychotherapie integriert und als Leistung über KV zu erbringen, Netzwerkbildung gefordert als Leistung über KV, Netzwerk, nur begrenzt integriert
Ersterkrankte explizit eingeschlossen stark unterbewertet oder eigene Phase A vereinbaren (ähnlich DAK-Modell)
Bewertung schafft für Patienten mehr Kontinuität u. Flexibilität, für Kassen mehr Transparenz, für Träger mehr Flexibilität im Mittel-/Personaleinsatz, darf sich nicht auf Klinik konzentrieren, Kooperation mit Sozialpsychiatrie/Psychotherapie notwendig erschließt ambulanten Trägern Mittel der GKV, wenn auch mit hohem Risiko, gibt ambulanter Versorgung mehr Gewicht mit ähnlichen Vorteilen für Patienten, durchbricht die spezielle Dynamik der Krankenhausfinanzierung nicht
Empfehlung Kombination beider Modelle! Klarer Sektorbezug, nicht überregional! Bildung eines verbindlichen Netzwerks, Trialogische Qualitätssicherung gerade auch im Hinblick auf Home Treatment/amb. Krisenintervention, Integration Psychotherapie

Kontrolle und Qualitätssicherung

Budgetübergreifende Krankenhausfinanzierung, Verbindung von SGB V und XII sowie Vernetzung und Einbindung von Praxen - alles drei ist notwendig; aber nicht separiert, sondern integriert. Einzelne Kassen mögen vorangehen und erproben, doch die wirkliche "Integration der Integrierten Versorgung" ist Aufgabe der Politik. Alle Modelle sind hoffnungsvoll, weil sie vorhandene Ressourcen besser nutzen. Doch ihre Qualität bedarf der Kontrolle,

  • ob die regionale Vernetzung von Hilfen gestärkt oder geschwächt wird,
  • ob sie psychotherapeutisch qualifiziert sind oder sich auf die reine Kontrollfunktion beschränken und
  • ob die Hilfen bedürfnis- und ressourcenorientiert sind oder fremden Interessen dienen:
    Äußerst fragwürdig wird es, wenn pharmazeutische Unternehmen oder deren Ableger Integrierte Versorgung anbieten, wie der Janssen-Ableger Care4 in Niedersachsen; denn nicht nur Wirtschaftsunternehmen werden von eigenen Interessen geleitet, auch die AOK als Auftraggeber profitiert im Strukturausgleich der Kassen von der Höhe der Medikation! Beim besten Willen der Beschäftigten: Wie soll bei solchen Interessenkonflikten unabhängige, bedürfnis-orientierte Hilfe möglich sein?!

Nicht den "Bock zum Gärtner machen"

Der Einfluss privatwirtschaftlicher Interessen sollte höchst kritisch geprüft und im Fall eines unmittelbaren Einflusses von Pharmafirmen unbedingt ausgeschlossen werden! Ein Beispiel von inzwischen zahllosen I.V.-Verträgen (s. www.integrierte-versorgung.psychenet.de) machte negative Schlagzeilen und drohte vorübergehend die gute Idee in Verruf zu bringen - bis eine breite Gegenbewegung den Träger, einen direkten Abkömmling des Pharmakonzerns Janssen-Cilag, weitgehend auflaufen lief: In Niedersachsen wollte der Konzern über eine 100%ige Tochter die Regularien eines I.V.-Vertrages für schizophrene Menschen bestimmen. Jenseits aller Konflikte im Detail ist das in Deutschland ein Tabubruch. Schon die Krankenkassen sind über den Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen nicht interesselos bzgl. Diagnostik und Menge der Medikation. Wenn dann mit dem Träger auch der zweite große "Hauptplayer" diesmal sogar in indirekter Abhängigkeit steht, dann bleibt kein Spielraum mehr, entstehen Blockaden im Kopf - bei allen Beteiligten. Pharmakonzerne haben im Gesundheitsmanagement nichts zu suchen. Wohltuend breit war und ist die politische Gegenwehr gegen diese unzulässige Öffnung des § 140 SGB V, die ausschließlich der FDP-Ausrichtung des Gesundheitsministeriums zu verdanken ist und mit dieser hoffentlich bald verschwinden wird. Managementfirmen, wenn sie denn nötig sind, sollten gemeinnützig und regional orientiert sein sowie der demokratischen Kontrolle unterliegen.

