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Die Bedeutung des (Trans-)kulturellen in der psychotherapeutischen Beziehung

Elisabeth Zultner
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 19 (2014), Ausgabe 1]

Zusammenfassung

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich, nicht zuletzt seit den 1950er Jahren, zu einem Einwanderungsland entwickelt. Diese Tatsache hat zur Folge, dass auch der psychosoziale Bereich sich mehr und mehr auf PatientInnen mit Migrationshintergrund einstellen muss. Damit steht die Frage im Raum, wie diese PatientInnen erreicht und optimal versorgt werden können, insbesondere, welche Rolle der kulturelle Hintergrund für einen gelungenen Therapieverlauf spielt. Weiter gedacht: Braucht es eine transkulturelle Psychotherapie und wie gestaltet sich diese? Wo könnten in der transkulturellen Begegnung von PatientIn und TherapeutIn Fallstricke liegen? Auf der Basis von Interviews mit Fachkräften der Psychotherapie und Psychiatrie werden Untersuchungsergebnisse und weiterführende Analysen zu diesen Fragen dargestellt.

Schlüsselwörter: Migration, Kulturkonflikt, Identität, (Transkulturelle) Psychotherapie

Summary

The importance of (trans-)culture in the psychotherapeutic relationship

From the 1950s onwards, post-war Germany began receiving immigrants and evolved into what is today officially termed an 'immigration country'. As a consequence, psycho-social care in Germany increasingly had to respond to patients with a migration background. This drives certain questions: How best might these patients access therapy and how might the therapy itself need to adapt to and take into account their cultural background. Further theses may include: Do we need a trans-cultural manuscript for psychotherapy and if so, what should it look like? What problems might we anticipate in the interaction between a therapist and a patient from a migration background? The thesis is written based on interviews with psychotherapists and psychiatrists working in this field, and research results and further analysis are pointed out.

Key words: migration/immigration, cultural conflict, identity, (transcultural) psychotherapy

Einleitung

Vor gut zwei Jahren, am 30.10.2011, jährte sich das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei zum 50. Mal. Deutschland entwickelte sich innerhalb dieser 50 Jahre mehr und mehr zu einem Einwanderungsland1. Mit den meist aus der Türkei, Italien oder Griechenland angeworbenen, sogenannten Gastarbeitern kamen, im Rahmen des Familiennachzugs, auch ihre Familien nach Deutschland. Ihre Nachkommen leben heute bereits in der dritten und vierten Generation in diesem Land. Auch nach dem Anwerbestopp Ende der 1970er Jahre kamen weiterhin Angehörige der Gastarbeiter, aber auch viele Flüchtlinge, AsylbewerberInnen sowie in späteren Jahren Aussiedler und Spätaussiedler in die BRD. Die fast immer belastenden Umstände einer Migration, die oft widrigen Bedingungen im Aufnahmeland und die damit verbundenen psychosozialen Belastungen können bei den MigrantInnen und auch ihren Nachkommen tiefe Spuren hinterlassen und diese bis in die dritte und vierte Generation hinein betreffen und prägen. Durch die oftmals widrigen Ausgangsbedingungen in der Aufnahmegesellschaft besteht ein erschwerter Zugang zu Einrichtungen der psychosozialen Versorgung und zur Psychotherapie. Der vorliegende Artikel fußt auf der von der Autorin in den Jahren 2011/2012 verfassten Masterthesis, in der psychotherapeutische Fachkräfte zum Zusammenhang von Migration und Psychotherapie befragt wurden. Ziel der Untersuchung war es, Erkenntnisse aus der Fachliteratur auf die heutige Praxis psychotherapeutischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund2 anzuwenden und um die Erfahrungen und Einschätzungen der Fachkräfte zu ergänzen.

Inhalt der zugrundeliegenden Forschungsarbeit

Die beiden zentralen Forschungsfragen der Masterthesis zielten darauf ab zu klären, ob ein Zusammenhang zwischen psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen und ihrem Migrationshintergrund besteht und ob Zugangsbarrieren zu Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychotherapie bzw. der psychosozialen Beratung für Familien mit Migrationshintergrund vorhanden sind. Die Fachkräfte wurden nach ihrer Einschätzung bezüglich der Zugangsbedingungen zu den jeweiligen Einrichtungen sowie zur Lebenslage und der seelischen Verfassung der betreffenden Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ihren Familien befragt. Neben PsychotherapeutInnen in Ausbildung, die die Ausbildung zur Kinder- und JugendlichenpsychotherapeutIn mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP)3, absolvierten, wurden Fachkräfte des Berliner Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) interviewt. Dies geschah, um ein möglichst differenziertes Bild zu erhalten. So hat die BAP ein berlinweites Einzugsgebiet, ist jedoch, wie auch niedergelassene PsychotherapeutInnen, auf die Krankenversicherung der Familien angewiesen. Hingegen werden im KJPD als Einrichtung des Gesundheitsamtes alle Kinder und Jugendlichen eines Bezirkes psychosozial versorgt und beraten. Die Befragungen in den KJPDs fanden in zwei Bezirken mit einem hohen Anteil an MigrantInnen in der Bevölkerung statt. Erfragt wurde unter anderem, in welchem Ausmaß Familien mit Migrationshintergrund die Einrichtungen frequentieren und ob es Abweichungen oder Besonderheiten im Vergleich zu Kindern deutscher Herkunft in Bezug auf ihre Lebensverhältnisse, Familienzusammenhänge und Störungsbilder gibt, die auf den Migrationshintergrund zurückgeführt werden können.

Methodik der Untersuchung

Das Augenmerk der Untersuchung lag auf der Widerspiegelung der individuellen Wahrnehmung sowie der subjektiv empfundenen Realität der genannten ExpertInnen bezüglich des Zugangs von Kindern und Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund zu psychosozialer und psychotherapeutischer Versorgung. Dazu wurden zwei qualitative Erhebungsmethoden verknüpft: Einerseits wurden leitfadengestützte4 (Experten-) Interviews (vgl. Gläser/Laudel, 2004,S. 39) durchgeführt, andererseits eine Gruppendiskussion5. Die Interviews wurden zum einen mit einer Fachkraft der Sozialen Arbeit mit psychoanalytisch fundierter therapeutischer Zusatzausbildung und eigenem Migrationshintergrund, zum anderen mit einer Fachkraft der Kinder- und Jugendpsychiatrie geführt. Die Gruppendiskussion orientierte sich ebenfalls an einem groben Leitfaden6. Es beteiligten sich drei PsychotherapeutInnen in Ausbildung mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt.

Die Auswertung erfolgte anhand der qualitativen Inhaltsanalyse7. In Orientierung am Fokus der Forschung, bot sich eine Auswertung nach inhaltlich-thematischen Gesichtspunkten in interpretativ-reduktiver Form (vgl. Lamnek, 1998, S. 163, 180) und die zusammenfassende Inhaltsanalyse8 nach Mayring (vgl. Mayring, 2008, S. 54 f.) an, die sowohl für Experteninterviews als auch für Gruppendiskussionen geeignet ist (vgl. Lamnek, 1998, S. 166, 180, 182).

Fokus des vorliegenden Artikels

Die hier vorliegende Arbeit baut auf den Forschungsergebnissen der Masterarbeit auf, legt ihren Fokus jedoch auf die Therapiebeziehung zwischen PsychotherapeutInnen und PatientInnen jeden Alters im transkulturellen Kontext.

