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Are you experienced? - Einige Überlegungen zum Verhältnis von subjektiver Erfahrung, Professionalität und Betroffenheit in Psychiatrie und Antipsychiatrie

Christian Küpper
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 22 (2017), Ausgabe 1]

 

Zusammenfassung

In den vergangenen Jahren etablierten sich zunehmend Konzepte wie Partizipation, Empowerment und Peer-Support innerhalb der (sozial-)psychiatrischen Ordnung. Diese Konzepte legen eine grundlegende Statusveränderung der Betroffenen bzw. Nutzer*innen nahe. Am Beispiel der neuen Mitarbeiter*innengruppe der Genesungsbegleiter*innen lassen sich jedoch Grenzen dieser Veränderung aufzeigen. Das Konzept der Betroffenen- und Nutzer*innenkontrolle, welches - dem Anspruch nach - u.a. die Arbeitsweise der antipsychiatrisch orientierten Kriseneinrichtung Weglaufhaus "Villa Stöckle" strukturiert, versucht dementgegen eine alternative Form der Einbeziehung Psychiatriebetroffener. Dieses Konzept stellt einerseits die traditionelle Kontrollanordnung und hegemoniale Professionalitätsvorstellungen in Frage - andererseits wird mit diesem Konzept eine Erweiterung der Mitbestimmungsmöglichkeiten der Betroffenen bzw. Nutzer*innen angestrebt.

Schlüsselwörter: Antipsychiatrie, Psychiatriebetroffenheit, Genesungsbegleitung, Partizipation, Professionskritik

Summary

Are you experienced? - Some thoughts on the relation between subjective experience, professionalism and being affected by psychiatrization in psychiatry and antipsychiatry

In the last years the impact of concepts like participation, empowerment und peer-support within the field of (social-)psychiatry has grown significantly. These concepts indicate a fundamental change of the role persons affected by psychiatrization and (ex-)users of (social-)psychiatric institutions could play within these institutions. However, using the new staff members, so-called peer-supporters, as an example, the limits of this change can be pointed out. In opposition to this kind of inclusion of persons affected by psychiatrization and (ex-)users of (social-)psychiatric institutions, I introduce an alternative concept implemented at the runaway-house "Villa Stöckle" which intends to provide affected persons and users with the opportunity to  exercise control in a specific way. This concept questions, on one hand, the traditional system of control and hegemonic ideas of professionalism. On the other hand, it aims to expand the participation of affected persons and users.

Key words: antipsychiatry, to be affected by psychiatrization, peer-support, participation, criticism of profession

Intro

Der selbstgesetzte Anspruch, in diesem Text das Verhältnis von subjektiver Erfahrung, Professionalität und Betroffenheit theoretisch stimmig und praktisch relevant zu diskutieren, verspricht vor allen Dingen eines: eine ziemlich hohe Fallhöhe. Ich versuche es daher einige Nummern kleiner, aber nicht weniger dringlich: Welche Einflussmöglichkeiten sollten aktuelle oder ehemalige Betroffene bzw. Nutzer*innen (sozial-)psychiatrischer Einrichtungen auf die Ausgestaltung psychosozialer Unterstützungsverhältnisse haben; welchen Stellenwert ihre Erfahrungen und ihr sich erarbeitetes Wissen?1 (Sozial-)Psychiatrie basiert auf Erfahrungen. In ihrem Selbstverständnis ist sie empirische Wissenschaft (vgl. Brückner, 2010; Dörner, 1995). Doch um wessen Erfahrung geht es dabei eigentlich? Um die Erfahrungen der Professionellen aus Theorie und Praxis oder um die Erfahrungen derjeniger, die je nach Kontext als Leidende, Betroffene, Nutzer*innen, Hilfesuchende, Ver-rückte, Wahnsinnige, Exkludierte, Klient*innen, Unterdrückte, psychisch Gestörte bzw. Kranke angesprochen werden? Wer wählt aus, welche Erfahrungen zum Gegenstand wissenschaftlichen Interesses werden? Wer spricht in der Praxis über wessen Erfahrungen? Wer entscheidet, was gehört und gesehen, was überhört und unsichtbar gemacht wird? Wessen Erfahrungen werden zu Wissen und wessen Erfahrungen werden ignoriert? Wie werden Erfahrungen analysiert? Wer professionalisiert sich und was wird professionalisiert? Bereits der Gedanke, unter all den Professionellen in (sozial-)psychiatrischen Einrichtungen mögen sich welche finden, die selber einmal infolge psychischer Erschütterungen professionalisierte Hilfe in Anspruch nahmen, legt nahe, das irgendetwas mit der traditionell strikten Trennung zwischen Professionellen und Betroffenen bzw. Nutzer*innen nicht stimmen kann. Neuere Entwicklungen innerhalb der (sozial-)psychiatrischen Ordnung reflektieren diese Unstimmigkeit bspw. in Konzepten wie Partizipation, Trialog, Recovery, Peer-Support und Empowerment (vgl. Kardorff, 2017; Utschakowski et al., 2009).2 Sie stoßen jedoch an Grenzen. Bevor ich auf diese Grenzen zu sprechen komme, möchte ich zunächst das Berliner Weglaufhaus, in welchem ich tätig bin, vorstellen. Dessen antipsychiatrisches Selbstverständnis und dessen Konzept der Betroffenen- und Nutzer*innenkontrolle eröffnen, so meine These, einige aufschlussreiche Antwortperspektiven auf die Frage, wie der Einbezug von Betroffenen bzw. Nutzer*innen in psychosoziale Unterstützungsverhältnisse alternativ gestaltet werden kann.