Regionales Budget - neue Impulse für den ländlichen Raum

Ein regionales Budget wurde in Deutschland zum ersten Mal im Kreis Steinfurt in Schleswig-Holstein verwirklicht. Die Grundsätze beschreibt Prof. Deister, Chefarzt der Klinik Itzehoe, so:


Es wird mit allen Krankenkassen /-verbänden ein über mehrere Jahre festgeschriebenes Gesamtbudget für die klinische Versorgung einer Region vereinbart.
Voraussetzung für die Realisierung des Budgets ist nur die Versorgung der Region (Zahl der behandelten Menschen innerhalb eines Korridors).
Das Krankenhaus ist völlig frei in der Wahl des Behandlungssettings.
Der Leistungserbringer übernimmt eine Gewährleistung. (Deister, 2009)


Die Vorteile liegen auf der Hand: Auf der Basis eines festgeschriebenen Budgets kann die Klinik ihre Ressourcen flexibel je nach Bedarf einsetzen und so auch leichter Behandlungskontinuität organisieren. Ob damit automatisch auch das Niveau der Behandlung im Sinne von aufsuchender ambulanter Krisenintervention steigt, hängt von der Höhe der Pauschale ab. Die Vertragsgestaltung setzt i.d.R. einen klar begrenzten Behandlungsraum voraus.

Die offizielle Reform der Krankenhausfinanzierung - ein bürokratisches Monster
Mit viel Aufwand sollte die Krankenhausfinanzierung auch offiziell reformiert werden. An die entsprechende Gesetzesinitiative knüpften sich erst hohe Erwartungen, z. B. über entsprechende ambulante Tagespflegesätze Home Treatment als Regelleistung fest verankern zu können. Doch inzwischen sieht es so aus, also ob sich die Reform auf den stationären Bereich beschränkt, hier mehr Differenzierungen nach Zeit und Intensität einführt, also im Wesentlichen mehr Dokumentationspflichten bringt, ohne die Flexibilität zu verbessern. Ein bürokratisches Monster. Die Sorge aller Reformgruppen, aber auch sonst fast aller Beteiligten, wird noch dadurch verstärkt, dass Berechnungseinheiten zugrunde gelegt werden, die, wenn überhaupt, zur Psychosomatik passen, die flexible und oft eher atmosphärische Beziehungsarbeit in der Akutpsychiatrie aber gar nicht erfasst. Die unselige Konkurrenz beider Institutionen wird noch weiter auf die Spitze getrieben: Während die Psychosomatik ihre Ressourcen zeitlich nahezu unbefristet zugeteilt bekommt und entsprechend einsetzen darf, muss die Psychiatrie auch bei Schwerkranken bereits nach zwei Wochen eine progrediente Abstufung hinnehmen, die dann auch bei Neuaufnahmen im selben Jahr nicht wieder aufgehoben wird. Wieder eine Maßnahme zulasten von Schwerkranken. Wieder ein unseliger Belohnungsmechanismus mit fatalen Folgen hinsichtlich aktueller Schwerpunksetzung und langfristiger Ressourcenverteilung.