Die zentrale Aussage einer der Befragten lautete, dass eine gute PsychotherapeutIn von sich aus kulturell kompetent sein sollte (vgl. IP4, Z. 1163-1171)9. Dies ist ein nachvollziehbarer und doch hehrer Anspruch. Aber entspricht er auch der Realität?

Um dieser Frage nachzugehen, sollen zunächst die Begriffe des "transkulturellen Denkens", der "transkulturellen Adoleszenz" sowie der "transkulturellen Identität" erläutert werden. Daran anschließend werden bedeutsame Aspekte der (trans-)kulturellen Begegnung von PatientInnen und TherapeutInnen dargestellt. All dies geschieht unter Einbezug von Interviewzitaten aus der vorangegangenen Untersuchung.

1. Über transkulturelles Denken und transkulturelle Kompetenz

Der Kulturbegriff

Wenn Begrifflichkeiten wie "Transkulturelle Psychotherapie" oder "transkulturelle Kompetenz" verwendet werden, ist es hilfreich, vorab den Kulturbegriff näher einzugrenzen. Von Bedeutung ist hier der Unterschied zwischen dem dynamischen und dem statischen Kulturmodell. Das statische Modell begreift Kultur als ein in sich geschlossenes System, in der Art einer "Kugel"10, vorwiegend als die schon immer bestehende Eigenschaft eines Volkes und nicht als sozial, historisch und politisch gewachsen. Nach dem dynamischen Modell hingegen dient Kultur als Orientierungssystem und der sich ständig erneuernden Sinnbildung sozialer Gruppen in Bezug auf deren besondere Lebensweise. Dem folgend könnte mit Kultur auch die Zugehörigkeit zu einer Jugend- oder Subkultur, sozialen Gruppen oder Milieus, die politische Haltung, eine städtische oder ländliche Herkunft oder die religiöse Zugehörigkeit gemeint sein. So beschreibt Maja Nadig Kultur als "heute in Bewegung gedacht. Sie steht nicht über den Handlungen und dem Alltag der Menschen, sondern sie ist der Alltag und das, was die Menschen machen, wie sie leben, welchen Sinn und welche Bedeutung sie den Dingen verleihen" (Nadig, 2006, S. 68).

Interkulturalität vs. Transkulturalität

Ausgehend von der Kritik am statischen Kulturbegriff wurden im Fachdiskurs verschiedene Konzeptionen entwickelt. Häufig werden in der gängigen Fachliteratur die Termini "Interkulturalität" und "Transkulturalität" genutzt, wobei diese oftmals fälschlicherweise synonym verwendet werden.

Das Konzept der Interkulturalität erkennt zwar schon das Konfliktpotential an, das im Beharren auf einem einzigen kulturellen Hintergrund besteht und sucht daher den Dialog zwischen den Kulturen, hält aber teilweise am Kugelprinzip einer in sich geschlossenen Kultur fest. Daher löst sie nicht die Problematik eines Kulturverständnisses, das auf einer Spezifik beharrt und, wenn auch nicht vorsätzlich, alles Divergente ausschließt (vgl. Unterholzner, 2004, S. 8).

Im Gegensatz dazu kommt es beim Ansatz der Transkulturalität zu einer Verschmelzung der einzelnen Kulturen und damit der Abkehr von eindeutigen Wahrheiten und (mono-)kulturellen Zuschreibungen. Das Ergebnis ist eine Art "Hybridisierung", also eine aufeinander bezogene Weiterentwicklung der Individuen, was für alle ein Plus an Chancen mit sich bringt. Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem lösen sich auf (vgl. ebd.). Der Begriff der transkulturellen Begegnung impliziert, dass "sich beide Seiten, der Fremde und der Ansässige aufeinander einlassen, voneinander lernen und sich verändern" (Nadig, 2006, S. 69).

Im Bemühen, der geschilderten Komplexität gerecht zu werden, wurden in der neueren Literatur verschiedene Begrifflichkeiten entwickelt. Birsen Kahraman spricht von Kultursensibilität (vgl. Kahraman, 2011), Maria Gavranidou und Barbara Abdallah-Steinkopff von Kultursensitivität (vgl. Gavranidou & Abdallah-Steinkopff, 2007) und Ernestine Wohlfart von "transkulturellen Denkbewegungen", "transkulturellem Denken" und "transkultureller Kommunikation" (vgl. Wohlfart, 2007; S. 318). Jede dieser Begrifflichkeiten hat ohne Zweifel ihre Berechtigung. Doch im Hinblick auf die vorangegangenen Ausführungen und um einer undifferenzierten Gleichsetzung der Begriffe sowie einer Erschwerung der Lesbarkeit des Beitrages vorzubeugen, möchte ich mich in diesem Beitrag auf die von Ernestine Wohlfart angeführten Termini der Transkulturalität beziehen.

Stellt man sich nun zum Beispiel die Frage, was "deutsche Kultur" genau ausmacht oder welcher Kultur man sich selbst zugehörig fühlt, offenbart sich schnell die Komplexität des Kulturbegriffs, denn Kultur umfasst nach dem dynamischen Begriff weit mehr als die traditionellen, auf Volks- oder Kulturkreiszugehörigkeit bezogenen Prägungen. Dies wird deutlich, betrachtet man beispielsweise den Unterschied zwischen dem Erziehungsstil eines streng christlich und ländlich geprägten Elternhauses und der Erziehung durch eher liberale Eltern in einer Großstadt. Fremdheit und Anderssein spielen in jeder therapeutischen Begegnung, also nicht nur im Kontakt mit Menschen mit Migrationshintergrund, eine Rolle. Da Fremdheit ein normaler Faktor in der Therapie ist und unterschiedliche kulturelle Bezüge im therapeutischen Kontakt immer eine Rolle spielen (vgl. van Keuk & Ghaderi, 2011, S. 146f.), erweist sich das Denkmodell einer transkulturellen Kompetenz, welches im Folgenden vorgestellt wird, in der Begegnung mit PatientInnen jedweder Herkunft als gewinnbringend.

Transkulturelles Denken und transkulturelle Kompetenz

Transkulturelle Kompetenz, die Fähigkeit zum transkulturellen Denken, ist eine wichtige Voraussetzung für eine angemessene, erfolgreiche und alle Seiten zufriedenstellende Kommunikation und Begegnung zwischen Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen (vgl. Hax-Schoppenhorst und Jünger, 2010, S. 111f.). Eine therapeutische Haltung der "anteilnehmenden und wohlwollenden Neugier" (Gavranidou & Abdallah-Steinkopff, 2007, S. 356) ist die richtige Herangehensweise für ein transkulturelles Arbeiten. Dazu gehört meines Erachtens ausdrücklich, PatientInnen gerade nicht ausschließlich vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit zu sehen, sondern stets auch in ihrer Eigenständigkeit und Diversität als Individuum.

Folgendes Zitat von Eva van Keuk und Cinur Ghaderi verdeutlicht das "Transkulturelle" in der psychotherapeutischen Begegnung:


"Insofern meinen wir 'transkulturell' im eigentlichen Sinne des Wortes - ein Mensch begegnet mir im Rahmen der psychotherapeutischen Behandlung, der in Bezug auf seine Kultur eine herausfordernde Unterschiedlichkeit mitbringt" (van Keuk & Ghaderi, 2011, S. 147).


