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Psychologisierung am Beispiel bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge in Berlin

Anne-Kathrin Will
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 18 (2013), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Seit den 1960er Jahren werden immer mehr gesellschaftliche Sphären von psychologischen Konzepten und Techniken durchdrungen. Diese Entwicklung kann als Psychologisierung beschrieben werden. Anhand des Beispiels traumatisierter bosnischer Kriegsflüchtlinge werden die Funktionsweisen psychologischen Wissens herausgearbeitet. Dazu werden theoretische Konzepte von Ian Hacking, Eva Illouz und Nikolas Rose genutzt. Es wird dabei kritisch hinterfragt, ob psychologische und psychotherapeutische Antworten auf strukturelle gesellschaftliche Probleme gegeben werden können.

Schlüsselwörter: Psychologisierung, bosnische Flüchtlinge, Traumatisierung, Posttraumatische Belastungsstörung, Psychotherapie, Expertendiskurse

Summary

Psychologisation - using the example of Bosnian war refugees in Berlin

Since the 1960ies psychological concepts and techniques enter more and more societal spheres. This trend can be described as psychologisation. Using traumatised Bosnian war refugees in Berlin as an example, this article explores the functioning of psychological knowledge. To accomplish this, theoretical concepts of Ian Hacking, Eva Illouz and Nikolas Rose are deployed. It is questioned whether there are any effective psychological or psychotherapeutic answers to structural problems of western societies.

Key words: Psychologisation, Bosnian war refugees, traumatisation, Posttraumatic Stress Disorder, psychotherapy, expert dicourses



Der folgende Beitrag1 basiert auf sechzehn qualitativen Interviews mit bosnischen Flüchtlingen2 und weiteren acht mit ihren Therapeuten3 in Berlin. Die Interviews habe ich für meine Promotion geführt und mithilfe der situational analysis nach Adele Clarke (2005) ausgewertet. Ich argumentiere, dass psychologische Kategorien und Techniken zunehmend unsere Gesellschaft durchziehen und unser Denken und Verhalten bestimmen. Ich bezeichne dies als Psychologisierung. Sie zeigt sich auch in meinem Beispiel. Denn dass bei den bosnischen Kriegsflüchtlingen Posttraumatische Belastungsstörungen diagnostiziert wurden und sie in psychotherapeutische Behandlung geschickt wurden, sind zwei Begleiterscheinungen von Psychologisierung. Die bosnischen Flüchtlinge, mit denen ich sprach, wurden als psychisch krank definiert und sollten in den Therapien geschult werden, ihre Probleme zu bewältigen. Als Anreiz, sich überhaupt in Therapie zu begeben, fungierte für sie die Möglichkeit eines weiteren Aufenthalts in Deutschland. Psychiater und Psychologen erkämpften über mehrere Jahre diese Möglichkeit. Gleichzeitig entstand - wie die Ergebnisse zeigen - aber ein gesellschaftliches Gerechtigkeitsproblem, das die von mir interviewten Therapeuten durchaus sahen: Wieso sollten die Überlebenden selbst dafür sorgen, dass sie gesund werden, wo doch ihr Leben durch andere absichtlich zerstört wurde? Sobald die Verantwortung für ihre Genesung den Flüchtlingen selbst übertragen wird, verschwindet die gesellschaftliche Verantwortung für ihr Leiden und es wird zu ihrem eigenen individuellen Problem.

Im folgenden Artikel werde ich im ersten Teil die strukturellen Rahmenbedingungen für Psychologisierung anreißen, um im zweiten Abschnitt auf drei theoretische Konzepte einzugehen, mit denen ich mich dem neuen gesellschaftlichen Trend nähere. In den weiteren Abschnitten beschreibe ich die Diagnostik und Therapie einer Posttraumatischen Belastungsstörung bei bosnischen Flüchtlingen als Symptom von Psychologisierung. Hierzu nutze ich Datenmaterial aus Gesprächen und Aktenrecherchen, das ich im Rahmen meiner Dissertation gesammelt habe. Ich argumentiere, dass Diagnostik und Therapie eine psychologisierte Antwort auf gesellschaftlich verursachte schlechte Lebensbedingungen waren. Dann gehe ich auf therapeutische Widerstände ein. Die Flüchtlinge kamen nicht mit der gleichen Bereitschaft, ihr Verhalten zu ändern, in die Therapien, wie andere Patienten der Psychotherapeuten. Im vorletzten Teil beschäftige ich mich mit dem Therapieerfolg. Die Psychotherapien führten aus Sicht der Flüchtlinge und Psychotherapeuten nicht zu einer Linderung der Symptome, aber sie änderten das Selbstbild der Flüchtlinge. Im letzten Abschnitt fasse ich die Ergebnisse zusammen und erkläre sowohl den Erfolg als auch die Wirkweise von Psychologisierung.

Der folgende Beitrag stellt nicht das individuelle Leiden der Flüchtlinge in Frage. Die Kriegsfolgen sind real und Teil des Alltags der Überlebenden. Ich hinterfrage jedoch kritisch das psychotherapeutische Angebot, das den Überlebenden gemacht wurde. Und ich komme zum Schluss, dass Psychotherapien nicht die einzig adäquate und möglicherweise auch nicht die beste Form der Vergangenheitsbewältigung für die bosnischen Flüchtlinge waren.

Strukturelle Rahmenbedingungen für Psychologisierung: gesellschaftliche Veränderungen in westlichen Gesellschaften

Als Ausgangspunkt meiner These lässt sich konstatieren: Psychologie befindet sich auf Erfolgskurs. Im Jahr 1967 wurden die analytische und die tiefenpsychologische Psychotherapie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen und damit "bei Indikationsstellung durch einen Arzt für über 80 % der Bevölkerung prinzipiell zugänglich" (Roelcke in Tändler, 2011, S. 60). Zweiunddreißig Jahre später, 1999, wurde der Berufsstand der Psychologischen Psychotherapeuten durch den Erlass des Psychotherapeutengesetzes institutionalisiert und damit psychotherapeutisch tätigen Ärzten gleichgestellt. Die Berliner Psychotherapeutenkammer erinnert auf ihrer Homepage an die lange Vorlaufzeit: "Nach 20jähriger Diskussion trat am 01.01.1999 das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) in Kraft. Dieses regelt den Beruf der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Es entstanden zwei4 staatlich anerkannte neue Heilberufe" (Psychotherapeutenkammer Berlin, 2011).

Im Erlass des Psychotherapeutengesetzes wird für mich die Materialisierung eines Bedarfs deutlich, der seit den 1970er Jahren existiert. Wie auch in anderen westlichen Gesellschaften wurden individuelle und gesellschaftliche Probleme seit den 1960er Jahren in Deutschland zunehmend psychologisiert, d.h. mit psychologischen Kategorien und Prozessen erklärt. Der oft journalistisch gebrauchte Begriff "Psycho-Boom" deutet zum einen darauf hin, dass die Gesellschaft schnell von psychologischen Konzepten durchdrungen wurde und zum anderen, dass diese psychologischen Konzepte populär-kulturell hochgradig anknüpfungsfähig waren. Im wissenschaftlichen Diskurs hingegen, gibt es keine ähnliche Bezeichnung für diese Entwicklung. Der Begriff Psychologisierung wird bisher selten gebraucht. Es gibt keinen differenzierten Diskurs wie z.B. über Medikalisierung5. Nur vereinzelte Theoretiker haben sich mit Teilaspekten von Psychologisierung beschäftigt. Erst 2012 erschien ein Buch von Jan de Vos, das Psychologisierung explizit im Titel führt. De Vos versucht aus disziplinärer Sicht, Kritik an ausufernden psychologischen Diskursen zu üben, die dadurch indifferent werden (Vos, 2012).

