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Kritische Anmerkungen zum Thema "interkulturell" im psychosozialen Kontext

Ilhami Atabay
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 19 (2014), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Der kritische Essay zum Interkulturellen Diskurs im pädagogischen Feld ist eine Zusammenstellung von zentralen Thesen des Autors von "Zwischen Islamismus und Patchwork - Identitätsentwicklung bei türkeistämmigen Kindern und Jugendlichen dritter und vierter Generation". Erschienen 2012 im Centaurus Verlag.

Schlüsselwörter: Interkulturelle Pädagogik, psychosozialer Kontext, Migration

Summary

Critical comments on the topic "intercultural" in the psychosocial context

The critical essay on intercultural discourse in the educational field is a compilation of the central theses of the author of "Between Islamism and Patchwork - Identity development in children and young people of Turkish origin in the third and fourth generation". Published in 2012 by Centaurus Verlag.

Key words: intercultural education, psychosocial context, migration



Innerhalb der sog. Interkulturellen Bewegung lassen sich verschiedene Strömungen erkennen: die Berufs-"Interkulturellen", die Lippenbekenntnis-"Interkulturelle", es gibt professionelle Interkulturelle und "Schöpfende und Paradigmen-erfindende Interkulturelle". Fast alle haben etwas gemeinsam: Sie bilden eine Minderheit in der Mehrheitsgesellschaft und sie fühlen sich in der Mehrheitsgesellschaft, aus der sie kommen, ohnmächtig. Diese Ohnmächtigen identifizieren sich mit noch Ohnmächtigeren in der Gesellschaft, um sich mit deren "Problemen" zu beschäftigen und sich dadurch wieder "mächtig" zu fühlen. Der vorliegende Artikel wird sich also mit der Frage beschäftigen, wie das Thema "ungleiche Machtverteilung in der Gesellschaft" ein "interkulturelles" Thema wurde. Daran anschließend wird eine Alternative zur interkulturellen, von der Idee der Toleranz geprägten Pädagogik entworfen.

Sonderpädagogik für MigrantInnen?

Viele "interkulturelle" Einrichtungen hatten früher andere Namen. Der Name "Ausländer" wurde ersetzt mit "interkulturell". Es entsteht so der Verdacht, dass eine Sonderpädagogik für Migranten unter dem Decknamen "interkulturell" etabliert wird. Der Versuch, aus diesem Ansatz einen Theorieanzug zu fertigen, ist fehlgeschlagen. Von jeder Theorie ein wenig auszuschneiden und zusammenzunähen, wird diesen Ansatz von seiner unterschwellig kulturalistisch-rassistischen Färbung nicht befreien. Hierzu schreibt Mecheril:


"Wo die als fremd Betrachteten auftauchen, bedarf es interkultureller Kompetenz, weil durch die Präsenz der als fremd Bezeichneten pädagogische Handlungsfähigkeit allem Anschein nach problematisiert wird und als nicht (in ausreichendem und angemessenem Maße) zur Verfügung stehend erscheint. Interkulturelle Kompetenz wird nachgefragt als eine Art Sonderkompetenz für Professionelle, die in einer Weise mit Differenz und Fremdheit beschäftigt sind, die ihr übliches Bewältigungs- und Gestaltungsvermögen übersteigt" (Mecheril, 2008, S. 16).