Integration in den Köpfen

Was bedeuten die neuen Strukturen für die inhaltliche Arbeit? Wenn Home Treatment heißen würde, die klinische Akutpsychiatrie mit ihrem eingeengten Krankheitsverständnis und Beziehungsangebot in die Wohnzimmer zu tragen, wäre ich ein Gegner von Home Treatment. Auf dem Weg nach draußen, muss sich die Psychiatrie radikal verändern. Sie muss ein offeneres eben auch anthropologisches Verständnis und ein eher dialogische Beziehungskultur entwickeln sowie die Ressourcen von Familie und Sozialraum einbeziehen. Ich vertraue darauf, dass dieser Prozess möglich ist, dass der Trialog insgesamt mehr an Bedeutung gewinnt. Heißt es nicht, dass im Zweifel eher das Sein das Bewusstsein bestimmt?

Je früher - desto vorsichtiger: Konzept des "Offenen Dialoges”

Viele Patientenkarrieren entscheiden sich am Anfang. Wo und wie der Erstkontakt mit der Psychiatrie stattfindet, entscheidet wesentlich über Selbstverständnis, Krankheitskonzept und Eigenverantwortung. Der beste Prädiktor für die Wahrscheinlichkeit einer erneuten stationären Aufnahme ist die erste Hospitalisierung! Das Ausmaß von (Selbst)Stigmatisierung hängt nicht erst von der Reaktion in Nachbarschaft und Kollegenkreis ab, sondern viel mehr und früher von der sprachlichen Sensibilität und dialogischen Fähigkeit des Erstbehandlers. Auf Haltung, Verständnis und Beziehungsqualität kommt es an. Die Erfahrung in Hamburg lehrt: ACT ist eine beziehungs-orientierte Psychotherapie; die reine Pillenkontrolle ist weder tragfähig noch wirksam (Bock, 2012). Neben der Integration der beiden Modelle der Integrierten Versorgung (s. o.) und deren Ausweitung über möglichst viele Träger und Kassen, gilt es also wesentliche Errungenschaften der Trialog-Kultur zu integrieren:

  • die anthropologische Sichtweise statt Psychopathologie in Reinkultur mit bedingungslosem Clustern von Symptomen zu Diagnosen,
  • Vorsicht und Behutsamkeit statt Hektik und Standard ("je früher, desto vorsichtiger"),
  • individuell bedürfnisangepasste Strategien mit Respekt für subjektive Perspektiven,
  • den Blick auf individuelle und soziale Ressourcen anstatt kränkender Defizitorientierung,
  • psychotherapeutische Vielfalt über medikamentöse Behandlung hinaus,
  • Begegnung auf Augenhöhe und selbstverständliche Beteiligung der Angehörigen in ihrer ganzen Vielfalt - Eltern, Geschwister, Partner, Kinder, Freunde (Bock et al., 2012).

Unter der Überschrift "open dialog" oder "Bedürfnisangepasste Behandlung" hat sich in Skandinavien eine Form der Erstbehandlung entwickelt, die systemisch bzw. trialogisch organisiert ist, großen Wert auf unvoreingenommene Begegnung und Konfliktbewältigung legt und dabei weitgehend eine Behandlung vor Ort mit großer Kontinuität und selektiver Medikation garantiert (Alanen, 2001; Aderhold et al., 2003).

Aneignung statt Abspaltung - Sinn-Bedürfnis und Psychosen-Psychotherapie

Viele Patienten geben ihren Symptomen eine eigene Bedeutung, einen subjektiven Sinn. Das gilt für schwere somatische, aber eben auch für psychische Erkrankungen. Das Hamburger SuSi-Projekt untersuchte erst 90, dann noch einmal über 400 Patienten - unter Kontrolle der Schwere der Erkrankung und Berücksichtigung von Lebensqualität und sozialer Anpassung. In beiden Studien ist das Sinn-Bedürfnis riesig: 70 - 80 % von befragten Psychose-Patienten sind überzeugt, dass ihre Psychose unverwechselbar ist, ihre Symptome konkrete Lebenserfahrungen spiegeln, eine Sprache sprechen und nicht nur beeinträchtigend, sondern auch lehrreich sein können. Etwa die Hälfte erlebt die eigene Symptomatik nicht nur negativ und fast 60% ordnen der Psychose auch konstruktive Auswirkungen zu. Vor allem aber: Je eher Menschen die eigene Psychose-Symptomatik mit der Lebenserfahrung in Verbindung bringen, umso selbstbewusster betrachten sie auch ihre Symptomatik und umso hoffnungsvoller ihre Zukunft (Bock et al., 2010; Klapheck et al., 2011). Das ist als ein Auftrag für Psychosen-Psychotherapie zu verstehen. Doch diese zu integrieren, ist allein schon eine große Herausforderung, solange die niedergelassenen Psychotherapeuten Patienten mit F2- und F3-Diagnosen weitgehend vermeiden (Melchinger, 2008). Hier könnten beide Modelle Integrierter Versorgung neue Wege gehen und neue Netzwerke fördern.