Ich betrachte Psychologisierung im Folgenden als einen Teil von Expertendiskursen, die sich um die Erklärung von menschlichen Erfahrungen und den Umgang mit ihnen konstituieren. Sie kann analog zur Medikalisierung (Conrad, 2007) als Durchdringung des Sozialen durch psychologische Kategorien beschrieben werden. Sie besitzt Schnittmengen mit der Medikalisierung (vgl. Kleinman, 1995, S. 177) und der Therapeutisierung (vgl. Maasen et al., 2011). Unter Therapeutisierung verstehen die Autoren des genannten Sammelbandes eine Entwicklung, die sie folgendermaßen beschreiben: "Ob sie Familien, Bürger oder Gruppen adressieren, ob sie in der Klinik oder im Gefängnis stattfinden, ob es um Stress oder Sexualität geht, ob Psychoanalyse, Yoga oder Coaching gewählt werden - Therapie und Beratung dringen tief in die Selbst- und Fremdführungstrategien der Gegenwart ein, verflechten sich mit ihren kulturellen Praktiken und sozialen Institutionen. [...] Es geht um die Institutionalisierung einer 'Krisenbewältigungsanstrengung'" (Maasen et al., 2011, S. 9).

Mit Medikalisierung wird in erster Linie die Ausweitung des Medizinischen auf das Soziale thematisiert. Therapeutisierung hingegen steht für die Vermittlung von Techniken, die Menschen verinnerlichen, um gesellschaftlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Auf die regulierenden Elemente von Therapeutisierung komme ich im folgenden Abschnitt zurück. Medikalisierung hängt vor allem mit der Entwicklung von Sozialstaaten und dem Ausbau von Gesundheitssystemen zusammen. Medizinische Leistungen wurden der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Gleichzeitig verdienen Pharmaindustrie und Medizintechnik an dieser Entwicklung, finanzieren aber auch den ständigen Fortschritt mit. Psychologisierung und Therapeutisierung hingegen sind in erster Linie enge Begleiter der Individualisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts.6

Zu den Charakteristika dieser Individualisierungsprozesse gehört, dass seit den 1960er Jahren mit besonderer Geschwindigkeit 1.) traditionelle soziale Strukturen aufweichten, 2.) Arbeitslosigkeit zu einem strukturellen Problem wurde und 3.) Wertesysteme, die früher durch Religionen vermittelt wurden, in pluralen Gesellschaften ihre Allgemeingültigkeit verloren (Maasen, 2011, S. 11). Neue Wegweiser und Orientierungsmaßstäbe mussten gefunden werden; Experten wie Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten - und professionelle Berater generell - übernahmen die benötigte Anleitung. Sie profitierten von der Suche nach Orientierung und Expertenrat. Sie kanalisierten die Nachfrage durch ihre Angebote, in denen sie implizit kommunizierten: "Hier sind sie mit Ihrem Problem an der richtigen Adresse!" und gleichzeitig beschleunigten sie auch den Prozess des Ratsuchens mit dem Hinweis: "Warten Sie nicht zu lange!". Doch nicht nur ärztliche, psychologische und lebenserfahrene Berater füllen die entstehenden Orientierungslücken mit ihren Dienstleistungen. Ratgeber in Buchform, als TV-Sendung, telefonisch oder als Chat bilden mittlerweile ein eigenes und wachsendes Genre (Maasen, 2011, S. 7f.). Diese unterschiedlichen Formen der Lebenshilfe werden in einem gesellschaftlichen Umfeld nachgefragt, in dem Individuen mehr denn je in ihren Entscheidungen auf sich allein gestellt sind. Sie können sich häufig zwischen mehreren Alternativen in Bezug auf Beruf, Partner, Wohnort, Familie u.a. entscheiden - eine Freiheit, die es früher in Anbetracht von vererbten Berufen, Produktionsstätten und -mitteln, arrangierten Ehen und familiären Verpflichtungen nicht gab, oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Psychologisierung die Durchdringung des Sozialen von psychologischen Kategorien und Techniken ist und mit gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen in westlichen Gesellschaften zusammenhängt. Im Folgenden soll es um Konzepte gehen, die das Phänomen Psychologisierung theoretisch greifbarer machen.

Drei Konzepte zur theoretischen Beschreibung: Psy, memoro, Emotion

Wie erwähnt, ist der Begriff Psychologisierung neu und nicht abschließend definiert. Doch es gibt Ansätze, welche die von mir als Psychologisierung bezeichneten Entwicklungen thematisieren. Terminologisch ähnlich spricht Nikolas Rose von "Psy". Darunter fasst er die sich überlappenden Fachrichtungen der Psychoanalyse, Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie zusammen (Rose, 1998). Er weist darauf hin, dass die Psy-Disziplinen so ausgesprochen erfolgreich sein konnten, weil sie weniger durch ihr Wissen (knowledge) anknüpfungsfähig sind, sondern vielmehr durch ihre Techniken (know-how) (Rose, 1998, S. 43). Psy stellt Anwendungswissen zur Verfügung, damit Individuen ihr Selbst definieren, aktualisieren und verändern können. Psy-Techniken verzichten auf Zwang (Rose, 1990, S. 227) und doch sind sie, wie bereits bei der Therapeutisierung erwähnt, Regulierungstechniken. Sie sorgen dafür, dass sich Individuen konform zu Konventionen verhalten. Eine solche Konvention ist beispielsweise die Sorge für die eigene Leistungsfähigkeit durch den Abbau von psychischem Stress. Rose sieht Psy innerhalb von bestehenden Machtbeziehungen. Die Machtbeziehungen, auf die sich Rose bezieht, hat Michel Foucault beschrieben und sie zwei Polen zugeordnet: den Anatomopolitiken und den Biopolitiken (Foucault, 1981). Unter Anatomopolitiken, dem ersten Machtpol, versteht Foucault alle Diskurse und Maßnahmen, die sich auf die Disziplinierung von individuellen Körpern richten. Hierunter können sowohl Exerzierübungen des preußischen Militärs im 18. Jahrhundert gefasst werden als auch ein regelmäßiges Fitnesstraining zur Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit und zum Stressabbau im 21. Jahrhundert. Zum zweiten Machtpol, den Biopolitiken, gehören alle Disziplinierungen, die von einem Gattungskörper ausgehen, also von einem "Volk", einer "Nation" oder "Ethnie", aber auch "allen Versicherten". Sie materialisieren sich beispielsweise in Hygienemaßnahmen wie Impfungen der Bevölkerung oder Evakuierungen des Katastrophenschutzes. Beide Formen der Politiken interagieren häufig, wie etwa in Bonusprogrammen der Krankenkassen für Vorsorgeuntersuchungen. Für alle Versicherten soll eine Kostenersparnis erzielt werden durch das rechtzeitige Erkennen von Erkrankungen beim Einzelnen. Der individuell Versicherte muss seinen Körper eigenständig den Checks unterziehen, wozu das Bonusprogramm Anreize setzt. So wie in diesem Beispiel durchziehen die beiden Machtpole moderne Gesellschaften und beeinflussen das Verhalten von Individuen in unterschiedlichen Zusammenhängen.

Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking (1996) sieht in der Entwicklung und Verbreitung der Psy-Disziplinen keine neue Regulierungstechnik wie Rose, sondern einen weiteren Machtpol. In der Konsequenz befindet er sich im Gegensatz zu Nikolas Rose, erweitert aber das Denken von Michel Foucault. Als dritten Machtpol führt Hacking das Konzept der "memoro-politics" ein. Mit den "memoro-politics" stellt er den Zugriff der Psy-Wissenschaften auf die Individualität von Menschen in den Mittelpunkt. Seiner Auffassung nach ist das moderne Subjekt angehalten, sein Selbst zu formen und gesellschaftlichen Konventionen anzupassen. Unterstützt und ermöglicht wird die Ausformung von Individualität durch Psy-Wissen und Psy-Techniken. Es ist ein neuer Anspruch, der an moderne Individuen formuliert wird. Dieser Anspruch steht neuerdings neben der Verantwortung für den individuellen Körper und die Gemeinschaft.7 Darüber hinaus bestimmen "memoro-politics" das Denken von Individuen. Sie ermöglichen ein Gedanken- und Gefühlsmanagement. Deshalb haben auch "memoro-politics" ein regulierendes Element. Sie beeinflussen, wie sich Individuen selbst sehen und anderen gegenüber präsentieren. Hacking belegt seine These mit einer ausführlichen Studie über die Entstehung der Diagnose Multiple Persönlichkeitsstörung. Er argumentiert, dass mit der Diagnose Trancezustände in westlichen Gesellschaften neu gedeutet und als "krank" definiert wurden (Hacking, 2001).

Die Soziologin Eva Illouz (2011) nähert sich dem Psy-Feld von einer anderen Seite: Sie geht kultursoziologischen Grundbedingungen und Funktionsweisen eines neuen emotionalen Stils nach. Ihr Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich das Denken und Fühlen grundlegend verändert haben. Sie sieht diese Veränderung zum einen in einer umfassenden Selbstreferenz des Individuums, die sich in einer ständigen Beschäftigung mit dem Ich und seiner Interaktion mit anderen ausdrückt. In dieser Interaktion ist Empathie, also das Einfühlen- und Nachvollziehen-Können von anderen Denk- und Handlungsmustern besonders wichtig. Illouz sieht die Ursache für diese Veränderungen in psychotherapeutischen Erklärungsmustern und Handlungsempfehlungen. Sie definieren ihrer Ansicht nach "die Sprachen des Selbst" und sind zu einer "kulturellen Ressource" geworden, "zu einer Möglichkeit für Akteure, Handlungsstrategien zu ersinnen, die es ihnen erlauben, bestimmte Vorstellungen vom guten Leben zu verwirklichen" (Illouz, 2011, S. 40f.). Verbreitet werden diese Vorstellungen vom guten Leben und Möglichkeiten, es zu erreichen, über populäre Formate wie Talkshows und Fernsehserien, aber auch über Coachings und Ratgeber für Manager. Und hier schließt sich meiner Meinung nach der Kreis zum Psy von Nikolas Rose und den "memoro-politics" von Ian Hacking. Rose betonte, dass Psy hochgradig anknüpfungsfähig ist, weil die unter Psy zusammengefassten Disziplinen, Techniken zur Formung des Selbst zur Verfügung stellen. Und diese Neuformungen des Selbst werden von Individuen erwartet und gleichzeitig von den Individuen bereitwillig umgesetzt. Auf diese Weise funktionieren sie als dritter Machtpol, als "memoro-politics".

Doch egal, von welcher Seite man sich dem Phänomen Psychologisierung nähert, Fakt ist: Mit der Vielzahl gesellschaftlicher Veränderungen in den vergangenen 50 Jahren erschienen Psychologen als neue Experten auf der Bildfläche. Während noch in den 1920er Jahren Psychiater Geisteskrankheiten diagnostizierten und behandelten, lässt sich nach 1968 eine deutliche Verschiebung zu Psychologen erkennen. Gleichzeitig tauchten die neuen therapeutischen Ziele "Selbstbefreiung" und "Selbstverwirklichung" auf, die seitdem von Psychologen und nicht von Psychiatern begleitet werden (vgl. Maasen et al., 2011). In der Folge stießen Psychologen weiter in den gesellschaftlichen "Mainstream" vor als Psychiater. Mit steigenden Absolventenzahlen der Psychologie und der zunehmenden Orientierung auf therapeutische Arbeitsfelder (vgl. Tändler, 2011, S. 69f.) wurde die Gesprächstherapie zum Inbegriff psychologischen Wirkens. Dabei reichen die Betätigungsfelder von Psychologen von der Organisationspsychologie in Militär und Unternehmen über Verkaufspsychologie in der Werbung bis zur Hirnforschung. Besonders gebraucht werden sie aber als Gesprächspartner. Dieser Bedarf zeigt sich auch in meinem Beispiel der bosnischen Kriegsflüchtlinge. Ihnen wurden Gesprächstherapien empfohlen, weil dies nahe lag. Im folgenden Abschnitt beschäftige ich mich mit Gründen, die dazu führten, dass sich die Psychotherapie als Hilfsform geradezu aufdrängte.