Transkulturelle Kompetenz umfasst also den reflektierten und sensiblen Umgang mit kultureller Vielfalt und Unterschiedlichkeit (vgl. Hegemann, 2009, S. 34) und ist dabei nicht automatisch Teil einer Persönlichkeit, sondern vielmehr eine innere Haltung, die einer dauerhaften Reflexion bedarf. Zum Begriff der transkulturellen Denkbewegung äußert sich Wohlfart folgendermaßen:


"Differenz irritiert und macht uns in der Auseinandersetzung selbst zu Fremden, sie zeigt uns den 'Anderen in uns'. Sie weckt damit aber auch unsere Neugier und unseren Wunsch, uns selbst und den 'Anderen' besser zu verstehen. Um 'cultural bias' (kulturelle Missverständnisse) in der Diagnosestellung und Behandlung zu vermeiden, wäre es notwendig, an einer transkulturellen Denkbewegung teilzunehmen, welche die Vielfalt von Vorstellungen und Lebenseinstellungen verschiedenster kultureller Kontexte nicht ausschließt, sondern reflektiert " (Wohlfart, 2007, S. 318).


Da das medizinische Versorgungssystem bis heute noch nicht ausreichend auf die stetig wachsende Zahl an PatientInnen mit Migrationshintergrund eingestellt ist, braucht es also TherapeutInnen, die nicht nur über Sprachkompetenz, sondern auch über die nötige Sensibilität und innere Flexibilität für andere kulturelle Gegebenheiten verfügen. Auch die Bereitschaft für den Umgang mit eigenen Fremdheitsgefühlen und Irritationen ist für eine transkulturelle Haltung elementar. So müssen TherapeutInnen, gleich welcher Herkunft, in der transkulturellen Therapiebeziehung zunächst den eigenen Kulturkontext reflektieren (vgl. Kahraman, 2008, S. 61), um einen bewussten Umgang mit ihren Vorstellungen, Werten und Vorurteilen zu erlernen. Kahraman beschreibt die "Reflexion kultureller Fremdwertungen und eigener kultureller Muster" (Kahraman, 2011, S. 15) neben der Klärung von Erwartungen, der kommunikativen Feinabstimmung sowie einer gelungenen emotionalen Passung als einen von vier wesentlichen Wirkfaktoren in der Therapiebeziehung mit PatientInnen mit Migrationshintergrund (vgl. ebd.). Auch TherapeutInnen mit Migrationshintergrund sind nicht per se frei von Vorurteilen und Ängsten und müssen sich transkulturelles Denken erst praktisch aneignen.

Der Erwerb von Hintergrundwissen über bestimmte kulturelle Hintergründe sowie den Umgang mit diesen kann zwar sinnvoll sein, jedoch besteht auch das Risiko einer Kulturalisierung und Stereotypisierung. Hier kann es sich als hilfreich erweisen, die PatientInnen als ExpertInnen ihrer Kultur anzusehen, um Wissensdefizite zu beheben und etwaige stereotype Vorannahmen überprüfen zu können (vgl. Kahraman, 2008, S. 61). So erworbenes Wissen über die jeweiligen Kulturen kann in Verbindung mit transkulturellem Denken Kränkungen und Abbrüchen von Hilfen und Psychotherapien vorbeugen, im Kontakt als Türöffner fungieren und den Beziehungsaufbau erleichtern.

Darüber hinaus sollte der kulturelle Hintergrund ausschließlich dann eine Rolle in der Psychotherapie spielen, wenn die PatientIn selbst ihn zum Thema machen will. Dies kann auch indirekt geschehen und bedarf dann einer sensiblen Wahrnehmung dieser Anzeichen. Auf diese Weise könnte einer ausgrenzenden Wirkung durch Kulturalisierung und Stigmatisierung entgegengewirkt werden.

2. Kulturelle Adoleszenz und transkulturelle Identität

Die kulturelle Adoleszenz

Der Begriff der "kulturellen Adoleszenz" nach Wielant Machleidt (vgl. Machleidt, 2005, S. 57) erscheint hilfreich, um die Anforderungen und Chancen der besonderen Situation von MigrantInnen zu erfassen. Er ist - angelehnt an die biologische Adoleszenz - als ein kultureller Reifungs- und Selbstfindungsprozess zu verstehen, der im Aufnahmeland durchlebt werden muss. Die grundlegende Annahme ist hier, dass das Individuum im Sinne einer (kulturellen) Adoleszenz den Brückenschlag zwischen der Kultur der Herkunftsfamilie und der Kultur der Aufnahmegesellschaft, mit den damit verbundenen Erwartungen und Anforderungen, bewältigen muss und dies ihm auch möglich ist. Dies fasst Machleidt folgendermaßen zusammen:


"Wer sich in andere Kulturen integrieren möchte, durchläuft gewissermaßen eine 'kulturelle Adoleszenz' und muss somit auch die Kernaufgaben der Adoleszenz, nämlich die Ablösung von den Elternsurrogaten, die Entwicklung einer neuen Identität und die Übernahme neuer sozialer Rollen in der Aufnahmekultur noch einmal bewältigen" (Machleidt, 2005, S. 57).


Dies kann Personen mit Migrationshintergrund aller Altersstufen betreffen. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist jedoch zu bedenken, dass eine Kopplung der altersspezifischen Entwicklungsanforderungen, der damit einhergehenden Identitätssuche und der zusätzlichen Bewältigung der transkulturellen Adoleszenz zu einer Überforderung führen kann, die eine gesunde Entwicklung (besonders in der Pubertät) erschweren kann.

Transkulturelle Adoleszenz kann, nach Geburt und Adoleszenz, als dritter großer Schritt hin zur Individuation verstanden werden. Dieser kann, so Machleidt, "wie alle Individuationsprozesse, nicht erzwungen, aber auf vielfältige Weise gefördert werden" (Machleidt, 2005, S. 57). Die Betroffenen jeden Alters können bei den Anforderungen von außen unterstützt werden, "ähnlich wie Jugendliche und Kinder in ihren Reifungsschritten von der Gruppe und den Bezugspersonen unterstützt und bestätigt werden" (Wohlfart et al., 2007, S. 123).

Die transkulturelle Identität

Identität ist zu verstehen als eine "Mittelstellung des Subjekts zwischen innerer und äußerer Welt" (Wohlfart et al., 2007, S. 122). Die Identitätsentwicklung umfasst dabei einen lebenslangen Prozess, in dem das Verhältnis zwischen Innen und Außen ins Gleichgewicht gebracht werden muss. Dieser Prozess findet so auch zwischen Individuum und Kollektiv statt, also zwischen dem Kern der Persönlichkeit und den Wert- und Normvorstellungen bzw. -anforderungen der jeweiligen Gesellschaft (vgl. ebd., S. 119f.). Identität gehört zu den Faktoren, die im Migrationsprozess dem größten Wandel unterworfen sind und offenbart dabei die größte Verletzlichkeit. Jeder Mensch vereint in sich verschiedene Identitäten, die sich lebenslang weiterentwickeln (vgl. Sennett, S. 2000). Die Identitätsfindung kann für junge, aber auch für ältere Menschen mit Migrationshintergrund erschwert werden, wenn die Loslösung von der Familie als eine Entscheidung gegen deren Herkunftskultur empfunden wird. So kann eine zu hohe Loyalität gegenüber der Familie die eigene Identitätsfindung blockieren und zu einer Identitätsdiffusion führen. Diese Loyalitätskonflikte bedürfen deshalb einer besonderen Beachtung (vgl. Lanfranchi, 2000, S. 50).