Krankheitseinsicht und Compliance - "Höllenhunde" vor der Psychiatrie?

Psychoseerfahrene Menschen sind in mehrfacher Hinsicht "eigensinnig": Ihre Sinne gehen eigene Wege. Die Wahrnehmung der Realität ist verändert. Die Gedanken sind sprunghaft. Das Verhalten wird unverständlich - vielleicht ein Versuch, sich vor dem vermeintlichen Zugriff anderer auf einen letzten Hort von Eigenheit zu retten? Sie ringen um Eigenheit und Sinn - körperlicher und existentieller als jeder andere Mensch (Bock, 2008/2011). Im Umgang mit eigensinnigen Patienten macht es sich die moderne Psychiatrie bisweilen bequem, indem sie Krankheitseinsicht und Compliance, also Kooperation, mehr von den Patienten als von sich selber verlangt. Patienten sollen Einsicht zeigen, d.h. die ärztliche Sicht der Erkrankung übernehmen; sie sollen Compliance mitbringen, also tun was der Arzt für richtig hält. Wir selbst bemühen uns kaum noch um tieferes Verständnis, begnügen uns mit Diagnosen, als könnten die erklären, was sie bestenfalls beschreiben. Und wir ignorieren, dass über allem die Lebensaufgabe steht, Autonomie und Identität zu entwickeln. Bereits vor zehn Jahren fand eine Züricher Forschergruppe (Rössler, 1999) heraus, dass Patienten mit "idiosynkratischen Krankheits-konzepten", also letztlich mit eigensinnigen Erklärungsmustern, eine höhere Lebensqualität haben. Dieses eher unerwartete Ergebnis einer großen Studie fordert uns zum Umdenken auf: Wir müssen Einsicht nehmen, weniger in eine abstrakte Krankheit, als in die konkreten Lebensumstände und die besondere Entwicklung eines bestimmten Menschen. Und wir müssen beweglich bleiben, auch Umwege gehen und unsererseits um Kooperation ringen (Bock, 1997/2007).

Krankheitseinsicht und Compliance laufen in Gefahr Kampfbegriffe zur Selektion von Patienten zu werden. Dabei ist die Forschung an der Stelle längst weiter: Eine eher schematische KE (ICD 20) hat gravierende Nebenwirkungen, wie z.B. deutlich gestiegene Depression/Suizidalität. Eigensinn korreliert hoch mit Lebensqualität.

Recht auf Erkrankung ... und auf Behandlung?

Das Konzeptions- und Interessens-Dilemma der Psychiatrie wird noch einmal bis zur Kenntlichkeit verdeutlicht durch das notwendige in vieler Hinsicht beschämende Urteil hoher Gerichte mit Bezug auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die Zwangsbehandlung zu untersagen, weil die aktuellen Regeln dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Eine große Verunsicherung. Ich hoffe, dass sie noch eine Zeit lang bleibt; denn es geht nicht nur um neue Gesetze, sondern um neues Denken, neue Konzepte. Es geht um ein Zusammendenken von individuellen Rechten und diese sichernde Strukturen. Es geht also nicht um die schnellstmögliche Verabschiedung wasserdichter Gesetze, sondern das Etablieren von Strukturen, die Zwangsmaßnahmen minimieren. Dabei gilt es u.a. zu bedenken:

  • Das Hamburger Modell der Integrierten Versorgung trug dazu bei, die Rate an Zwangsmaßnahmen erst auf 20% nach 2 Jahren auf 10% zu reduzieren.
  • Behandlung ist nicht auf Medikation zu reduzieren. Vielmehr kommt es gerade in Notsituationen an der Grenze zu Selbst- und Fremdgefährdung darauf an, beruhigende Milieus und haltende Beziehungen zu etablieren - sei es zu Hause oder in soteriaähnlichen Strukturen.
  • Das Recht auf Erkrankung muss im Grundsatz auch für psychisch erkrankte Menschen gelten, aber nicht als Rechtfertigung von Gleichgültigkeit und Nichts-Tun. Vielmehr muss gleichzeitig ein Recht auf Behandlung gelten - im Sinne einer Hilfe, das Leben mit der Erkrankung abzusichern.

Primat der Psychotherapie - in veränderter Struktur

Hinsichtlich der Integration von Psychotherapie gibt es ein enormes Spannungsfeld zwischen berechtigten Ansprüchen und Anforderungen an Psychotherapie, sich endlich auch an der Behandlung von tief verunsicherten und schwerer erkrankten Menschen zu beteiligen, auf der einen Seite, und strukturelle bzw. personelle Unzulänglichkeiten auf der anderen Seite. Um dem zu begegnen, braucht man zunächst nicht mehr von demselben, keinen Zuwachs an Psychotherapeuten im gleichen Zeitschema und in der gleichen Struktur, sondern eine grundlegende Reform von Psychotherapie - im Sinne von mehr Zusammenarbeit in inhaltlicher und organisatorischer Hinsicht (DDPP).

Nachhaltige Hilfe bei Psychosen möglich - aber nicht üblich

Menschen, die Psychosen entwickeln, können in existentiellen Lebenskrisen aus der uns tragenden Realität aussteigen. Ihre Eigenwelt kann eine psychische, soziale und körperliche Eigendynamik entwickeln. Sie brauchen Hilfe auf dem Weg zurück. Soll die Hilfe nachhaltig sein, darf sie nicht nur durch Psychopharmaka erfolgen, sondern sie muss Problembewältigung, Verarbeitung und Aneignung des Erlebten und Reintegration beinhalten. Wir Psychotherapeuten haben begriffen: Gerade wenn, wie bei einer Psychose, Handeln, Denken und Fühlen vorübergehend auseinanderdriften, müssen die entsprechenden Fachleute - die z.B. verhaltenstherapeutischen, gesprächstherapeutischen, tiefenpsychologischen/psychoanalytischen und neuropsychologischen- zusammenarbeiten. Es gibt Konzepte, die nachhaltig helfen, und alle aktuellen wissenschaftlichen Leitlinien fordern ihre Anwendung.

Qualitätsmerkmale für ambulante Psychotherapie und Integrierte Versorgung

  • Für die psychotherapeutische Behandlung von Psychosen brauchen wir mehr verfahrensübergreifende Zusammenarbeit in Praxis, Lehre und Forschung.
  • Die Ausbildungspläne von Hochschulen und privaten Instituten müssen die Bedürfnisse von Patienten mit Psychosen und Bipolaren Störungen besser berücksichtigen.
  • Ärzte-/Psychotherapeutenkammern und Kassen müssen die Richtlinien für Psychotherapie entsprechend den modernen Behandlungsleitlinien ändern und erweitern.
  • Von den Anbietern "Integrierter Versorgung" ist zu fordern, dass sie auch psychotherapeutisch qualifiziertes Personal einstellen, psychotherapeutische Qualifikation fördern und mit Psychotherapiepraxen zusammenarbeiten. Die Kostenträger sollten die Instrumente haben, um dies zu kontrollieren.
  • Integrierte Versorgung sollte die Arbeit von Peer-Beratern (Betroffenen für Betroffene) einbeziehen, u.a. weil dies nachweislich Selbstwirksamkeit, Genesung und Lebensqualität fördert.
  • Der Gesetzgeber muss die Tür für Fremdinteressen in der Integrierten Versorgung schließen und die für eine wirksame Qualitätskontrolle öffnen - bis hin zu Integration und Übernahme der Modelle in die Regelversorgung.