Diagnostik traumatisierter Flüchtlinge: ein Symptom der Psychologisierung

Bosnische Flüchtlinge kamen seit 1992 nach Deutschland. Unter ihnen existierte sofort eine besondere Gruppe, die als "traumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien" bezeichnet wurde. Zu diesem Zeitpunkt war das Adjektiv "traumatisiert" noch recht unbekannt (vgl. Will, 2010, S. 45). Die ersten spezialisierten Behandlungszentren für Opfer politischer Gewalt, die Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre gegründet wurden, attestierten jedoch bereits Posttraumatische Belastungsstörungen. Diese Diagnose wurde 1980 das erste Mal im Amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) kodifiziert.8 In jeder der folgenden drei Ausgaben des DSM wurde der Text zur Posttraumatischen Belastungsstörung weiter modifiziert und erweitert. So verdreifachte er sich von etwas mehr als drei Textseiten zur Posttraumatischen Belastungsreaktion in akuter, chronischer oder verzögerter Form (Köhler & Saß, 1989, S. 248) auf zehn Seiten (Saß et al., 2003, S. 515ff.). Doch nicht nur die Definition wurde umfangreicher, auch die Anwendungsfelder der Diagnose wuchsen. Ian Hacking spricht von "semantischer Ansteckung" und beschreibt damit den inflationären Gebrauch eines Konzepts. Doch ein häufiger Gebrauch führt zur Verwässerung eines Konzepts und lässt es für Unterscheidungen unbrauchbar werden (Hacking, 1996, S. 331). Es wird zu einem Allgemeinplatz, der sich jeder konkreten Definition entzieht. Zusätzlich wird eine zweifelsfreie Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung durch diffuse Symptome erschwert, die vor der Aufnahme ins DSM in unterschiedlichen Syndromen beschrieben wurden. Die Syndrome wurden in der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung zusammengefasst. Zum Erbe dieser Zusammenfassung gehören die unterschiedlichen Ausprägungen, die eine Posttraumatische Belastungsstörung haben kann. Außerdem macht die Zugangsmöglichkeit zu Ressourcen die Diagnose attraktiv. Wenn Betroffene diese Diagnose erhalten, gelten sie nicht nur als psychisch krank, ihr Leiden wird auch anerkannt. Allan Young beschreibt in seinem Buch "Inventing Post-traumatic Stress Disorder" wie in den USA vor allem zwei Lobbygruppen eine Aufnahme der Störung in das DSM unterstützten. So konnten Opfer sexueller Gewalt mithilfe der Diagnose Entschädigungszahlungen gerichtlich durchsetzen und Vietnamveteranen Versorgungsleistungen von ihrem früheren Arbeitgeber, der US-Army, einfordern (Young, 1997).9 In einer ähnlichen Weise nutzte die Diagnose auch den interviewten bosnischen Flüchtlingen: Sie ermöglichte ihnen, in Deutschland zu bleiben.

Nachdem die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung ins DSM aufgenommen wurde, begannen unterschiedliche Autoren ihre Existenz zu untermauern. Ferner versuchten sie zu erklären, warum es so lange gedauert hatte, bis das Krankheitsbild anerkannt wurde. So wurden traumatische Erfahrungen in babylonischen Epen, griechischen Sagen und bei Shakespeare gefunden und deren Nicht-Behandlung mit Ignoranz und Zurückgebliebenheit begründet (vgl. Young, 1997, S. 5; van der Kolk, 1995). Am Ende konnte eine Anerkennung psychischen Leidens nach einer traumatischen Erfahrung als gesellschaftliche Errungenschaft betrachtet werden. Jedoch wird dabei häufig übersehen, dass diese Störung mit den gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne zusammenhängt. Ihre Vorläufer wurden bei Eisenbahnunfällen beobachtet und ohne die Massenmorde der Weltkriege wäre die traumatische Neurose wahrscheinlich immer noch eine Frauenkrankheit (Leys, 2000, S. 4; Fischer-Homberger, 2004, S. 28). Darüber hinaus gibt es auch eine sprachliche Verbindung: Seit der Entwicklung der Psychoanalyse wurde das menschliche Seelenleben mit dem technischen (Eisenbahn-)Vokabular von Druck, Ventil, Schub und (An-)Trieb erklärt (vgl. Illouz, 2011; Maasen, 2011). Und auch die Art der Behandlung einer traumatischen Neurose in den 1920er Jahren oder einer Posttraumatischen Belastungsstörung in den 2000er Jahren ist in gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet. In den 1920er Jahren waren es Ärzte, die eine medizinische Antwort auf eine mentale Erkrankung gaben und in den 2000er Jahren galten Psychologen und Psychotherapeuten als adäquate Heiler für diese Erkrankungen.

Doch Psy-Experten verhalten sich laut ihrer Angaben in den Interviews gegenüber Patienten mit schrecklichen Erfahrungen ambivalent. Zum einen fordern sie Anpassung, Bewältigung und Überwindung, weil sie davon überzeugt sind, dass die Betroffenen wieder in den Alltag zurückfinden sollten. Zum anderen begegnen sie (fast) allen Patienten mit Verständnis für ihre Symptome (Will, 2010, S. 165ff.). Mit diesem Verständnis müssten sie jedoch auch vor der Erkrankung kapitulieren, weil sie die Symptome als "normale Reaktionen auf (extrem) unnormale Ereignisse" (Maercker, 1997, S. 68) akzeptieren. Trotzdem führte die zweite Position nicht zur Beendigung einer Therapie und der Suche nach politischen, juristischen oder sozialen Lösungen durch die Befragten. Im Gegenteil, es wurde festgestellt, dass die Therapie zwar nicht heilt, aber sie mindere die Beschwerden (Birck, 2002). Das bedeutete auch, dass sie dauerhaft fortgesetzt werden konnte.

Für die interviewten Psy-Experten hätte ihr Rückzug aus der Flüchtlingsarbeit auch bedeutet, dass sie den Glauben der Politik an die Heilkraft und Notwendigkeit einer Psychotherapie nicht nutzen, um für die bosnischen Flüchtlinge ein Aufenthaltsrecht durchzusetzen. Doch solange Diagnose und Behandlung mit Zugängen zu Ressourcen für Opfer verbunden sind, werden Psy-Experten automatisch moralisch involviert. Auch wenn sie selbst ihre Expertise in Bezug auf Traumatisierte einschränkten, so war es aus ihrer Sicht für einen Rückzug zu spät. Sie spielten die Rolle der Experten weiter, weil sie ihren Patienten, den Flüchtlingen, helfen wollten (Will, 2010, S. 166f. und ähnlich in Rafailović, 2005, S. 197ff.; Birck, 2002; BAFF, 2006; Groninger, 2001 und 2006).

Auch Freud, der Vater der Psychoanalyse, war diesbezüglich zwiegespalten. Er änderte seine Meinung im Laufe des 1. Weltkrieges aufgrund seiner Erfahrungen in deutschen Lazaretten. War er vor dem Krieg noch ein Verfechter der Behandelbarkeit von traumatischen Neurosen, so vertrat er nach dem Krieg den Standpunkt, dass sich Menschen nicht an alle Umweltbedingungen anpassen können. Deshalb kann auch ein Psychoanalytiker nicht immer eine erfolgreiche Anpassung unterstützen (vgl. Freud, 2003, S. 371). Doch trotz der Einschränkungen, die Psy-Experten bezüglich ihrer Expertise machten, wurden die bosnischen Flüchtlinge in Psychotherapien überwiesen. Dies geschah in einem Augenblick, in dem sich Psychotherapeuten als Berufsstand erst etablierten. Das Psychotherapeutengesetz war noch nicht erlassen, es gab noch keine berufsständischen Kammern, die Berufsbezeichnung des Psychologischen Psychotherapeuten war noch nicht geschützt, die Ansprüche an eine Ausbildung von Psychotherapeuten waren noch nicht verbindlich definiert.

Im zurückliegenden Abschnitt habe ich argumentiert, dass die Entstehung des Konzepts und die Diagnostik einer Posttraumatischen Belastungsstörung von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig waren. Ferner stellten Psy-Experten, die mit Traumatisierten arbeiteten, eine heilende Wirkung ihres Angebots infrage (vgl. Will, 2010, S. 167). Im folgenden Abschnitt verdeutliche ich, dass die Diagnostik und Behandlung der bosnischen Kriegsflüchtlinge in erster Linie eine Reaktion auf die Lebensbedingungen der Flüchtlinge war. Folglich verdoppelt sich Psychologisierung als Erklärungsansatz: Sie tritt zum einen in der Entstehung der Diagnose zutage und zum anderen im Einsatz dieser Diagnose als Antwort auf gesellschaftliche Missstände.