Hinzu können in der Familie noch sogenannte Kulturkonflikte kommen, welche sich verstärken, je "fremder" sich Herkunfts- und Aufnahmeland sind. Jedoch lässt sich keine generalisierbare Feststellung zu familiären Kulturkonflikten treffen, denn diese müssen nicht zwangsläufig auftreten. Eine der interviewten Personen brachte hinsichtlich des Problems der Kulturloyalität folgendes Beispiel aus ihrer Praxiserfahrung:


"Was mir bei diesem Jungen jetzt deutlich geworden ist, dieser Junge ist eigentlich deutsch. Er ist komplett in Deutschland sozialisiert worden und will aber beiden Eltern gegenüber loyal sein. Es geht nach keiner Richtung" (IP3, Z. 378-381).


Dieses Beispiel lässt den Zwiespalt erkennen, in den ein Loyalitätskonflikt Menschen mit Migrationshintergrund bringen kann. Der Zwang zu einer eindeutigen Zuordnung zu einer Identität wird aber nicht nur von den Familien mit Migrationshintergrund selbst, sondern oftmals auch von der Mehrheitsgesellschaft ausgeübt. So erwarten die einen, dass die MigrantInnen sich zu der Herkunftskultur bekennen, die anderen, dass sie sich als Deutsche verstehen. Gleichwohl werden viele der in Deutschland geborenen Nachkommen von Familien mit Migrationserfahrung nicht als "Deutsche" anerkannt, wie die aktuelle Debatte um den umstrittenen Begriff der 3. Generation11 mit Migrationshintergrund deutlich zeigt (vgl. Cinar, 2010, S. 17f.). Dieses Phänomen kann an folgendem Beispiel verdeutlicht werden: Bei der Europameisterschaft 2008 spielte die Türkei im Halbfinale gegen Deutschland. In deutschen Städten, beispielsweise in Berlin, waren dieses Ereignis und die verschiedenen Fan-Gruppen allgegenwärtig. Die deutschen Medien echauffierten sich darüber, dass einige Jugendliche, die in Deutschland geboren waren, aber aus Familien mit türkischem Migrationshintergrund stammten, auf Seiten der Türkei mitfieberten und dies in Fernsehmitschnitten öffentlich bekannten. Die Mutmaßung liegt nahe, dass viele, die sich hier über die empfundene mangelnde Loyalität gegenüber Deutschland und die damit implizierte "fehlende" deutsche Identität der Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund erregten, diese oftmals im Alltag nicht als "deutsche Jugendliche" bezeichnen oder akzeptieren würden. Hier offenbart sich die große Divergenz zwischen der Erwartungshaltung und den Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Menschen besonders türkisch/arabischen Migrationshintergrunds12.

Dabei, so beschrieb einer der Befragten, ist das Herkunftsland der Eltern für die hier geborenen jungen Menschen eher eine Art fiktive Heimat und oft wird eher, um sich nicht von der Familie zu entfremden, gesagt: "Ich bin Türke". Wenn ihnen jedoch die Möglichkeit eingeräumt würde, "Berliner" statt Deutscher oder Türke zu sein, könnten sich sicher viele damit identifizieren. Denn dies würde die Möglichkeit implizieren, sich für keine nationale Zugehörigkeit entscheiden zu müssen, sondern sich mit dem Ort, den sie als Heimat kennen, zu identifizieren (vgl. IP1, Z. 866-872). So äußerte eine der interviewten Personen über ihre eigene Erfahrung, sie könne zwar vielleicht nicht Deutscher im Sinne eines entsprechenden Nationalbewusstseins werden, sehr wohl aber deutscher Staatsbürger sein und beispielsweise Berlin als Heimat ansehen13 (vgl. IP1, Z. 859-864).

Es stellt sich daher die Aufgabe, PatientInnen mit Migrationshintergrund nicht vor die Wahl zu stellen, ob sie nun, dem Fallbeispiel folgend, deutsch oder türkisch sind. Indem die Möglichkeit, eine transkulturelle Identität herauszubilden, anerkannt und diese Entwicklung unterstützt wird, ergibt sich eine Chance, diesem Dilemma zu entkommen. Die Möglichkeit, sich für eine spezifische Identität oder verschiedene Anteile einer Kultur entscheiden zu können, wird an folgendem Beispiel einer der interviewten Personen veranschaulicht:


"Ich habe jetzt gerade ein türkisches Paar vor Augen, die waren bei mir in der Beratung. Das war zufällig am Bayram und ich habe gesagt, was sagt man denn, Herzlichen Glückwunsch zum Bayram, und die waren völlig pikiert. Sie haben das wirklich total von sich gewiesen, meinten, wir sind Deutsche und wir feiern gar nicht Bayram, wir feiern Weihnachten" (IP4, Z. 1036-1049).


Das Ehepaar in dieser Schilderung hat für sich eine Identität als "Deutsche" gefunden und sie möchten auch als "Deutsche" gesehen und anerkannt werden.

Die kulturelle Identität wird in einem Prozess des Integrierens von Anteilen der jeweiligen Herkunftskultur sowie der deutschen Mehrheitskultur gebildet. Dabei kann die Zugehörigkeit zu einer Kultur auch von Lebens- und Entwicklungsphasen beeinflusst sein. Die Entscheidung für ein Mehr der einen Kultur und die Annahme von Teilen davon bzw. für ein Verwerfen von Anteilen der anderen Kultur kann demnach von Lebensphase zu Lebensphase unterschiedlich sein (vgl. IP3, Z.741-746). Transkulturelle Identität erscheint hier als ein fortwährender Prozess, in dem mal die eine, mal die andere Kultur einen größeren Einfluss ausübt oder ganz andere Einflüsse integriert werden. Wohlfart, Kluge und Özbek beschreiben im Fallbeispiel einer jungen türkischen Frau ihr "Türkischsein" als ihre ethnische Identität - dazu übernimmt sie Vorstellungen vom "Deutschsein" (vgl. Wohlfart et al., 2007, S. 122). Daraus entwickelt sich dann ihre transkulturelle Identität. Eine der befragten Personen, die selbst einen Migrationshintergrund hat, schilderte auf die Frage nach ihrer eigenen Erfahrung in Bezug auf die verschiedenen Anteile einer transkulturellen Identität folgendes:


"Ich merk das auch, wenn ich in der Türkei bin wie viele deutsche Anteile ich in mir habe. Das kommt dann voll durch. Es stimmt, sie verinnerlichen auch sehr viele Werte und Normen hier. Was ihnen gefällt, was ihnen zuspricht. Und das ist auch gut so" (IP1, Z. 892-898).


Wird eine Entscheidung für "die Eine" oder gegen "die Andere"14 Identität erzwungen, beinhaltet dies die Forderung, einen Teil von sich selbst ganz aufzugeben und kann zu enormem Druck und einer großen Belastung führen. An folgendem Beispiel15 aus den Befragungen wird dies veranschaulicht:


"Die Eltern leben traditionell und sie [die Patientin; Anm. der Autorin] sollte mit dem Cousin verheiratet werden. Sie hat Abitur gemacht und je mehr Wissen da ist, desto größer wird auch der Konflikt. Sie hat sich komplett von der Familie losgesagt und hat gesagt, sie hat sich für die deutsche Identität entscheiden müssen, weil es nicht anders ging" (IP3, Z. 701-706).


Eine Entscheidung gegen die Heirat wurde hier als eine Entscheidung gegen die Familie und ihre Werte und Traditionen gewertet. Vermutlich hat die junge Frau Anteile der Kultur ihrer Familie geschätzt und hätte, wäre ihr die Möglichkeit gegeben worden, frei zu entscheiden, diese auch gelebt und mit den deutschen Anteilen, die ihr zusagen, verbunden und so eine für sich passende transkulturelle Identität entwickeln können. Hier aber konnte von einer wirklichen Entscheidung für eine wie auch immer geartete deutsche Identität kaum die Rede sein, vielmehr von einer notgedrungenen Entscheidung gegen diejenigen Werte, Normen und Verpflichtungen, die die Familie mit ihrer Herkunftskultur verbindet.