Somit werden viele Professionelle, die sich Kompetenzen durch ihr Studium und ihre Ausbildungen erworben haben, verunsichert. Sie fangen an, um in der Begegnung und Auseinandersetzung mit Migranten nicht als rassistisch angesehen zu werden, an ihren Kompetenzen und ihrem gesunden Menschenverstand zu zweifeln1. Migranten, die aus unterschiedlichen Gründen (berechtigt sowie unberechtigt) professionellen Fachkollegen, die in bestimmten Institutionen, Ämtern und Organisationen tätig sind, ablehnend begegnen, verunsichern diese. Ein Teil der Migranten begründet seine Ablehnung damit, dass er eine andere Kultur und Religion hat und deshalb von den "deutschen" Kollegen nicht verstanden wird. Was in vielen Fällen passieren würde, wenn man diese Migranten verstehen könnte, bleibt ein Geheimnis. Das Verstehen und das Nichtverstehen wird somit zum Zentrum von "Macht" zwischen den professionellen Deutschen und den hilfesuchenden Migranten erklärt. In vieler Hinsicht werden Machtstrukturen nicht berührt, infrage gestellt und differenziert betrachtet. Während einerseits also die Herkunftskultur von Migranten als Verhängnis für deren "Integration" dargestellt wird, soll andererseits ihre Kultur in der interkulturellen Pädagogik eine besondere Beachtung bekommen. Gontovos beschreibt dies im Zusammenhang mit dem "interkulturellen Lernen":


"Dabei wird besonders viel Wert auf die Akzeptanz der »Kultur« der Migranten gelegt. Es wird aber weiterhin an der Unvereinbarkeit der »Kulturen« als Ursache ihrer Probleme festgehalten, wobei die Bedingungen, unter denen Migranten der »Kultur« des Aufnahmelandes begegnen, sowie ihre subjektiven Absichten hier in den Hintergrund treten" (Gontovos, 2000, S. 20).


Nun haben wir es hier mit Menschen/Migranten und deren nachfolgenden Generationen zu tun, die nicht als eine homogene Gruppe betrachtet werden können. Die dritte und vierte Generation können auch nicht als Migranten bezeichnet werden. Nicht sie, sondern ihre Großeltern, sind Migranten. Sie unterscheiden sich von ihren deutschen Gleichaltrigen nur durch bestimmte Merkmale wie dem Aussehen, dem Namen und vielleicht durch die Religionszugehörigkeit. Es ist hier nur die Frage berechtigt, welche Kultur von welchen Migranten nun Akzeptanz finden soll. Wenn wir bereits von der dritten und vierten Generation sprechen, rückt diese Frage umso mehr in den Vordergrund. Bei diesen Generationen geht es nicht um die Frage, welche kulturellen Elemente Anerkennung bekommen sollen, die Frage ist vielmehr, wie eine Gesellschaft es schaffen kann, trotz der vielen Differenzen und unterschiedlichen Herkunft möglichst viele Menschen ohne Benachteiligung im Hinblick auf Lebenschancen sowie auf Teilhabe- und Gestaltungsmöglichkeiten in diese Gesellschaft zu integrieren.

Wie stark diese Kulturalisierung von Identitäten das Leben der dritten und vierten Generation prägt, zeigt sich in deren Selbstdefinition. Auf die Frage: "Wie würdest du dich selbst definieren?" oder "Als was möchtest du gesehen werden?" haben viele dieser Jugendlichen in Interviews die Antwort gegeben, sie wollen als Personen, als Individuum wahrgenommen, akzeptiert und anerkannt und nicht als "Türke", "Moslem" oder "Kurde" definiert werden2.


"Die Hervorhebung der kulturellen Differenz hat weniger eine analytische Qualität, sie ist vielmehr eine formierende Definition. Die Spaltung der Gesellschaft in zwei Kollektive mit und ohne Migrationshintergrund leistet einen erheblichen Beitrag zur Beibehaltung von Gegensätzen, die dann häufig als »Parallelgesellschaft« beklagt werden - dabei wird den Migranten die Schuld für die Entwicklung zugeschrieben" (Hamburger, 2009, S. 190).