Psychotherapie: Antwort auf unsichere Lebensbedingungen

Viele der befragten Flüchtlinge wurden von Allgemeinärzten zu Psychiatern und Neuropsychiatern überwiesen, weil sie über Schlafprobleme und Nervosität klagten. Diese Standardbeschwerden waren auch eine Folge der oftmals katastrophalen Unterbringungssituation in den Wohnheimen und der durch eine fehlende Arbeitserlaubnis verordneten Arbeits- und Tatenlosigkeit.10 Hinzu kam die Unsicherheit, was den weiteren Aufenthalt in Deutschland oder die Rückkehr nach Bosnien anging. Die Symptome können damit überwiegend dem Versagen der Berliner Flüchtlingsunterbringung und -versorgung zugeschrieben werden. Die Reaktion war aber eine medizinische, konkreter vorerst eine psychiatrische: Die Flüchtlinge erhielten eine Vielzahl von Schlafmitteln, Beruhigungsmitteln und manchmal auch Antidepressiva.11

Dass die ersten Ansprechpartner für die Flüchtlinge von Anfang an Beratungsstellen und Ärzte waren, ist bereits Ausdruck einer Professionalisierung in der Versorgung von Flüchtlingen. Psychologen betraten zu jener Zeit dieses Arbeitsfeld neu und erschlossen es sich durch die Gründung spezieller Behandlungszentren für Opfer politischer Gewalt, die auch von Flüchtlingen genutzt wurden (Will, 2010, S. 113ff.). Die Probleme politisch Verfolgter und von Flüchtlingen wurden im seelischen Bereich verortet und nicht im alltagspraktischen oder gar politischen.12 Doch es waren keine religiösen Anlaufstellen, die sich um das seelische Wohl der Flüchtlinge kümmerten.13 Die Beratungsstellen sprachen gezielt Psychologen und auch ärztliche Psychotherapeuten an, die sich anfangs ehrenamtlich engagierten, bald aber auch Wege der Kostenerstattung fanden (ebd.). In Verbindung mit aufenthaltsrechtlichen Regelungen, die Sonderbedingungen für traumatisierte Flüchtlinge vorsahen, entstand auf diese Weise eine große Nachfrage nach Psychotherapien.14 Zwar wusste die Verwaltung anfänglich nicht, was unter einer Traumatisierung zu verstehen sei und musste dafür eine Expertise beim Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer anfragen (Akte des Berliner Innensenats zitiert in Will, 2010, S. 182). Doch oder gerade aufgrund dieser Unerfahrenheit mit der Diagnose wurde Traumatisierten ein längerer Aufenthalt zugestanden und am Ende sogar ein Bleiberecht. Nachdem viele der interviewten Flüchtlinge Medikamente erhielten, schickten Beratungsstellen sie zunehmend in Gruppentherapien, weil das für den Aufenthalt nützlich sei. Und so erhielten Flüchtlinge, die Atteste von Ärzten oder Psychologen einreichten, eine länger gültige Duldung und später eine Aufenthaltsbefugnis (vgl. IMK-Beschluss zitiert in Will, 2010, S. 74f.). Die bosnischen Flüchtlinge wurden mit ihren Beschwerden, die aus ihren Erlebnissen in Bosnien und dem Exil in Berlin resultierten, an Psy-Experten verwiesen. Doch diese Psychologisierung sozialen Leidens funktionierte nicht ohne Probleme. Im nun folgenden Teil geht es mir um die Schwierigkeiten der Therapeuten, die in der Behandlung der traumatisierten Bosnier auftraten.

Widerstand "von unten": Therapie mit nicht-reflektierenden Subjekten

Die meisten Bosnier berichteten, dass sie von Freunden oder Verwandten mit in Therapiegruppen genommen wurden. Nur in Ausnahmefällen hatten sie eine Vorstellung von dem, was sie dort erwartete. Ferner betraten auch die von mir interviewten Therapeuten Neuland. Die Standardform der Therapie sind Einzeltherapien, doch abgesehen von besonders "schweren Fällen" nutzten nur wenige Bosnier diese Therapieform (Will, 2010, S. 73, 103). Es hätte auch nicht ausreichend Therapieplätze gegeben, wenn wirklich alle Flüchtlinge einen individuellen Therapieplatz beansprucht hätten.15 Darüber hinaus - und wichtiger - suchten viele Betroffene den Schutz und die Solidarität der Gruppe. Die Therapien wurden von den Flüchtlingen eher als Treffen mit anderen Betroffenen und Austauschplattform empfunden, denn als therapeutisches Arbeiten am Trauma. Die bosnischen Flüchtlinge, die sich in Therapie begaben, wollten nicht an ihrem Selbst arbeiten, sondern Ratschläge erhalten. Diese Ratschläge erhielten sie von Experten, nicht von anderen Mitbetroffenen. Es waren keine Selbsthilfegruppen, in denen eigene Erfahrungen ausgetauscht wurden, um darin Trost und Unterstützung zu finden. Im Gegenteil, die Erzählungen der anderen wurden als belastend erlebt (Will, 2010, S. 91f.). Der Aufarbeitung des Vergangenen entzogen sich die Flüchtlinge immer wieder. Das berichteten mir die Flüchtlinge nicht nur aus den Gruppentherapien, sondern auch aus den wenigen Einzeltherapien, die stattfanden. Das bestätigten auch die Therapeuten, mit denen ich für meine Promotion sprach (Will 2010, S. 160f.). Und so verschwand auch für die Patienten der Behandlungscharakter: "Wenn wir schön erzählen und uns Z. [die Therapeutin; Anm. A.W.] gute Ratschläge gibt, wie wir uns verhalten sollen, wie wir, wie wir leben sollen, dass wir so viel wie möglich, diese Probleme und so von uns abwerfen sollen. Dass wir auf uns selbst mehr Acht geben und wirklich, ich habe vergessen, dass das Psychotherapien sind [lacht]."16