Ein antipsychiatrischer Praxisversuch3

Das Weglaufhaus "Villa Stöckle" ist eine seit 1996 existierende Kriseneinrichtung der Berliner Wohnungslosenhilfe mit Platz für bis zu 13 Bewohner*innen und 24-stündiger Begleitung durch Mitarbeiter*innen (vgl. §§67 ff., SGB XII). Entstehungskontext des Weglaufhauses bildet die Neue Antipsychiatrie. Im Gegensatz zur Antipsychiatrie der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind es die Betroffenen selber, die unterschiedliche Initiativen im Rahmen der Neuen Antipsychiatrie maßgeblich tragen und für die Umsetzung betroffenenkontrollierter Alternativen zu den Einrichtungen und Praktiken der (sozial-)psychiatrischen Ordnung streiten (vgl. Trotha, 2001). Ausgangspunkt für den Aufbau des Weglaufhauses stellt der Zusammenschluss Psychiatriebetroffener zur antipsychiatrischen Selbsthilfegruppe Irren-Offensive e.V. im Jahr 1980 dar. In Kooperation mit Unterstützer*innen entstand ab 1982 eine "Hausgruppe", in der sich bald darauf zwei verschiedene Konzepte herauskristallisierten. Die Einen präferierten das Konzept eines dem Selbsthilfeansatz sich direkt verpflichtet sehenden "Verrücktenhauses". Andere wollten die Erfahrungen der Selbsthilfe- und Betroffenenbewegung mit einem Konzept verbinden, welches sowohl das Angebot (professioneller und staatlich finanzierter) kontinuierlicher Unterstützungsangebote für Menschen, die in Not geraten sind, als auch die Mitarbeit antipsychiatrisch eingestellter Nicht-Betroffener ermöglichen soll(te). Verschiedene Entwicklungen führten letztlich zur schrittweisen Trennung der sich fortan als Weglaufhausgruppe organisierenden Vertreter*innen der zweiten Variante von der Irren-Offensive und 1989 zur Gründung des Vereins zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt e.V., dem heutigen (relativ kleinen) Trägerverein. Gegenwärtig ist das Weglaufhaus das deutschlandweit einzige explizit antipsychiatrisch orientierte Wohnprojekt.