Acar, ein türkeistämmiger Künstler, äußerte sich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung (25.11.2010) bezüglich des Begriffes "Migrationshintergrund" so: "Das klingt einfach bescheuert. Wie Zylinderkopfdichtung. Man macht damit Menschen zu einem Apparat. Da habe ich es lieber, wenn man mich als Kanaken bezeichnet. Das ist wenigstens ehrlich". Gontovos sieht die Erklärung für diese abwertenden kulturellen Zuschreibungen in der Abwehr von Verunsicherungen, die diese Jugendlichen für die Mehrheitsgesellschaft bedeuten:


"Migranten stellen das selbstverständliche Weltbild der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft sowie das Ritual von Anpassungsprozessen infrage und formulieren neue Lebensansprüche. Diese Bereicherungsmöglichkeit wird aber sowohl in der Schule durch die Lehrer als auch in der Mehrheitsgesellschaft abgewehrt, damit das eigene Weltbild nicht infrage gestellt wird. Stattdessen machen die Migrantenkinder repressive Erfahrungen und werden in der Schule sowohl im Emigrationsland als auch im Herkunftsland als "Defizit-Schüler" behandelt, indem sie in beiden Fällen Förderunterricht bekommen" (Gontovos, 2000, S. 29).

Der Diskurs um "Interkultur" in Deutschland

Festzustellen ist, dass es sehr viele Definitionen und Vorstellungen über den Begriff "interkulturell" gibt. Das Gemeinsame bei allen Definitionsversuchen ist, dass verschiedene Kulturen unterschiedliche Standards haben, die es zu beachten gilt. Keine Kultur hätte das Recht, sich über eine andere Kultur zu stellen und zu behaupten, ihre kulturellen Standards seien die einzig richtigen. Das Problem wird in den unterschiedlichen kulturellen Standards gesehen, die zu Missverständnissen führen. Wenn man aber über diese Standards aufgeklärt ist und sich damit auseinandersetzt, würde man zu einem interkulturellen Verständnis gelangen. Würde man diese theoretischen Überlegungen ernst nehmen, dann müsste man die Frage stellen, warum nicht auch die Migranten "interkulturell" geschult werden. Sind sie etwa frei von Vorurteilen, Ablehnungen, Ausgrenzungen oder rassistischem Gedankengut? Mecheril beklagt dies und stellt fest:


"Unter der Vorgabe dieses Verständnisses »interkulturellen Handelns« ist es naheliegend, dass sich interkulturelle Bildungsangebote an Mehrheitsangehörige richten. Nahezu alle Konzepte interkultureller Kompetenz wenden sich nur ausschließlich an Mehrheitsangehörige. Sie scheinen auch keinen Anlass zu sehen, diese, der Egalitätshypothese, der sich Handlungsansätze kultureller Differenz in der Regel verpflichtet wissen, widersprechende Nicht-Berücksichtigung zu thematisieren. Migranten und Migrantinnen kommen als Adressaten für die Angebote der professionellen interkulturellen Kompetenz nicht vor. Dies kann nur mit zweierlei zusammenhängen. Die Vorstellung, dass aus den Objekten ausländerpädagogischer Fürsorge nunmehr professionell handelnde Subjekte geworden sein sollen, mag, dies ist die erste Möglichkeit, noch immer befremdlich sein" (Mecheril, 2008, S. 17).


Seit Jahren werden Fort- und Weiterbildungen durchgeführt, Mitarbeiter werden "interkulturell geschult", aber trotzdem haben wir in der Bildungssituation von Migrantenkindern und -jugendlichen Defizite. Sie schneiden in den Schulen schlecht ab, und zählen somit zu den Verlierern und den Ausgeschlossenen der Gesellschaft. Hierzu findet man in der Literatur Erklärungen, die den Versuch unternehmen, zu begründen, warum interkulturelle Verständigung notwendig ist oder bleiben wird. Viele dieser Autoren betrachten die interkulturelle Verständigung als notwendiger denn je, weil z. B. ein sozialer Wandel, die Globalisierung, die Migration und eine gesellschaftliche Vielfalt existieren. Diese Erklärungen sind in den Sozialwissenschaften spätestens seit Ulrich Becks Risikogesellschaft (2007) schon sehr gut durchgearbeitet.