Eine Psychotherapie mit den bosnischen Flüchtlingen war für die Therapeuten nicht einfach. Neben den sprachlichen Verständigungsproblemen berichteten die Therapeuten davon, dass die Flüchtlinge keine Patienten waren, die an ihrem Verhalten und Erlebten arbeiten wollten. Das Reden über das Trauma, das - zumindest in der Theorie - die Bearbeitung gewährleisten sollte, sei von den Flüchtlingen als belastend empfunden und deshalb von ihnen vermieden worden. Sie seien als nicht-reflektierende Subjekte in die Therapien gekommen, als Opfer, die Zuspruch und Unterstützung suchten. Die Therapeuten hätten somit keine Patienten vor sich gehabt, die aus eigenem Antrieb und mit dem Vorsatz, an sich zu arbeiten, die Therapien besucht hätten. Die Flüchtlinge kamen, um sich zu treffen, Informationen auszutauschen und nicht zuletzt auch, um ein Attest zu erhalten, mit dem sie ihren Aufenthalt verlängern konnten. Darüber hinaus gab es in den Therapiestunden neben der traumatischen Vergangenheit viele unmittelbare Probleme, die thematisiert werden konnten und wurden. Dazu gehörten zum Beispiel die Bedrohung durch Abschiebungen, Entscheidungen über Weiterwanderung oder Rückkehr, die Suche nach vermissten Familienangehörigen, Pläne für eine unsichere Zukunft mit sehr eingeschränkten rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten. Im betrachteten Beispiel lassen sich Therapeutisierung und Psychologisierung gleichzeitig finden. Die Beschwerden der Flüchtlinge wurden psychologisch gedeutet und deshalb erhielten sie die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung. An diesem Punkt hätte die Psychologisierung aufhören können und hätte nur eine Klassifizierung umfasst. Doch sie ging weiter und gleichzeitig über in eine Therapeutisierung, denn die Flüchtlinge konnten nur ihren Aufenthalt verlängern, wenn sie die Diagnose erhielten und in Psychotherapie gingen. Auf diese Weise wurde eine große Nachfrage nach Therapien erzeugt. In den dann realisierten Gruppentherapien ging es um das Erzählen von Leidenserfahrungen, die von den Flüchtlingen im Krieg aber auch im darauf folgenden Exil gemacht wurden, und das Erteilen von psychologischen (Verhaltens-)Ratschlägen. Der formulierte Anspruch eines systematischen Durcharbeitens von traumatischen Situationen und das Einüben neuer Verhaltensmuster konnten in den Therapiegruppen nicht umgesetzt werden.17

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die psychologischen Standardantworten bei den Flüchtlingen nicht wirkten. Trotzdem fanden aber jahrelang Therapien statt und sie hinterließen ihre Spuren bei den Flüchtlingen. Diesen Spuren widme ich mich im nächsten Abschnitt.

Therapieerfolg: Übernahme von Psy-Vokabular

Was machten also die Therapien mit den Teilnehmenden? Die Antwort scheint unspektakulär: Mit der Zeit nahmen die Therapieteilnehmer die Rolle "traumatisierter Flüchtling" mehr oder minder stark an und integrierten sie in ihr Selbstbild. Ian Hacking spricht von einem Rückkopplungseffekt: Menschen neigen dazu, sich mit Kategorien zu identifizieren, in die sie eingeordnet werden (Hacking, 1986, S. 223). Auch unter den Flüchtlingen überwog bald die Zahl derjenigen, die sich selbst in psychologischen Kategorien beschrieben und sich schlechte Zukunftschancen und ewige Krankheit attestierten, so wie es ihre Therapeuten in ihren Stellungnahmen für die Ausländerbehörde taten.18


Frau Bašić: Ich denke, dass uns keiner heilen kann, dass wir nicht, dass wir so ganz [gesund, A. W.] werden. Wer auch immer etwas überlebt hat und na es muss nicht sein, dass er im Krieg war, aber jemand ist verschwunden, sein Bruder ist verschwunden, Vater oder was weiß ich, Kinder und alles. Davon kann uns keiner heilen, solange wir leben.
Und später im Gespräch: So hat die Frau am Ende, diese Ärztin, die da war, sie sagte: "So, ich gebe dir diese Bestätigung." Sie bestätigt mir, dass ich traumatisiert bin. So wie es ist.
Herr Imamović: Natürlich kann ich nicht mehr gesund sein, wie ich gesund war. [...] Sagen wir ’92 als der Krieg anfing, dass ich sage, das ist jetzt genauso. Es kann nicht das Gleiche sein. Einmal nicht physisch, denn der Organismus ist älter, aber psychisch brauch ich gar nichts zu sagen. All das, was man überlebt hat, es gibt keinen, glaube ich, der sagt, das ist das Gleiche. Denn diese Psyche, die den Menschen von Innen tötet, das kann nur jemand wissen, dem das passiert ist.19


Meiner Meinung nach, wird in beiden Zitaten deutlich, dass sich die Betroffenen mit den Psy-Kategorien identifizierten, auch wenn sie Begrifflichkeiten - wie Herr Imamović "Psyche" - falsch verwendeten. Dennoch: "Traumatisiert" und "Psyche" gehörten zum neuen Vokabular ebenso wie die Meinung "wir werden nicht mehr gesund". Ferner bestimmten die neuen Kategorien nicht nur die Selbstbeschreibung, sondern auch das Selbst-Verständnis. Hacking hatte mit seinem neuen dritten Machtpol, den "memoro-politics" behauptet, dass sie das Denken bestimmen. Hier gibt es ein Beispiel dafür. Die eigenen Gefühle und Beobachtungen des Selbst erfolgten mit Psy-Vokabular. Darüber hinaus kann der Fakt der Selbstbeobachtung an sich als Ergebnis von Psychologisierungsprozessen angesehen werden (vgl. Illouz, 2011). Von modernen Individuen wird erwartet, dass sie ihr eigenes Fühlen und Verhalten reflektieren. Und sie tun dies bereitwillig, weil sie die Erwartungen nicht als Zwang empfinden. Vielmehr sehen sie darin ihre individuelle Art, nach Glück und Anerkennung zu streben.

Im Jahr 2006 erhielten alle Bosnier in Berlin, die jemals eine Traumatisierung geltend machten, ein Aufenthaltsrecht. Ab diesem Zeitpunkt war der weitere Aufenthalt nicht mehr vom Besuch einer Psychotherapie abhängig. Trotzdem besuchten einige der Flüchtlinge weiterhin Gruppentherapien. Sie gingen weiter in die Gruppen um des Austausches willen und gegen die soziale Isolierung. Die Psy-Experten gerieten in eine Unterstützerrolle, der sie nicht gerecht werden konnten. Sie konnten den Flüchtlingen nicht den Alltag ersetzen, den sie brauchten, um Zukunftsziele zu haben und sich wertvoll zu fühlen.20

Dieses Problem kann möglicherweise verallgemeinert werden. Im ersten Abschnitt schilderte ich die sich ändernden Rahmenbedingungen, die zum Erfolg der Psy-Disziplinen führten. Zu den Veränderungen gehörten strukturelle Arbeitslosigkeit und aufweichende gesellschaftliche Bezugssysteme. Beides erlebten auch die bosnischen Flüchtlinge. Während sie am Anfang durch ein Arbeitsverbot von einer Beschäftigung abgehalten wurden, schafften nur Einzelne nach zehn Jahren Arbeitslosigkeit den Einstieg in den Berliner Arbeitsmarkt. Sie waren Langzeitarbeitslose. Für viele kam die Entwurzelung hinzu. Sie mussten nicht nur ihre Heimatorte verlassen, auch viele Familienmitglieder lebten nach dem Krieg über die Welt verstreut. Darüber hinaus mussten sie mit der anonymen Einsamkeit der Großstadt umgehen. Auch diese zivilisatorischen Leiden sollen Psy-Experten lindern. Doch das Versprechen professioneller Hilfe können sie auch bei anderen Hilfesuchenden, wie Langzeitarbeitslosen oder Depressiven, nur selten einlösen: Psy-Experten können keine Arbeitsplätze schaffen oder Orientierung geben. Sie können nur versuchen, ihren Klienten neue Perspektiven auf die jeweilige Situation zu eröffnen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Therapien aus Sicht der befragten Therapeuten untypisch verliefen und dass dies vor allem der Einfachheit der Patienten zugeschrieben wurde. Die bosnischen Flüchtlinge lernten vor allem ihre Beschwerden neu zu erklären. Verhaltenstechniken lernten sie meiner Auffassung nach aber nicht. Im folgenden letzten Abschnitt soll die gerade aufgeworfene Frage der Effektivität des Psy-Angebots aufgegriffen werden.