Vor dem Hintergrund oft eigener schmerzvoller Betroffenheitserfahrungen sowie den erhobenen Forderungen, die gesellschaftliche Lebensrealität Psychiatriebetroffener - hier in Gestalt eines geschützten und gewaltfreien Wohn- und Unterstützungsraumes - zu verbessern, erarbeit(et)en Vereinsmitglieder und Mitarbeiter*innen des Weglaufhauses die Grundlagen für eine antipsychiatrische Arbeitsweise. Sie bezogen bzw. beziehen sich dabei u.a. auf in anderen (Selbsthilfe-)Projekten gemachte Erfahrungen, auf gemeinsam erarbeitete Wissensbestände und auf die Klassiker der Psychiatriekritik. Wesentliche Pfeiler dieser Arbeitsweise sind, wenn auch verkürzt zusammengefasst, der betroffenen- und nutzer*innenkontrollierte Ansatz, die basisdemokratische Selbstverwaltung, das Transparenzprinzip sowie der nachdrückliche Verzicht auf psychologisch-psychiatrische Diagnostik und Zwang. Angestrebt wird damit, einen möglichst hierarchiearmen Zufluchtsort für Menschen, die (sozial-)psychiatrische Hilfen ablehnen, zu schaffen, an dem sie in Krisensituationen antipsychiatrisch begleitet und unterstützt werden sowie selbstbestimmt Wege aus und einen Umgang mit ihrer Krise entwickeln können.

Mit dem betroffenenkontrollierten Ansatz versuchen die Mitarbeiter*innen und Vereinsmitglieder, die Arbeit des Weglaufhauses an die verschieden gelagerten Erfahrungen der Betroffenenbewegung zurückzubinden und die Kontrollmöglichkeiten der Betroffenen zu stärken (dies gilt ebenso auf Vereinsebene und für andere Vereinsprojekte).4 Formal bedeutet dies, dass mindestens 50 Prozent der Mitarbeiter*innen im Weglaufhaus selbst psychiatriebetroffen, das heißt, mindestens einmal Patient*innen in einer psychiatrischen Klinik gewesen sind. In Bezahlung, Tätigkeitsbereichen und Arbeitsgestaltung bestehen keine Differenzen zu den übrigen Mitarbeiter*innen. Sie sind darüber hinaus zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, ihre Betroffenheit aktiv in die Arbeit einzubringen, geschweige denn, diese überhaupt zu thematisieren. Es bleibt in ihrer Verantwortung zu entscheiden, ob, wann und gegenüber wem sie eigene Erfahrungen oder die eigene Betroffenheit öffentlich und zum Inhalt ihrer Arbeit machen. Eine bedeutsame inhaltliche Bestimmung dieser zunächst abstrakten Betroffenheitsdefinition ist, den eigenen Kontakt mit der Psychiatrie als gewaltvoll zu erfahren. Wir ziehen es daher vor, anstatt von Psychiatrieerfahrung von -betroffenheit zu sprechen. Gewalt wird dabei nicht nur als unmittelbare Verletzung physischer und psychischer Integrität verstanden, sondern auch als ein gesellschaftsstrukturelles Phänomen. Es wird somit zu einem zentralen Qualifikationskriterium für die Mitarbeit im Weglaufhaus, ob betroffen oder nicht, sich ein Bewusstsein für (sozial-)psychiatrische - und damit verschränkte gesellschaftliche - Herrschafts- und Machtverhältnisse zu erarbeiten, die eigene Position darin zu reflektieren und Parteilichkeit mit den Bewohner*innen zu entwickeln. Die formale Qualifikation tritt demgegenüber in den Hintergrund, der Begriff der Professionalität wird inhaltlich umgewertet.