Zusammengefasst spricht sich der DDPP für eine Intensivierung der psychotherapeutischen Behandlung bei Patienten mit Psychosen und anderen schweren psychiatrischen Störungen aus. Es ist Zeit für ein Ende des historisch bedingten und längst obsoleten Vorurteils, dass schwer kranke psychiatrische Patienten nicht von Psychotherapie profitieren! (www.ddpp.eu)

Zehn Thesen zu notwendigen Veränderungen

  1.  Es gibt keine psychischen Erkrankungen, deren Entstehung/Verlauf allein somatisch zu erklären und bei deren Behandlung eine Psychotherapie auszuschließen wäre.
  2. Die Wechselwirkungen somatischer und psychischer Prozesse sind hochkomplex; sie beeinflussen Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen auf mehreren Ebenen: Genanteile können "geweckt" werden; Abweichungen im Hirnstoffwechsel folgen auf psychischen Belastungen und erhöhen zugleich die Sensibilität.
  3. Konstitution und aktuelle Belastungen ergänzen sich. Insofern sind z.B. kognitive/ schizophrene und affektive Psychosen auch zu verstehen als existentielle Lebenskrisen besonders dünnhäutiger Menschen - mit entsprechend komplexer psychischer, sozialer und somatischer Eigendynamik.
  4. Psychotherapie kann helfen, zugrunde liegende Konflikte zu lösen oder Widersprüche/Spannungen zwischen innerer und äußerer Welt zu mindern, individuelle Bewältigungskräfte zu stärken oder mit verbleibender Krankheit gesund zu leben. Darüber hinaus kann sie die Wirksamkeit von Medikamenten (u. a. über den Respekt für subjektive Krankheitskonzepte) unterstützen und/oder Vertrauen und Kooperationsbereitschaft stärken.
  5. Aktuell gilt noch: Je gesünder, desto eher und je kränker, desto seltener erhalten psychisch erkrankte Menschen und ihre Familien psychotherapeutische Unterstützung.
  6. Dieser Mangel entspricht nicht dem Potential der Psychotherapie, erst recht nicht den Bedürfnissen und Möglichkeiten von Patienten und Angehörigen. Er reflektiert ungünstige Organisations- und Finanzierungsstrukturen sowie unzureichende Ausbildungs- und Forschungsbedingungen.
  7. Modelle der "Integrierten Versorgung" können und müssen nicht nur formal Versorgungsstrukturen und Finanzierungstöpfe integrieren, sondern auch inhaltlich psychopathologische und anthropologische Verstehensansätze, medizinische und psychologische Erklärungsmodelle sowie die entsprechenden psychiatrischen und psychotherapeutischen Handlungsstrategien.
  8. Eine entsprechend reflektierte, methodisch gesicherte Qualität der therapeutischen Beziehung kann maßgeblich zur Grundidee der Integrierten Versorgung beitragen: Krankheitserfahrung zu integrieren, individuelle, familiäre und soziale Ressourcen zu stärken, stationäre Behandlung zu reduzieren und ein Leben außerhalb von Institutionen zu ermöglichen.
  9. Psychotherapie kann unmittelbarer Bestandteil der Institutionen Integrierter Versorgung oder als verbindliches Netzwerk assoziiert sein. Entscheidend ist die Förderung einer gemeinsamen auf Verstehen und tragende Beziehungen ausgerichteten Behandlungskultur.
  10. Die Belange ernsthaft psychisch erkrankter Menschen müssen in der Ausbildung stärker berücksichtigt werden - vom Psychologiestudium bis zur praktischen Weiterbildung:
    a. Im Studium: Mehr Wissen über Diagnostik und Therapie, Begegnungsprojekte (Experienced Involvement), Verschiedene Verstehens- und Behandlungsansätze
    b. In theoretischer Weiterbildung: Neurose- und Psychosetheorien
    c. In praktischer Weiterbildung (PiPler-Zeit): Kennenlernen von integrierter psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung auch im ambulanten Kontext
    d. In Therapie/Supervision: Verpflichtung, bei entsprechender Supervision auch 1-3 Menschen mit Psychose-Erfahrung zu behandeln