Meines Erachtens wird die Dimension des Themas durch den Ansatz der Interkulturalität jedoch sehr stark auf kommunikative Missverständnisse reduziert. Gewiss gibt es viele Missverständnisse, wenn verschiedene Kulturen sich begegnen. Dies gilt auch für die Kulturen, die quasi als "homogen" gelten. In diesen Kulturen existieren auch die sogenannten Subkulturen, und auch diese können untereinander Missverständnisse aufweisen. Meine These lautet: Mit dem Ansatz "Interkulturalität" wird verhindert, dass das Thema alle angeht. Solange einige wenige sich mit dieser Problematik beschäftigen und diesen Bereich als ihr Revier betrachten, können viele andere sich stillschweigend nicht angesprochen fühlen. So werden Aspekte wie Rassismus, Macht, Ohnmacht und die Haltung der Dominanzkultur verschwiegen, in der Praxis der interkulturellen Arbeit werden die gesellschaftlichen Machtverhältnisse reproduziert.


"Die in pädagogischen Zusammenhängen zumeist von Gedanken der Gleichheit und der Anerkennung von Differenz inspirierte Thematisierung von Differenz [...] wird daraufhin betrachtet, wie durch die Auseinandersetzungen mit Differenz gesellschaftliche Verhältnisse von Über- und Unterordnung reproduziert und bestätigt werden… Die gesellschaftlich vorherrschende, institutionalisierte sowie kulturell und imaginativ verfügbare Figur jenes Verhältnisses von Mehrheit und Minderheiten, von Wir und Nicht-Wir, von Einander-Vertrauten und Fremden, von Nicht-Anderen und Anderen, in der die Nicht-Fremden Akteure sind, deren Handeln sich fürsorglich oder nicht fürsorglich auf die Fremden bezieht, wird hier wiederholt. Die Nicht-Berücksichtigung der naheliegenden Variable: (hier: professionelle) Handlungsfähigkeit der kulturell-ethnisch Anderen, diese Leer-Stelle, reproduziert das Verhältnis von Nicht-Fremden und Fremden, in dem die machtvolle Position der Nicht-Fremden mit beispielsweise dem Effekt verschleiert wird, dass in essentialisierten Verständnissen von Fremdheit als sozialer Beziehung gesprochen werden kann: Sie sind Fremd" (Mecheril, 2008, S. 17f).


In der Realität hat sich in unserer Gesellschaft, trotz des stetigen Wachsens des interkulturellen Diskurses im psychosozialen Feld, in der schulischen und beruflichen Situation von Migrantenkindern qualitativ nicht viel verändert. Aber auch in der psychosozialen Versorgung der Migranten hat sich nicht viel getan. Die Strukturen der Jugendämter und der allgemeinen Sozialdienste in Deutschland werden weiterhin der gesamten Situation der Unterschicht und der "Migranten" nicht gerecht. Immer noch wird die Frage diskutiert, ob man diese oder jene "ausländische" Familie denn nicht an einen Migrationsfachdienst vermitteln könnte. Warum behandeln die Sozialwissenschaften und die Psychosoziale Praxis das Thema Migration nicht durchgehend als ein gesellschaftliches Phänomen, sondern wie ein Stiefkind?

Die Kulturalisierung von Sozialen Problemen

Die "interkulturelle Kompetenz" stellt sich für die professionell tätigen Menschen als Allheilmittel dar. Mecheril schreibt:


"Die Ausblendung der Eigenschaften des Ortes, an dem das interkulturelle Handeln stattfindet, leistet einer versteckten Überhöhung und Aufblähung der Möglichkeiten interkulturellen Handelns und entsprechender Kompetenz Vorschub. Indem die für interkulturelles Handeln zum Teil restriktiven gesellschaftlichen, institutionellen und kulturellen Bedingungen im Rahmen von interkultureller Kompetenz nicht oder am Rande in den Blick kommen, entfaltet sich die technologische Suggestionskraft interkultureller Kompetenz: Lehrer, die ihr es mit Migrantenkindern zu tun habt, besucht Fortbildungen in interkulturellem Lernen, eignet euch jene kommunikativen und selbstbezogenen Fertigkeiten an, dann werdet ihr im Kontakt mit dieser fremden Klientel erfolgreich handlungsfähig werden!" (ebd., S. 24).