Der Begriff der transkulturellen Identität kann im Sinne eines Zugewinns an kreativen Möglichkeiten als potentielle Antwort auf die Anforderungen betrachtet werden, die eine flexibilisierte Gesellschaft auch an Menschen mit Migrationshintergrund stellt (vgl. Atabay, 1995, S. 168) Die Möglichkeit, sich in zwei Welten bewegen zu können und das Beste aus beiden für sich zu entnehmen, birgt einen enormen Zuwachs an potentiellen Handlungsmöglichkeiten. Menschen mit Migrationshintergrund steht die Möglichkeit offen, aus verschiedenen Kulturen zu schöpfen und verschiedene Sprachen zu beherrschen (vgl. IP1, Z. 629-633). Der Kontakt mit einer neuen Kultur, die relativierende Elemente mit sich bringt, kann für Personen, gleich welcher Herkunft, eine Entwicklungschance darstellen, die eigenen Potentiale zu vergrößern. So bietet sich ihnen eine Wahl- und Vergleichsmöglichkeit zwischen verschiedenen Handlungs- und Interpretationsmodellen, ohne dass sie sich einem unterordnen müssten (vgl. Schepker & Toker, 2009, S. 114). Dafür sind jedoch eine Ermöglichung von außen, also die Unterstützung durch die Aufnahmegesellschaft sowie eine Offenheit der Familie wichtig.

Wenn von Seiten der Aufnahmegesellschaft negative Fremdzuschreibungen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund erfolgen, können diese deren Selbstbild negativ beeinträchtigen. So kann die Ablehnung, die durch die Gesellschaft erlebt wird, im schlimmsten Fall zum Selbstbild werden. Die negative Attribuierung kann sich in der Folge nachteilig auf die Selbstwirksamkeitserfahrung des Individuums auswirken. Die folgende Aussage16 aus den Interviews beschreibt anschaulich mögliche Auswirkungen eines negativen Selbstbildes auf ein Kind:


"Die Attribuierung, ich bin deshalb in der Schule schlecht, weil ich hier als Türke nicht anerkannt bin. Das ist eine Sache, was macht es mit mir, wenn ich das so sage. Was bedeutet das dann für mein Selbstbild und auch für die Möglichkeiten, die ich dann hier für mich entwickle, mit dem umzugehen, was ich habe oder nicht habe" (IP4, Z. 839-845).


Die Anforderungen, die der notwendige Entwicklungsprozess bei der Integration der transkulturellen Identität in die Aufnahmegesellschaft mit sich bringt, sollten nicht unterschätzt werden. Aufgabe einer PsychotherapeutIn wäre somit, Menschen mit Migrationshintergrund in ihrer jeweiligen Identitätsfindung wahrzunehmen und zu unterstützen. Gelingt es, eine stabile transkulturelle Identität zu entwickeln, kann sie eine enorme Ressource darstellen.

3. Transkulturalität im psychotherapeutischen Kontext

Machleidt weist darauf hin, dass die Gründe für eine unterschiedlich ausgeprägte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von MigrantInnen und Einheimischen sowohl auf der Seite der MigrantInnen selbst als auch auf der Seite der einheimischen BehandlerInnen zu suchen sind (vgl. Machleidt, 2005, S. 56). Es spielten auch Zugangsbarrieren "eine Rolle, die mit den subjektiven Einstellungen und Haltungen der Migranten zusammenhängen" (ebd., 55). Kahraman sieht den spezifischen Therapieverlauf bei PatientInnen mit Migrationshintergrund währenddessen auf drei wesentlichen Ebenen beeinflusst, auf die ich an dieser Stelle Bezug nehmen möchte: auf der Ebene der PatientIn, der TherapeutIn und auf der strukturellen Ebene. Dieser Artikel nimmt die psychotherapeutische Beziehung in den Fokus, so dass im Folgenden nur auf die personellen Ebenen näher eingegangen wird.

Die Ebene der PatientIn

Zu den in der Person der PatientIn begründeten Zugangsbarrieren muss zunächst festgestellt werden, dass diese nicht selten als hauptursächlich für die geringe Inanspruchnahme psychotherapeutischer Versorgung durch PatientInnen mit Migrationshintergrund gewertet werden. So wird beispielsweise mangelnde Sprachkompetenz oftmals als willkommene Begründung für eine Ablehnung genutzt (vgl. Kahraman, 2008, S. 43). Natürlich ist Sprache ein wesentlicher Faktor für gelungene Kommunikation an sich und eine wesentliche Grundlage von Psychotherapie. Doch spielt sie hier nicht nur in Bezug auf praktisches Sich-Verstehen eine Rolle. So werden in der Zweitsprache Gefühle oftmals schwächer ausgedrückt, was zu wesentlichen Missverständnissen, einer Verharmlosung der Symptomatik und zu falschen Diagnosen führen kann (vgl. ebd., S. 47). Eine Übereinstimmung in Herkunft und Sprache von PatientIn und TherapeutIn kann für PatientInnen mit Migrationshintergrund einen komplexeren Stellenwert haben, da sie mit Gemeinsamkeiten in Einstellungen, Überzeugungen und Erfahrungen, dem "cognitive-match" (ebd., S. 38), assoziiert werden kann. Muttersprachliche TherapeutInnen berichten, dass junge Mädchen, die über gute Deutschkenntnisse verfügen, trotzdem oftmals TherapeutInnen der Herkunftskultur ihrer Familie vorziehen, in der Hoffnung, dort kulturelles, soziales und minderheitenspezifisches Wissen anzutreffen. Hier findet eine Identifikation, im Sinne einer Vorbildfunktion, mit einem Gegenüber statt, das eine Verschmelzung beider Kulturen schon realisiert hat. Muttersprachliche Therapie kann an dieser Stelle nicht als integrationshinderlich angesehen werden, sondern vielmehr als eine Brücke für Integration dienen (vgl. Erman & Kadem, 2009, S. 1). Allerdings kann diese Konstellation aus Angst vor einer Informationsweitergabe innerhalb der Community auch misslingen.

Die Ebene der TherapeutIn

Bei PsychotherapeutInnen können zwei verschiedene Vorurteilstypen auftreten:
Beim ersten Typus werden kulturelle Unterschiede überbewertet und damit individuelle Aspekte der PatientIn ausgeblendet. Dabei wird unbewusst eine Austauschbarkeit mit anderen Mitgliedern derselben Gruppe vorausgesetzt und die Kultur der TherapeutIn überhöht.
Der andere Vorurteilstyp neigt zu einer Verleugnung der kulturellen Differenzen. "Die Therapeuten und das psychiatrische Versorgungssystem werden als vermeintlich kulturfrei verstanden und die Einbettung in soziokulturelle Kontexte wird übersehen" (Wohlfart, 2007, S. 317). Dadurch werden Kultur-, Macht-, Status- und Bildungsunterschiede vernachlässigt, den PatientInnen Überempfindlichkeit und Schwäche unterstellt sowie gesellschaftliche Zusammenhänge ausgeblendet. Somit können identitätsstiftende Anteile und kulturelle Ressourcen nicht angemessen gewürdigt werden (vgl. Kahraman, 2008, S. 40).