Die Funktionsweise von Psychologisierung: individuell und politisch

Das folgende Zitat von Eva Illouz verdeutlicht die Funktionsweise des psychologischen Diskurses, bzw. von "Psy-Know-how" (Rose, 1998, S. 43) und ist deshalb wichtig für meine Schlussfolgerung:


Zwar stimme ich Eva Moskowitz und Frank Furedi zu, dass politische Probleme zu individuellen psychischen Defekten umdeklariert wurden, doch kann ich mich ihrer Schlussfolgerung, dass auf diese Weise politische Probleme privatisiert oder von der Politik abgekoppelt wurden, nicht anschließen. Ganz im Gegenteil: Nachdem sie einmal psychologisiert waren, wurden gesellschaftliche Probleme wieder in die Öffentlichkeit eingespeist, um neue größere Ansprüche an das Gemeinwesen zu stellen (wenn auch nicht in Form organisierter ideologischer Thesen). Dies stellt zweifellos eine der auffälligsten Transformationen der Öffentlichkeit in den 1990er Jahren dar, einen Wandel, der sich dem Umstand verdankt, dass so viele verschiedene gesellschaftliche Akteure ein Interesse daran hatten, eine Erzählung durchzusetzen, die von Krankheit und Opferrollen handelt. (Illouz, 2011, S. 285f.)


Politische oder gesellschaftliche Probleme werden individualisiert und nach dieser Umwandlung wieder in den öffentlichen Diskurs eingespeist und als Krankheit politisiert. Die Erkrankten benötigen professionelle Unterstützung, deren Kosten vom Gemeinwesen aufzubringen sind. Im konkreten Beispiel der bosnischen Flüchtlinge hieß dies auch: Flüchtlinge unterstützt die deutsche Gesellschaft nur vorübergehend. Doch der besonders gefährdeten (Teil-)Gruppe der Traumatisierten hilft der deutsche Staat dauerhaft. Die Sonderbehandlung einer Gruppe mit einer speziellen Erkrankung eignete sich als politische Forderung, die Aufnahme und Hilfe für alle Flüchtlinge hingegen nicht. Im Umkehrschluss bedeutete es auch, dass Kriegsüberlebende, die ihr Leben ohne Psy-Unterstützung bestritten, keiner weiteren gesellschaftlichen (Für-)Sorge bedurften. Nur Überlebende, die Psy-Hilfe brauchten oder annahmen, sollten auch weiterhin unterstützt werden. Auf diese Weise konnte die restriktive deutsche Politik den bosnischen Flüchtlingen gegenüber, die sie sehr früh zu einer Rückkehr in ein zerstörtes Land zwang, human erscheinen. Denn die wirklich Hilfsbedürftigen durften bleiben. Für diese humanitäre Ausnahmeregelung hatten sich Psy-Experten und Politiker etwa zehn Jahre lang eingesetzt. Seit der Änderung des Grundgesetzes 1993, die das bis dahin umfassende deutsche Asylrecht einschränkte, nahm die Bedeutung von Krankheiten bei der Entscheidung über Aufenthaltsanträge von Flüchtlingen und Asylbewerbern zu. Viele Asylbewerber und Flüchtlinge konnten nur mit einer attestierten Krankheit ein Aufenthaltsrecht erhalten. Gleichzeitig weitete sich dadurch das Betätigungsgebiet von Psy-Experten aus. Sie führten Begutachtungen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren durch und boten Psychotherapien für Flüchtlinge und Asylbewerber an.

Illouz erwähnt eine "Vielzahl von Akteuren, die ein Interesse hatten", Opferrollen und Krankheit durchsetzen. Im Fall der bosnischen Flüchtlinge waren Politiker und Psy-Experten gleichermaßen daran interessiert, Traumatisierten ein humanitäres Aufenthaltsrecht zu gewähren. Beide Gruppen waren davon überzeugt, dass professionelle Psy-Hilfe notwendig war. Trotz der Politisierung des Themas erfolgte zeitgleich eine Individualisierung des Leids. Die betroffenen Bosnier sahen sich selbst als "für immer verändert" und wurden durch den Verweis an Psy-Spezialisten darin bestärkt, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leiden. Gleichzeitig wurde die Problemlösungskompetenz nicht bei den Flüchtlingen gesehen, sondern an Experten delegiert.

Und auch der Durchschnittsbürger musste sich nicht mit erschütternden Kriegsschicksalen auseinandersetzen, denn dafür gab es Spezialisten. Die bösen Geister der Kriege wurden in der Psychobox eingeschlossen und trotzdem waren "Traumatisierte" im humanitären Hilfsdiskurs permanent präsent. Diese Gleichzeitigkeit von Aus- und Einschluss, von Individualisierung und Politisierung macht Psychologisierung aus und trägt zu ihrem Erfolg bei.