Trialogische Bürgerinitiativen - für mehr Sensibilität und Toleranz

"Irre menschlich Hamburg e.V." gehört mit "Irrsinnig menschlich Leipzig" zu den Antistigmaprojekten der ersten Stunde. Im Unterschied zu Leipzig sind die Themen und Einsatzorte in Hamburg sehr viel breiter angelegt und die Angehörigen spielen im Sinne eines Trialogs eine größere Rolle. Das gilt insbesondere auch für die vielen verschiedenen Fortbildungsangebote. Zu den Leistungen des trialogischen gemeinnützigen Vereins gehören:

  • regelmäßige Informations-, Unterrichts- und Präventionsprojekte für Hamburger Schulen für alle Altersstufen und verschiedene Unterrichtsfächer,
  • regelmäßige Tage der offenen Tür u.a. speziell für Schüler/innen "Psychiatrie macht Schule",
  • Aufklärungs- und Informationsprojekte in Hamburger Betrieben,
  • regelmäßige Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für Gesundheitsberufe, Jugendhilfe, Polizisten, Lehrer, Pastoren, Wohnungswirtschaft, ...,
  • öffentliche Aktivitäten u.a. in Zusammenarbeit mit dem Behindertenbeauftragten,
  • verschiedene kulturelle Veranstaltungen (Ausstellungen, Filme, Theater),
  • Entwicklung, Erprobung und Durchführung eines Curriculums zur Vorbereitung Psychiatrie-Erfahrener auf eigenständige Aufgaben in Antistigmaarbeit und psychosozialer Versorgung.

Es gibt Referent/innen zu allen Störungsbildern, einen großen Bestand an authentischen Materialien, die kostenlos zur Verfügung gestellt werden (Medienkoffer), ein ausführliches Lehrer-Begleitheft "Irre!", die erfolgreiche trialogische Broschüre "Es ist normal verschieden zu sein - Verständnis und Behandlung von Psychosen" sowie die preisgekrönte Photoausstellung (mit eigener Broschüre) "Erfahrungsschatz", in der in Bild und Wort vor allem Erfahrene portraitiert werden, die ihre Krankheitserfahrung in Aktivitäten zum Nutzen anderer umgewandelt haben. Alle Projekte dienen dem Ziel "Mehr Toleranz im Umgang mit anderen und mehr Sensibilität im Umgang mit sich selbst" - als Voraussetzung für seelische Gesundheit bei allen Beteiligten (www.irremenschlich.de).

Die Projekte haben zunehmend auch präventive Bedeutung: Die Begegnungsprojekte zielen auf mehr Sensibilität und Krisenfreundlichkeit im Umgang mit sich selbst sowie auf mehr Wachheit und Toleranz im Umgang mit anderen - bei SchülerInnen ebenso wie bei KollegInnen und Nachbarn.

Die trialogischen Fortbildungen wollen über das andere Verständnis und die andere Wahrnehmung auch Konflikten und selektiven Mechanismen entgegenwirken sowie die Inklusion verstärken. Das gelingt in doppelter Hinsicht - durch die selbstverständliche direkte Beteiligung von Betroffenen und Angehörigen sowie durch deren Wirkung auf die verschiedenen Zielgruppen, meist Berufsgruppen, die nicht ständig und ausschließlich, real aber zunehmend häufiger und entscheidend mit psychisch erkrankten Menschen zu tun haben.