Die Rolle von kulturell bedingten Krankheits- und Heilungskonzepten

Bedeutsam in der Arbeit mit PatientInnen mit Migrationshintergrund können auch potentiell andere Konzepte von Krankheit, Heilung und Psychotherapie sein. Somatisierungsstörungen, mangelnde Kommunikation und ein anderes Krankheits- und Heilungsverständnis können zu einer Kulturalisierung von Beschwerden, zu stereotypen Krankheitszuschreibungen und zu Fehldiagnosen17 führen (vgl. Kahraman, 2011, S. 21). Das, je nach Kultur variierende, Verständnis von Krankheits- und Heilungsbegriffen kann sich individuell auch bei gleichem Herkunftsland unterscheiden, so beispielsweise abhängig sein von ländlicher oder städtischer Herkunft. Eine der interviewten Personen schrieb magisch/mystische Sichtweisen eher ländlichen Strukturen zu (vgl. IP1, Z. 551-559). Bei einer solchen Herkunft werde Krankheit oft als "etwas von Gott Gegebenes" gesehen, das die Familie aushalten müsse. Kinder mit einer Behinderung zu haben, wird hier mitunter als eine Art Prüfung angesehen, die man tagtäglich zu bewältigen hat (vgl. ebd.). Daher ist es wichtig, die Gegensätze und Berührungspunkte von kulturell unterschiedlichen Krankheitsbildern sowie die unterschiedliche Rolle von HeilerInnen und TherapeutInnen in verschiedenen Gesellschaftsformen und kulturellen Kontexten stets mit einzubeziehen. ExpertInnen werden in allen Kulturen aufgesucht, um Einschätzung und fachkundige Hilfe zu bekommen. Wirksam ist dabei unter anderem die Vertrauensbeziehung zu der ExpertIn (vgl. Kahraman, 2011, S. 13). Das jeweilige Expertenwissen und die Diagnoseinstrumente können sich sehr unterscheiden und reichen vom Legen von Hühnerknochen bis hin zu den bei uns üblichen Anamnesebögen (vgl. Gavranidou & Abdallah-Steinkopff, 2007, S. 358). Die Unterscheidung zwischen westlich orientierten psychologischen Verfahren und anderen, eher religiösen Ansätzen birgt die Gefahr von einfachen Zuschreibungen und von Kulturalisierung. Für die Fragestellung dieses Artikels ist die Erwähnung einiger ausgesuchter Aspekte aber dennoch von Interesse.

Laut Maria Gavranidou und Barbara Abdallah-Steinkopff ist in den psychologischen Verfahren eine selbstreflexive Haltung und indirekte Vorgehensweise üblich. Bei spirituell-religiösen Ansätzen wird eher eine direkte Interaktion mit Problembenennung durch die ExpertIn und die Einleitung einer entsprechenden Behandlung angewandt. Kommt eine PatientIn mit der Erwartung nach direktem Expertenhandeln oder der Verordnung von heilsamen Maßnahmen zu einer TherapeutIn und wird in ihrem Bedürfnis enttäuscht, kann dies das Nichtzustandekommen oder gar den Abbruch der Therapie bedeuten (vgl. ebd., S. 359). "Fragen wie ‚Was kann ich für Sie tun?’ oder ‚Welches Problem führt Sie zu mir [?]’ könnten dazu führen, dass die Klienten nie wieder kommen, weil diese Art Frage die Inkompetenz des Therapeuten widerspiegelt" (Gavranidou & Abdallah-Steinkopff, 2007, S. 359).

Wichtig ist es, im Vorfeld die Rahmenbedingungen und den Begriff "Psychotherapie" zu erklären (vgl. IP4, Z. 301-316), da "Psychotherapie zum Teil weder als Begriff noch als Profession bekannt ist" (Gavranidou & Abdallah-Steinkopff, 2007, S. 359). Schon das Gespräch über kulturell unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte von Krankheit, Heilung und Psychotherapie kann als ein neuer und chancenreicher Zugangsweg zur PatientIn genutzt werden (vgl. IP3, Z. 1036). Bei einer Konsultation anderer Experten, wie einem Imam18 oder Hodscha19, ist es hilfreich, sie als Thema in die Therapie zu integrieren und, wenn für die psychotherapeutische Behandlung sinnvoll, zu unterstützen. Eine Befragte äußerte die Ansicht, hier solle kein "Entweder-Oder" sondern ein "Und" gelten (vgl. IP5, Z. 502-512). Schon der Glaube der PatientIn an die Wirksamkeit der Maßnahmen und Rituale könnte dazu beitragen, ihre Selbstheilungskräfte zu stärken. Bei bestimmten Krankheitsbildern kann ein schamanistischer bzw. religiöser Ansatz jedoch auch kontraproduktiv sein. Nach Ansicht der interviewten Fachkräfte wirkt Religion sowohl strukturierend und Halt gebend als auch, besonders wenn die Ausübung fanatische Formen annimmt, verunsichernd auf junge Menschen (vgl. IP4, Z. 474-477). Bedenken wurden in den Befragungen noch in Bezug auf Krankheitsbilder geäußert20, bei denen rituelle und religiöse Beschwörungen diese eher verstärken könnten, wie folgendes Zitat veranschaulicht:


"Wenn jemand zum Beispiel eine Psychose hat, die sehr früh beginnt, die in Richtung Schizophrenie geht [...] gibt es viele Eltern, die dann mit Beschwörungen und Schamanismus anfangen. Das wird irgendwie von außen beeinflusst und man kann auch wieder mit diesen Geistern beeinflussen. Dann treibt man diesen jungen Menschen wahrscheinlich eher noch tiefer in die Symptomatik hinein, als dass man ihm hilft. In dem Falle würde ich sozusagen nicht mehrgleisig fahren wollen, weil da geht es ganz viel um Orientierung und erstmal Behandlung, Struktur" (IP2, Z. 455-469).


Sinnvoll scheint demnach eine grundsätzlich wohlwollende und offene Haltung gegenüber magischen bzw. schamanistisch geprägten Heilmethoden, jedoch sollte die praktische Handhabung immer je nach Krankheitsbild und Einzelfall entschieden werden.

Transkulturalität in der psychotherapeutischen Beziehung

Ob eine PsychotherapeutIn mit oder ohne Migrationshintergrund für die Arbeit mit PatientInnen mit Migrationshintergrund geeigneter ist, hängt vom Einzelfall ab. So können Situationen bestehen, in denen eine TherapeutIn gleicher Herkunft als passender empfunden wird, da, wie bereits beschrieben, mit ihr mehr Verständnis und Verbundenheit assoziiert wird. In anderen Situationen kann es hilfreich sein, eine deutsche TherapeutIn vorzuziehen, beispielsweise, wenn eine Bestärkung und Anerkennung der PatientInnen in ihrer deutschen Identität wichtig ist. Zur Frage, ob eine MuttersprachlerIn generell die bessere TherapeutIn sei, berichtete eine der befragten Personen von folgendem Beispiel aus ihrer Berufspraxis:


"Ich habe [...] an den Jungen gedacht, den ich gerade in Therapie habe. Der hat türkische Eltern und der Vater ist in der Türkei gestorben. Der Junge ist auch hier geboren, ist vom Pass her Deutscher, spricht sehr gut Deutsch, will eigentlich, glaub ich auch, Deutscher sein. Die Mutter möchte eigentlich wieder in die Türkei zurück und ist da noch sehr verortet. Und ich könnte mir da auch was Gutes vorstellen mit einem türkischsprachigen männlichen Therapeuten. Aber gerade heute hatte ich eine Stunde mit ihm, bei der ich dachte, dass ist für ihn total wichtig, dass ich Deutsche bin und ihm auch vermittle, dass er hier ein Zuhause hat. Also dass er auch eine Möglichkeit hat, hier die Identität zu wählen und zu leben" (IP4, Z. 390-403).