Dieses Verständnis und diese Herangehensweise reduziert den "Migranten" auf eine bestimmte Kultur, ohne dass kritisch hinterfragt wird, ob dieser Migrant sich zu dieser Kultur zugehörig fühlt, oder ob er sich durch seine Auseinandersetzungen zu einer anderen "kulturellen Person" entwickelt hat.

Die gängige Praxis ist auch, dass viele Institutionen Migranten, die wegen unterschiedlicher Anliegen bei ihnen landen, an andere spezialisierte Dienste oder Fachkollegen weiterverweisen. Viele Fachkollegen argumentieren damit, sie könnten mit diesen Menschen aus dem Grund nicht arbeiten, weil ihnen das kulturelle Hintergrundwissen fehle. Es wird kaum überprüft, ob diese Personen die Überweisung auch wollen. Denn sie hätten sich vielleicht, bei tatsächlichen Bedarf selbst einen Muttersprachler oder jemanden mit vermeintlich "gleichem kulturellen Hintergrund" ausgesucht. Es ist oft fraglich bis sehr problematisch, ob die Fachkollegen immer den Bedürfnissen ihrer überwiesenen Klienten gerecht werden. Nicht immer ist es sinnvoll, dass Menschen von Menschen beraten, betreut, therapiert und behandelt werden, die aus einem ähnlichen "Hintergrund" stammen. Die Reaktion der Fachkollegen mit "Migrationshintergrund" ist sehr unterschiedlich. Einerseits freut man sich, dass man "gebraucht wird und man eine Existenzberechtigung hat", andererseits gibt es Kollegen, die eine kritische Auseinandersetzung mit derartigen Begründungen führen. Aber auch die Reduzierung und Abwertung dieser Kollegen ist dadurch gegeben. "Du bist ein Migrant und arbeitest ruhig bitteschön mit Migranten, und wagst es ja nicht, andere fachliche Ansprüche zu stellen".

Die oben beschriebene professionelle Haltung löst sich von einer spezifischen individuellen Annäherung an die Subjekte und reduziert sich ausschließlich auf die kulturelle Differenz. Diese Ausschließlichkeit der Differenztheorie liefert vielen nationalistisch oder religiös-nationalistisch orientierten Menschen und Gruppen den Nährboden. Dabei werden viele Faktoren wie das Geschlecht, die Schicht, die Klasse und die damit verbundenen Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten, Machtstrukturen, Zugänge und die Belegung der öffentlichen Räume kaum thematisiert. "Der Blick auf Kultur kann von den strukturellen Bedingungen der Ungleichheit ablenken" (ebd., S. 22).

Nicht die Zugehörigkeit zu einer anderen Kultur ist oft entscheidend, sondern auch viele andere Aspekte, wie die Diskriminierung und Benachteiligung, können erheblich dazu beitragen, welche Position und Stellung Menschen in einer Gesellschaft bekommen.

Wissen ist Macht - oder: Die Kompetenzlosigkeitskompetenz

Mecheril geht auf ein Thema ein, was ich für sehr wichtig in der psychosozialen Arbeit halte, nämlich "Wissen und Nicht-Wissen". Mecheril kritisiert dabei die Herangehensweise und die Vorstellung der Interkulturalisten und wie sie mit dem Thema Wissen umgehen. Die interkulturell Handelnden haben meist die Vorstellung, je mehr ich über andere Menschen, Kulturen und Religionen weiß, desto besser werde ich mit den Differenzen zwischen mir und anderen umgehen.