Jenseits der Mauern - Elemente einer künftigen Psychiatrie

Integrierte Versorgung meint nicht nur die Integration von Geldströmen und Dienstleistungen. Maßstab ist die innere Integration von seelischer Not und entfremdeter Wahrnehmung sowie die soziale Integration in Familie und Umfeld. Ein Zuwachs an Flexibilität für Kliniken oder an Behandlung durch Gemeindepsychiatrie ist kein Wert an sich; entscheidend ist, ob eine tragende und innere Integration fördernde Beziehung entstehen kann und ob Bedeutungsräume erschlossen werden, die der besonderen Erfahrung Sinn geben.

  1. Die Psychiatrie muss wieder politischer werden. Die Beschaffung von Wohnung und Arbeit sind kein fachliches Problem, aber Voraussetzung jeder Reform.
  2. Eine menschenwürdige Psychiatrie im Sinne von Respekt und Beziehungsqualität muss täglich neu erstritten werden.
  3. "Integrierte Versorgung" muss nicht nur sektorale Finanzierungs- und Versorgungsstrukturen überwinden, sondern auch eingefahrene Verstehens- und Behandlungsmuster ändern.
  4. Den Trialog auf alle Ebenen zu übertragen - inkl. Lehre, Qualitätssicherung und Forschung - bedeutet eine große Herausforderung und Chance.
  5. Zahlen, wonach "30% der Menschen psychisch krank" seien, sind interessengeleitet und fragwürdig. Zugleich stellt sich aber auch die Frage, ob die Menschheit kränker wird oder ob es gelingt, die Krankheit menschlicher und die Behandlung inklusiver zu machen?
  6. Die Besinnung auf Anthropologische Aspekte muss den pathologischen Reduktionismus korrigieren helfen - eine Voraussetzung für Recovery, d.h. für die Abkehr von Unheilbarkeits-These und Symptomfixierung.
  7. Die Bedeutung von subjektivem Sinn und das Bedürfnis nach Kohärenz unterstreichen die Notwendigkeit von biographisch orientierter Psychosen-Psychotherapie, damit nicht die Abspaltung, sondern die Aneignung verstärkt wird.
  8. Bedeutung des Eigensinns als Ressource/Lebensqualität erfordert kreative Strukturen und flexible Beziehungsangebote, statt nur die "Höllenhunden" vor der Psychiatrie (Krankheitseinsicht und Compliance) zu füttern.
  9. Trialogische Bürgerinitiativen (wie z.B. Irre menschlich HH) haben mit Begegnungs-, Präventions-, Fortbildungsprojekten nicht nur eine psychiatrie-, sondern auch eine kommunalpolitische, nicht nur eine rehabilitative, sondern auch eine aufklärerische präventive Funktion.
  10. Die Entwicklung vom Erfahrenen zum Experten kann und wird die Psychiatrie sowie die Wahrnehmung psychischer Erkrankungen wesentlich verändern.

Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die Lebenssituation psychisch beeinträchtigter/erkrankter Menschen wieder im Kontext des Sozialraums, der Kommunal-, Schul- und Arbeitsmarktpolitik und der allgemeinen Lebensqualität, zu diskutieren, anstatt sie als Problem einer Randgruppe und Steckenpferd zunehmend spezialisierter Dienstleister zu betrachten.

Literatur

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Autor

Prof. Dr. Thomas Bock
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Uniklinik Hamburg-Eppendorf, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Mitbegründer des Trialogs, des Vereins Irre menschlich Hamburg e.V., Autor von über 100 Fachartikeln, zahlreichen Fachbüchern ("Stimmenreich", "Eigensinn und Psychose", "Achterbahn der Gefühle", "Lichtjahre" u.a.) und zweier Kinderbücher ("Bettelkönigin", "Pias lebt ... gefährlich").



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