Der kulturelle Hintergrund einer PatientIn spielt nicht immer eine Rolle in der Therapie und über seine Relevanz muss je nach Fall individuell entschieden werden. Faktisch geht es letztendlich um die Befähigung, herausfinden zu können, welche Anteile der jeweiligen Kultur das individuelle Verhalten bedingen. Entscheidend ist, jede PatientIn als Individuum zu sehen und entsprechend auch den Zugang zu ihr nicht von vornherein festzulegen, sondern individuell zu gestalten. Es geht demnach um die Bereitschaft, nicht zu generalisieren und Migrationserfahrung und Herkunftskultur, im Sinne des Diversity-Ansatzes, als einzelne Merkmale unter mehreren - wie beispielsweise soziale Schicht, Geschlecht, Alter etc. - anzusehen (vgl. van Keuk & Ghaderi, 2011, S. 150). Auch die individuelle (Migrations-)Geschichte der jeweiligen Person ist bedeutsam. Welche Form der Migration liegt in der Familie vor? Kamen die Familienmitglieder als Flüchtlinge, AsylbewerberInnen oder ArbeitsmigrantInnen und aus welchem Kulturkreis stammen sie genau? Des Weiteren ist zu bedenken, was die Familie zurückgelassen hat, welchen Status sie im Herkunftsland hatte und welchen sie nun im Aufnahmeland hat. Wenn sich anhand dieser Aspekte ergibt, dass Kultur und Herkunft subjektiv eine Rolle spielen, dann ist transkulturelles Denken gefragt. Wenn dagegen die Herkunft keine große Rolle für den Grund der Therapie spielt, sollte die TherapeutIn bereit sein, von ihr abzusehen.

Transkulturelle Psychotherapie als Gegenstand von Aus- und Fortbildung

Aus- und Fortbildungen zu (trans-)kultureller Kompetenz (vgl. Machleidt et. al, 2005, S. 216) sowie eine explizite Berücksichtigung von in transkulturellen Begegnungen entstandenen Unsicherheiten in Teambesprechungen (vgl. Kahraman, 2008, S. 37) können sich als hilfreich erweisen. Grundsätzlich könnten die Aus- und Fortbildungsinstitute durch eine Aufnahme von transkultureller Psychotherapie sowie dem Ansatz transkulturellen Denkens in ihre Curricula sehr profitieren (vgl. IP5, Z. 1188-1189).

Doch auch kritische Stimmen zu Fortbildungen in (trans-)kultureller Kompetenz haben ihre Berechtigung. Eine Überbewertung des Faktors Kultur und damit die Kulturalisierung von Ursachen kann zu Stigmatisierungen führen. So wurde in den Befragungen mitunter die Ansicht vertreten, dass TherapeutInnen auch ohne Fortbildungen über ausreichende Sensibilität und Neugier verfügen sollten, da es sonst auch mit allen anderen PatientInnen schwierig würde. Darüber hinaus bestanden zum Teil Zweifel, ob ein Seminar über Sensibilität dazu führt, dass die jeweilige Fachkraft tatsächlich sensibler wird (vgl. IP4, Z. 1163-1171).

Selbst für die wünschenswerte verstärkte Ausbildung von PsychotherapeutInnen mit Migrationshintergrund gilt daher, dass eine fundierte transkulturelle Fortbildung zur Reflexion der eigenen Herkunftskultur notwendig bleibt.

4. Ist eine spezifische transkulturelle Psychotherapie notwendig und sinnvoll?

Transkulturelle Psychotherapie wird, analog zur transkulturellen Identität, als ein Prozess verstanden, in dem sowohl PatientIn als auch TherapeutIn etwas vom Gegenüber aufnehmen und sich weiterentwickeln. Denn "eine Therapie ist ja auch eine Erkundungsreise für zwei Menschen" (IP1, Z. 930-932), von der sowohl PatientIn als auch TherapeutIn profitieren können. Auch Wohlfart sieht die transkulturelle Begegnung als "einen reflexiven Aushandlungsprozess zwischen dem Eignen und dem Fremden [...] in der jeweiligen klinischen Begegnung" (Wohlfart, 2007, S. 318).

Zentral für einen erfolgreichen Therapieverlauf bzw. eine gelungene TherapeutInnen-PatientInnen-Interaktion ist meines Erachtens die Auseinandersetzung der PsychotherapeutInnen mit ihren eigenen kulturell geprägten Vorstellungen und Haltungen, die grundsätzliche Bereitschaft, von diesen auch Abstand zu nehmen und sich im Prozess weiterzuentwickeln. Laut Wohlfahrt wird jedoch Überforderung nicht zugelassen, sondern "vielmehr sollen wir Therapeuten hohen Idealen entsprechen und den Bedürfnissen der Patienten tolerant und flexibel entgegenkommen" (Wohlfart, 2001, S. 318). Daher ist es wichtig, dass TherapeutInnen sich zugleich zugestehen, ihre individuellen und fachlichen Grenzen und Möglichkeiten zu wahren, um professionell, "verantwortlich und authentisch" (Kahraman, 2008, S. 41) handeln zu können. Auch in den Befragungen wurde die Wichtigkeit betont, als TherapeutIn die eigenen Grenzen wahrzunehmen, diese zu akzeptieren und lieber aus Fehlern zu lernen oder sich belehren zu lassen, als nur starre Verhaltensregeln zu befolgen (vgl. IP4, Z. 1087-1103 und IP4, Z. 1036-1049). TherapeutInnen müssten des Weiteren nicht alles wissen, ihre Aufgabe sei es vielmehr, Fragen zu stellen (vgl. IP5, Z. 1053-1063). Daneben heiße, eine Kultur zu verstehen, nicht immer auch, Verständnis für sie aufbringen zu müssen (vgl. IP3, Z. 480-488). Sich, auch entgegen den eigenen Vorstellungen, auf etwas Fremdes einzulassen und dabei die individuellen Grenzen zu wahren, kann für die TherapeutIn eine Gratwanderung darstellen. Dies lässt sich an folgendem Zitat21 aus den Befragungen verdeutlichen:


"Es gibt schon Grenzbereiche. Da ist vielleicht ein Beispiel von einem philippinischen Mädchen besser, die sehr identifiziert ist mit ihren Eltern und wo ich merke, dass ich mit meiner westlichen Vorstellung von dem, was ein junges Mädchen hier erreichen kann oder machen kann, ein bisschen zurücktreten muss. Ich merke, das ist für sie ganz wichtig, er [der Vater; Anm. d. Autorin] ist Moslem, eine sehr traditionelle Bindung an ihre Eltern zu behalten. Von daher würde ich nicht ausschließen, dass es auch Sachen gibt, bei denen ich merke, da habe ich Schwierigkeiten, die zu integrieren oder zu verstehen. Und doch würde ich auch wieder sagen, dass das ganz wichtig ist. Das wäre dann eine große Herausforderung zu kucken, wie kann man das besprechbar machen" (IP4, Z. 522-538).