"Das einschränkende, festlegende und auch gewaltförmige Charakteristikum von Wissen wird jedoch nirgends so deutlich, wie im wissensbegründeten Umgang mit »den Anderen«. Die Andersheit, die »wir« kennen, ist Resultat der Anwendung unserer interpretativen und sozialen Zugänge zur Wirklichkeit. Es gibt zwei Umgangsweisen, die als Reaktionen auf das Bekanntsein mit dem Anderen verstanden werden können: die Bewahrung der Andersheit der Anderen und die Auflösung der Andersheit der Anderen. Das Wissen um den und die Andere, so könnte hier typisiert formuliert werden, ist eine Praktik der Nicht-Erkennung des Anderen durch das Erkennen. Das wohl prominenteste Verfahren zum »interkulturellen Erkennen« der Anderen ist der Kulturalismus. Er kann als offenkundiges Indiz der Hilflosigkeit eines bloß wissensbegründeten Handelns verstanden werden, das die eindeutige Anwendbarkeit von Wissen voraussetzt und dem ein mögliches Nicht-Wissen zu einem bedrohenden und Unsicherheiten auslösenden Faktor werden muss. Durch für die pädagogische Praxis kennzeichnende Undurchschaubarkeit und Widersprüchlichkeit von thematisch werdenden Situationen und durch die Mehrdeutigkeit und Facettiertheit von Anliegen und möglichen Wegen der Bearbeitung sind dem Handlungsmodell der technischen Übersetzbarkeit von Wissen jedoch recht enge Grenzen gesetzt" (ebd., S. 28).


Mecheril fährt weiter fort und berichtet, so sehr man sich um die Übersetzung von abstraktem Wissen auch bemühen mag, wird ein Rest von Nicht-Wissen bestehen. Die Kunst ist es, mit dem restlichen Nicht-Wissen umzugehen, handlungsfähig zu bleiben. Genau dieses restliche Nicht-Wissen, das nicht überwindbar ist, würde die Unsicherheit des professionellen Handelns bezeichnen. Nach Mecheril kann eine Bezugnahme auf den Anderen erst dann möglich sein, wenn dieses Rest- bzw. Nicht-Wissen eine Anerkennung erfährt und wenn es nicht von vornherein in den Kategorien des Bezugnehmenden dargestellt wird. Die Erkenntnis, dass das Andere oft nicht zu verstehen und different ist, sollte zur Maxime erklärt werden, aber nicht der Anspruch, den Anderen zu verstehen. Das Verstehen hat in sich etwas zu vereinnahmen. Deshalb wird ein professionelles Vermögen notwendig sein, so Mecheril, um sich auf das eigene Nicht-Wissen zu beziehen.


"Die Erkennbarkeit des Anderen in seiner Unerkennbarkeit. Um aber diesen zweiwertigen Prozess der professionellen Auseinandersetzung zugänglich zu machen, bedarf es einer Verschränkung von Verstehen und Nicht-Verstehen, einer Verquickung von Wissen und Nicht-Wissen" (ebd., S. 29).


Das Nicht-Wissen ebnet den Weg zu dem Wissen, dass das Wissen auch Grenzen hat und seine Anwendbarkeit und seine Eingebundenheit eine Auskunft über Macht- und Ungleichverhältnisse gibt. Differenzen zwischen den Kulturen sollen dabei nicht negiert werden. Vielmehr soll das Augenmerk darauf gelenkt werden, dass ein Subjekt nicht nur auf seine "Herkunftskultur" reduziert werden soll, aber auch nicht gänzlich ohne seine "Herkunftskultur" betrachtet werden kann. Aus den hier ausgeführten Gründen halte ich den Zugang, den Paul Mecheril mit der Begrifflichkeit "Kompetenzlosigkeitskompetenz" beschreibt, für sehr wichtig in der Arbeit mit allen Menschen dieser Gesellschaft.


"»Kompetenzlosigkeitskompetenz« verweist auf die doppelte Erfordernis, die aus dem Umstand erwächst, dass keine »einfachen«, rezeptologisch erfassbaren, professionellen Handlungszusammenhänge vorhanden sind: Professionelles Handeln ist darauf angewiesen, in ein grundlegend reflexives Verhältnis zu dem eigenen professionellen Handeln, seinen Bedingungen und Konsequenzen treten zu können. Damit dies nicht schlicht zu einer Norm individuellen Handelns erklärt wird, heißt dies: Schaffung von Strukturen professionellen Handelns, in denen Reflexion nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll sowie attraktiv ist und systematisch unterstützt wird. Die Reflexion bezieht sich in einer besonderen Weise auf die Grenzen professionellen Handelns, seine Einflusslosigkeit und seine paradoxen und problematischen Neben- und Hauptfolgen" (ebd., S. 25).