Literatur

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Endnoten

  1. Ich danke der anonymen Gutachterin oder dem anonymen Gutachter für die hilfreichen Anmerkungen, die ich sehr gern aufgenommen habe und die die Argumentationslinie des Textes schärften, und Prof. Christine Daiminger für ihr Feedback und ihre Geduld.
  2. Von 2002 bis 2009 führte ich für zwei europäische Forschungsprojekte über 400 Interviews mit Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien (http://www.psychiatrische-versorgungsforschung-tu-dresden.de/cms/projekte/abgeschlossene-projekte/treatment-seeking-and-treatment-outcomes-in-people-suffering-from-posttraumatic-stress-following-war-and-migration-in-the-balkans-stop/ und http://www.psychiatrische-versorgungsforschung-tu-dresden.de/cms/projekte/abgeschlossene-projekte/components-organisation-costs-and-outcomes-of-health-care-and-community-based-interventions-for-people-with-posttraumatic-stress-following-war-and-migration-in-the-balkans-connect/). Unter ihnen wählte ich 16 Gesprächspartner aus, die ich für meine Dissertation befragte (vgl. Will, 2010, S. 8).
  3. Ich gebrauche für eine bessere Lesbarkeit das generische Maskulinum. Die meisten Experten im Feld der Flüchtlingsunterstützer waren weiblich.
  4. Das Psychotherapeutengesetz regelt die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
  5. In den 1970er Jahren beschäftigten sich Irving Kenneth Zola (1972), Ivan Illich (1975) und Peter Conrad (1975)) mit der Ausweitung medizinischer Konzepte und prägten den Begriff Medikalisierung. Sie beschrieben Medikalisierung aus einer machtkritischen Perspektive als eine Institution sozialer Kontrolle. Peter Conrad ergänzte Jahrzehnte später das Konzept um soziale Akteure und beschäftigte sich auch mit De-Medikalisierungsdiskursen. De-Medikalisierung lässt sich im Fall von Homosexualität beobachten, die 1980 als Geisteskrankheit aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders gestrichen wurde (Conrad, 1992; Conrad, 2007).
  6. Nichtsdestotrotz folgen sie in ihrer Verbreitung ähnlichen Mustern wie die Medikalisierung. Das zeigt sich auch in der zu Beginn dieses Abschnitts erwähnten Aufnahme von Psychotherapien in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 1967.
  7. Bis zu diesem Punkt stimmen Nikolas Rose und Ian Hacking in ihren Argumenten überein. In den folgenden Gedanken aber nicht mehr.
  8. Im Jahr 1990 wurde diese Diagnose auch in die international verbindliche International Classification of Diseases (ICD-10) unter der Nummer F43.1 aufgenommen.
  9. Forderungen nach Wiedergutmachung konnten also mithilfe einer psychischen Störung gestellt und durchgesetzt werden. Diese Tatsache belegt ebenfalls die Durchdringung des Sozialen von psychologischen Kategorien.
  10. In meinen Gesprächen mit bosnischen Flüchtlingen war die Verbitterung über die schlechten Lebensbedingungen ein vordergründiges Thema. Die Enttäuschung über den repressiven Alltag war viel präsenter als Kriegserlebnisse oder Kriegsfolgen. Aus diesem Grund widmete ich mehrere Seiten meiner Dissertation der Beschreibung des bosnischen Flüchtlingsalltags in Berlin (Will, 2010, S. 51-76).
  11. Im Rahmen der in Fußnote 2 erwähnten europäischen Forschungsprojekte, in denen ich tätig war, wurde erhoben, welche Medikamente in den letzten drei Monaten eingenommen wurden. Schlaf- und Beruhigungsmittel wurden von der Mehrzahl der Befragten regelmäßig genommen.
  12. So hätte die Frage "Wer bin ich (nun)?" nach dem Zerfall des gesamtjugoslawischen Staates durchaus identitätspolitisch und nicht individualisierend persönlichkeitsbezogen gestellt werden können. Im Vordergrund der Bewältigung stand jedoch ein individuelles Abfinden und Fertigwerden mit der Situation und kein politisches Infragestellen der neuen Staatsgrenzen und ethno-nationalen Identitäten.
  13. Die Gemeinschaft der bosnischen Muslime formierte sich in Berlin erst, die serbisch-orthodoxe und die kroatische katholische Gemeinde waren nicht nur Horte der Fürsprache, sondern in erster Linie den nationalistischen Staatsneuformierungen verschrieben. Nach seiner Gründung bot das Islamische Kulturzentrum der Bosnjaken auch psychologische Beratung und eine Psychotherapiegruppe für Frauen an (Will, 2010, S. 120f.). Somit nutzten auch religiöse Institutionen Psy-Expertise, obwohl sie eigene Antworten auf die Sinnfragen haben müssten, die sich durch das erfahrene Leid aufdrängten.
  14. Die Frauengruppe des Südost Europa Kultur e.V. besuchten von 1996-1999 insgesamt 380 Frauen (Südost Europa Kultur e.V., 2013, S. 35). Eine Aufenthaltsbefugnis aufgrund von Traumatisierung beantragten von April bis Juli 2011 847 Personen, die selbst in Behandlung waren. Davor hatten etwa 700 Bosnier eine Aufenthaltsbefugnis beantragt, hier sind jedoch auch Familienangehörige mitgezählt (Abgeordnetenhaus Berlin 06.08.2001).
  15. Gemäß der Auskunft des Berliner Innensenats hatten bis Juli 2011 etwa 1100 Bosnier eine Aufenthaltsbefugnis wegen Traumatisierung beantragt (vgl. Fußnote 14). Ende 2002 erstellten die Berliner Ärztekammer und die neu gegründete Psychotherapeutenkammer Listen mit Ärzten und Psychologen, die für die Begutachtungen qualifiziert waren (vgl. Will, 2010, S. 29, 188). Auf der Ärzteliste waren 33 Ärzte aufgeführt, 39 Spezialisten auf der Liste der Psychotherapeutenkammer. Rechnerisch ergeben sich daraus etwa 15 Bosnier pro Spezialisten in einer Einzeltherapie. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass nicht alle Ärzte eine Therapieausbildung hatten und nur sehr wenige der aufgeführten Experten Bosnisch sprachen und nicht auf Sprachmittler angewiesen waren.
  16. Das Zitat stammt von Frau Nuhanović und ist nachzulesen in Will (2010, S. 90) mit Verweis auf das Originalzitat im Anhang.
  17. In den Therapien ging es vor allem um die Stabilisierung der Patienten. Die Gruppen waren teilweise sehr groß und wiesen eine hohe Fluktuation auf (Südost Europa Kultur e.V., 2013; S. 35). Mir wurde von einer Therapeutin im Interview erzählt, dass sie oft Gedankenreisen mit ihren Klientinnen mache, um so Selbstberuhigungstechniken einzuüben (Will, 2010, S. 161). Von den befragten Flüchtlingsfrauen erwähnte jedoch keine diese erlernte Technik als ich nach dem Inhalt der Therapien fragte. Aus diesem Grund denke ich, dass die Vermittlung von Techniken bei den bosnischen Flüchtlingen bei Weitem nicht so erfolgreich war, wie die Weitergabe von Psy-Vokabular und Erklärungsmustern, die sich auch in den folgenden Zitaten von Frau Bašić und Herrn Imamović niederschlagen.
  18. Jenseits von Heilung und der Aneignung von Psy-Vokabular hätte mit der erfahrenen Zerstörung auch anders umgegangen werden können. Es hätte Diskurse des Wachsens, Reifens, der Trauer oder der Zeugenschaft geben können. Doch diese Themen waren nur für sehr wenige meiner bosnischen Gesprächspartner überhaupt präsent. Im Vordergrund stand die Hoffnung auf Heilung, darauf, dass die entstandenen Lücken geschlossen würden, auch wenn diese Hoffnung im gleichen Atemzug wieder als aussichtslos eingeschätzt wurde. Psychologische Erklärungsmuster ermöglichten jedoch die Gleichzeitigkeit und Versöhnung an sich widersprüchlicher Erwartungen und Gefühle.
  19. Die Zitate sind zu finden in Will (2010, S. 94, 99 und 102) mit Verweisen auf die Originalzitate am Ende des Dokuments.
  20. Ich würde diesen therapeutischen Misserfolg nicht der "Therapieferne" der bosnischen Flüchtlinge zuschreiben (Will, 2010, S. 160). Für mich liegt der Misserfolg an dem spezifischen Psy-Angebot, das die Probleme der Flüchtlinge nicht lösen oder lindern kann.

Autorin

Dr. Anne-Kathrin Will
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailankawill@bitte-keinen-spam-gmx.de

Dr. Anne-Kathrin Will studierte Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaft. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dresden, in der wissenschaftlichen Politikberatung und seit 2009 in der Geschäftsstelle des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Von 2006 bis 2009 promovierte sie berufsbegleitend über traumatisierte bosnische Bürgerkriegsflüchtlinge in Berlin.



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