Transkulturelles Denken bedeutet "keine übermenschliche Qualität, sondern lediglich einen Zustand der erhöhten Reflexionsbereitschaft und kritischen Haltung gegenüber der eigenen Arbeit und Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber den Anliegen der Patienten" (Gavranidou & Abdallah-Steinkopff, 2007, S. 355). Für eine gelungene transkulturelle Therapiebeziehung ist eine Psychotherapie notwenig und sinnvoll, die kulturübergreifende Gemeinsamkeiten zwar erkennt und nutzt sowie kulturelle Unterschiede wahrnimmt (vgl. ebd., S. 358), diese dabei im Einzelfall jedoch nicht überbewertet. Somit brauchen Menschen mit Migrationshintergrund keine grundsätzlich andere Psychotherapie oder Beratung, sondern vielmehr PsychotherapeutInnen mit einer transkulturellen Denkweise und Haltung.

Endnoten

  1. Öffentliche Anerkennung erfährt diese Tatsache allerdings erst mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes 2004.
  2. Heute wird statt dem Begriff "Migrant" zunehmend der umfassendere Begriff "Menschen/Personen mit Migrationshintergrund" gebraucht, unter dem auch "Ausländer, im Ausland geborene und nach dem 1. Januar 1950 Zugewanderte, Eingebürgerte" verstanden werden "sowie Kinder, bei denen mindestens ein Elternteil in eine der genannten Kategorien" (Hax-Schoppenhorst/Jünger, 2010: 10) fällt. Die Begriffe "Migrant" und "Person mit Migrationshintergrund" werden oftmals gleichbedeutend verwendet, meinen aber nicht explizit das Gleiche.
  3. http://www.bap-berlin.de/index.php?category=start
  4. Das Formulieren eines Interview- und Gruppendiskussionsleitfadens ermöglichte die Fokussierung auf das Forschungsthema und eine Vergleichbarkeit der Aussagen.
  5. Anhand der Gruppendiskussion sollte ein kontroverser Meinungsaustausch sowie eine fundierte Meinungsbildung unter Abwägung aller Argumente gefördert werden, also der "diskursive Austausch von Kommunikationsinhalten" (Lamnek, 1998, S. 25). Dabei fiel, mit Blick auf das Forschungsziel, die Entscheidung für eine ermittelnde Form der Gruppendiskussion, die die Meinungen und Einstellungen der TeilnehmerInnen und der ganzen Gruppe sowie die Feststellung öffentlicher Meinungen zum Ziel hat. (vgl. Lamnek, 1998, S. 31)
  6. Die Gruppendiskussion wurde mit Zustimmung der TeilnehmerInnen per Aufnahmegerät mitgeschnitten, wobei die Verfasserin als Moderatorin fungierte. Die Diskussion war dennoch sehr offen und frei gehalten.
  7. Da der Fokus der Arbeit auf den subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen der ExpertInnen lag, bot sich eine qualitative Inhaltsanalyse mit ihrem individuellen und verstehenden Charakter an. (vgl. Mayring, 2008: 18)
  8. Zu Beginn der Untersuchung wurde in einer Kombination aus deduktivem und induktivem Herangehen ein Kategoriensystem in Anlehnung an den Interviewleitfaden bzw. den Diskussionsleitfaden entwickelt. (vgl. Mayring, 2008: 74f.) So konnte das Material in seinem Kommunikationszusammenhang verstanden, der Text innerhalb seines Kontextes interpretiert und das Material auf seine Entstehung und Wirkung hin untersucht, die Kategorien in Ableitung aus dem bisherigen Forschungsstand gebildet und später im Verallgemeinerungsprozess an das Material in einer Revision angepasst werden.
  9. IP ist die Abkürzung für "Interviewte Person". IP4 steht also für die interviewte Person der vierten Befragung. Die Zeilenangaben kennzeichnen die entsprechende Stelle in der Transkription des Interviews bzw. der Gruppendiskussion.
  10. Das statische Kulturmodell wird auch als Kugelmodell bezeichnet, das von J. G. von Herder (1744-1803) entwickelt wurde (vgl. http://www.kulturglossar.de/html/k-begriffe.html).
  11. In der besagten Debatte um "die 3. Generation" wird kritisch hinterfragt, dass Jugendlichen, die schon in der 3. Generation in Deutschland leben und deren Eltern schon hier geboren wurden, noch immer der Migrationshintergrund zugesprochen wird.
  12. Dies kann auf den von der Mehrheitsgesellschaft empfundenen/konstruierten Unterschied zwischen der westlich und individualistisch geprägten Kultur Deutschlands und der eher muslimisch und kollektivistisch geprägten Kultur der Türkei zurückgeführt werden.
  13. Diese Aussage ist keineswegs so auf andere Personen mit Migrationshintergrund übertragbar. Es soll nicht negiert werden, dass sich andere Menschen mit Migrationshintergrund individuell als "Deutsche" und nicht nur deutsche Staatsbürger definieren können.
  14. Was nach dem dynamischen Kulturbegriff ohnehin nicht möglich, sondern lediglich konstruiert und von außen auferlegt wäre.
  15. Der Aussage war eine Frage zu möglichen Loyalitätskonflikten vorangegangen, die sich ergeben können, wenn die Herkunftskultur eher kollektivistisch ausgerichtet ist, die Kultur des Aufnahmelandes hingegen eher individualistisch.
  16. Der Aussage vorangehend wurde die Schwierigkeit betont, pauschal zu beantworten, ob Familien mit Migrationshintergrund vermehrt mit prekäreren Lebenslagen konfrontiert seien. Es käme oftmals vieles zusammen, wie beispielsweise die im folgenden Zitat beschriebene negative Attribuierung.
  17. Um diesen vorzubeugen ist es hilfreich, kulturell, spirituell oder religiös bedingte Erklärungsmuster, die in Krisen vorübergehend an Bedeutung gewinnen können (wie beispielsweise der "böse Blick") entsprechend zu reflektieren und einzuordnen, da sie sonst, so Kahraman, oftmals falsch, beispielsweise als paranoide Symptomatik, gewertet werden (vgl. Kahraman, 2011, S. 21).
  18. Der Begriff Imam hat sowohl eine allgemeine Bedeutung als auch eine spezielle. Der Imam ist ein Oberhaupt bzw. Anführer. Der Vorbeter eines Gemeinschaftsritualgebetes trägt den Titel "Imam des Gemeinschaftsritualgebets". Er wird auch als Ehrentitel für einen hervorragenden Muslim von den jeweiligen Anhängern genutzt (vgl. http://www.eslam.de/begriffe/i/imam.htm).
  19. Der Hodscha oder hoca ist ein geistlicher Lehrer in der osmanischen Türkei (vgl. http://www.duden.de/rechtschreibung/Hodscha).
  20. Der Aussage war die Frage vorausgegangen, ob sich die Zusammenarbeit oder die parallele Behandlung mit einem Hodscha oder einem Schamanen in jedem Fall als hilfreich erweist.
  21. Die zitierte Aussage bezog sich auf die Frage nach dem Umgang mit unterschiedlichen Wertvorstellungen und religiösen Haltungen in der psychotherapeutischen Beziehung.

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Autorin

Elisabeth Zultner
lisa.zultner@bitte-keinen-spam-googlemail.com

Sozialarbeiterin MA/ Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in Ausbildung. Nach dem Bachelor-Abschluss Soziale Arbeit, mit Schwerpunkt Gesundheit, an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) war Elisabeth Zultner zunächst bei einem freien Träger mit Spezialisierung auf psychische Erkrankungen in den ambulanten Hilfen zur Erziehung beschäftigt. Parallel schloss sie, ebenfalls an der KHSB, den Masterstudiengang Soziale Arbeit - Bildung und Beratung ab. Aktuell ist sie an einer Grundschule als Schulsozialarbeiterin tätig. Darüber hinaus absolviert die Autorin derzeit die Ausbildung als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit tiefenpsychologischem Schwerpunkt an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP).



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