Die Rede ist u. a. auch von einem bestimmten professionellen Habitus, den aber ein ausgeprägter Hang zu Reflexivität und Reflexion kennzeichnen soll. Deshalb: eine Professionalität für alle, eine Pädagogik für alle. Diese Idee der "einen Pädagogik für alle" ist m.E. eine Pädagogik, die nicht mit dem Konstrukt "Toleranz" arbeiten sollte.

Zum Gebrauch der Toleranz in der Dominanzkultur

Im Kontext der interkulturellen Pädagogik und Erziehung sowie der multikulturellen Gesellschaft wurde und wird weithin mit dem Begriff Toleranz operiert. Nach Goldberg müssen viele Bedingungen gegeben sein, um von Toleranz zu sprechen.


Es muss eine Auffassung oder ein Verhalten vorliegen, das nicht akzeptiert bzw. missbilligt wird.
Die Personen, die diese Auffassung und das Verhalten missbilligen, dürfen bei den Personen keinen Zwang ausüben, in der missbilligten Art und Weise zu handeln.
"Sich nicht in die missbilligten Verhaltensweisen einzumischen, muss zu mehr führen als zu resignieren" (Goldberg, 1998, S.12).


Goldberg geht davon aus, dass mit dieser Auffassung von Toleranz vier prinzipielle Überlegungen verbunden sind. Diese nennt er das Prinzip der Wahrheit. Darunter versteht Goldberg, dass die Toleranz implizit die Wahrheit beansprucht, sie repräsentiert und nur sie einzig den Zugang zur Wahrheit hat. Und somit wird die Einzigartigkeit und Objektivität der Wahrheit angenommen. Als einen weiteren Punkt führt Goldberg den Effekt der Herablassung an. Denn die Toleranz würde implizit gegenüber ihren Objekten ihre Herablassung zur Schau stellen, "mit der man sich abfinden muss". Sie muss die Tolerierten tolerieren, obwohl sie sie oder ihr Verhalten als unangenehm oder falsch empfindet. Das wird deutlich im abwertenden Beiklang des Ausspruchs: "Das ist tolerierbar" (ebd., S. 12).

Ein anderes Prinzip der Toleranz bezeichnet Goldberg als "das Wartespiel".


"Folglich warten die Toleranten darauf, dass die Tolerierten sie aufholen - was Wissen und Erkenntnis, Umgangsformen und Moral, Verständnis und Geduld, kurz: was die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und zum Handeln angeht" (ebd., S. 13).


Als letztes Prinzip wird "die Blindheit der Toleranz" beschrieben. Toleranz sei oberflächlich und blind, denn sie würde die Meinung des Tolerierten, ohne sie zu verstehen und sich auf sie einzulassen, akzeptieren.

Goldberg beschreibt die Macht zu tolerieren dadurch, dass Toleranz für die Assimilation der Tolerierten eintritt. Denn die Tolerierten müssen beweisen, dass sie es verdient haben, toleriert zu werden. Nach Goldberg würde Toleranz Vorurteile und Diskriminierung akzeptabel machen:


"»Wenn wir tolerant sind, wie können wir dann voreingenommen oder diskriminierend sein?« Wird man fragen. Vorurteile können mit Toleranz Hand in Hand gehen: Ich bin voreingenommen, aber ich bin trotzdem dazu fähig, dich, das Objekt meiner Vorurteile, zu tolerieren. Schau, wie großartig ich bin. Sie ermöglicht eine Politik der Distanziertheit, einen Blick aus der Ferne - ein sich um seinen eigenen Kram kümmern, kurz: eine Politik der Ignoranz. Sieht man darin ein Mittel der zivilen Ordnung oder das Beste, was sich eine liberale Gesellschaft angesichts von Vielfalt, Differenz und Heterogenität erhoffen kann, so beinhaltet dies, dass man Heterogenität nicht ernsthaft für etwas Positives hält. Man hält sie für eine bedauerliche Tatsache, die man »tolerieren« muss, und nicht für einen entscheidenden Vorzug für den Reichtum eines lebendigen, aufregenden, anregenden gesellschaftlichen Lebens […] Toleranz erhält also ihren Wert, ihre Macht, dadurch, dass sie immer Ausdruck einer relativen - persönlichen, gesellschaftlichen, politischen oder institutionellen - Macht ist. Toleranz ist eine Art Klassenmoral. Eine Möglichkeit, diese Dimension der Macht zu erkennen, besteht darin, den Unterschied zwischen Sprechakten »ich bin tolerant« und »ich werde toleriert« zu betrachten: Der erste ist aktiv, der zweite passiv; der erste setzt die Macht voraus, etwas anderes als tolerant zu sein, der zweite legt nahe, dass das Objekt der Toleranz festgelegt ist, wobei es nicht in der Hand der Tolerierten liegt, ihre Position selbst zu definieren" (ebd., S. 15-16).


Goldberg schlägt vor, statt mit dem Wort Toleranz mit anderen Inhalten bzw. Begrifflichkeiten zu arbeiten. Er schlägt Achtung, Respekt und für die Politik Anerkennung vor, mit denen man in der modernen Gesellschaft der Vielfalt begegnen soll. Keupp ergänzt diese Forderung durch den Aspekt der Gerechten Verteilung der materiellen Ressourcen in einer Gesellschaft.


"Kulturelle Diskriminierung hat in der kapitalistischen Gesellschaft zumeist eine handfeste ökonomische Grundlage und äußert sich dementsprechend. Die Besetzung von Stellen, das Einkommen, der Besitz - also im Wesentlichen materielle Ressourcen - differenzieren Gruppen in unserer Gesellschaft stärker als die von ihnen ausgeübten kulturellen Praktiken, die häufig als Vorwand für eine Ungleichbehandlung benutzt werden. Erst wenn es eine Gleichbehandlung auf der Ebene der ökonomischen »Hard«ware gibt, könnte man realistisch diskutieren, welche Differenzen darüber hinaus in der »Soft«ware vorhanden sind. Das setzt allerdings voraus, dass man die vielfältige Verflochtenheit von Machtmechanismen im Rahmen einer »Dominanzkultur« durchbricht" (Keupp et al. 1999, S.172f).

Endnoten

  1. Es ist z.B. unüblich, sich mit Migranten über ihre Rassismen auseinanderzusetzen. Die linken Bewegungen haben jahrzehntelang schweigend hingenommen, dass der "Nationalismus" und der "Rassismus" der Unterdrückten berechtigt seien.
  2. Meine Interviews mit den Jugendlichen lassen sich nachlesen in: Atabay, I. (2012). "Zwischen Islamismus und Patchwork" - Identitätsentwicklung bei türkeistämmigen Kindern und Jugendlichen dritter und vierter Generation. Freiburg: Centaurus Verlag.

Literatur

Beck, U. (2007). Risikogesellschaft: auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Goldberg, D. T. (1998). Die Macht der Toleranz. Das Argument - Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 40 (1/2), 11-27.

Gontovos, K. (2000). Psychologie der Migration. Über die Bewältigung von Migration in der Nationalgesellschaft. Hamburg: Argument.

Hamburger, F. (2009). Abschied von der interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel sozialpädagogischer Konzepte. Weinheim und München: Juventa.

Keupp, H. et al. (1999). Identitätskonstruktionen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Mecheril, P. (2008). "Kompetenzlosigkeitskompetenz". Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In G. Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität (S.15-34). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

Autor

Ilhami Atabay
email@bitte-keinen-spam-dr-atabay.de

Dr.phil, Diplom-Psychologe, Pädagoge MA, Supervisor, Verhaltenstherapeut in München, Lehraufträge und Fortbildungen zu Themen aus dem interkulturellen Spektrum



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