Exkurs: Betroffenheit
Der Begriff der Betroffenheit wird eng an die Erfahrung von Fremdbestimmung und Gewalt bzw. die Erfahrung von Verfügungsentzug, Beschränkung der Handlungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten sowie die Verletzung der psychischen und physischen Integrität in psychosozialen Unterstützungsverhältnissen gekoppelt. Selbstverständlich geht die konkrete Betroffenheitserfahrung in ihrer gesamten schmerzvollen sinnlichen Qualität in dieser Bestimmung nicht auf.
Betroffenmachen können neben dem stationären psychiatrischen Aufenthalt also bspw. auch die  selbstverständliche Weiterleitung an Psychiater*innen bei der Suche nach Hilfe in Anbetracht eigenem psychischen Leidens, die Medikalisierung der Hilfe, gesetzliche Zwangsbetreuungen, (psycho-)therapeutische Settings und Vorgaben, das Besserwissen und die Entscheidungsbefugnisse der Professionellen, pädagogische Maßnahmen und psychologisierende Deutungen, psychologisch-psychiatrische Diagnostik und Pathologisierungsprozesse, Kontakte mit dem sozialpsychiatrischen Dienst oder Leben in betreuten therapeutischen Wohnformen. Beschränkungen von Handlungs- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten sowie Gewalt nehmen dementsprechend, wenn auch in ihrer Reichweite zu differenzieren, verschiedene Ausprägungen innerhalb der psychosozialen Versorgungsstrukturen an. Am eindrücklichsten im negativen Sinn ist dabei noch immer die psychiatrische Klinik mit ihrer immanenten Androhung und Umsetzung weitreichender Zwangsmaßnahmen. Darüber, ob und von was Einzelne sich als betroffen erfahren oder fürchten, prospektiv betroffen zu sein, und wann sie in solchen Settings schmerz- und gewaltvolle Erfahrungen machen, kann jedoch nicht allgemein und vom Außenstandpunkt befunden werden. Aus dem Umstand, dass ich auf Basis gesellschafts-, psychiatrie- und psychologiekritischer Überlegungen verschiedenste bestehende Unterstützungs- und Behandlungsverhältnisse als herrschafts- und machtförmig gegliedert und somit potentiell - wenn auch graduell verschieden - betroffenmachend begreife, die Nutzer*innen sich gegebenenfalls aber nicht als betroffen erfahren, ergibt sich nun ein besonderes Spannungsfeld. Dies bedeutet zum einen aber nicht, dass es prinzipiell egal wäre, wie Menschen ihre Erfahrungen durchdringen und welche Schlüsse sie aus diesen ziehen. Andererseits darf dies aus emanzipatorischer Perspektive nicht dazu führen, Einzelnen die Interpretation ihrer Erfahrungen als Betroffenheit aufzuherrschen. Eine erschöpfende qualitative Begriffsbestimmung von Betroffenheit sieht sich darüber hinaus damit konfrontiert, dass unsere Gesellschaft durchzogen ist von zum Teil querstehenden Herrschaftsverhältnissen, wodurch die Beantwortung der Frage nach der Betroffenheit um eine weitere Facette ergänzt werden muss: bspw. sind Pathologisierungs- und Psychiatrisierungsprozesse nicht unwesentlich entlang der Achsen race, class und gender strukturiert. In Anbetracht dieser gesamten Aspekte könnte die dem ersten Eindruck nach relativ formalistische Betroffenheitsbestimmung unseres Vereins vielleicht als eine vorläufige Arbeitshypothese - das besondere Gewaltpotential der psychiatrischen Klinik betonend - interpretiert werden, wobei ich interne Überlegungen dazu an dieser Stelle nicht öffentlich mache.


Die Möglichkeit des Zusammentreffens von Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen, die unter Umständen strukturell ähnliche Erfahrungen gemacht haben - bspw. schmerzvolle (sozial-)psychiatrische Behandlungen erlitten oder ver-rückte Krisenzustände durchlebten - zeigt eine weitere Facette des betroffenenkontrollierten Ansatzes auf.5 Derlei (geteilte) Erfahrungen können eventuell nicht nur vertrauensbildend sein, sondern auch die selbstbestimmte und offensive Wiederaneignung eigener Erfahrungen von Betroffenheit, Ver-rücktheit und von psychischem Leiden entgegen (sozial-)psychiatrischen (Sprach-)Anmaßungen befördern. Sie repräsentieren, so die zu Grunde liegende Überlegung, auch die Perspektive, sich der Macht der (sozial-)psychiatrischen Ordnung (erfolgreich) zu erwehren - bspw. durch gelungenes Absetzen von Psychopharmaka. Ferner helfen diese Erfahrungen gegebenenfalls, Selbsthilfepotenziale zu entdecken und bekannte Vorstellungen über die vermeintliche Hilflosigkeit
Psychiatriebetroffener zu dekonstruieren. Eng in Verbindung mit dem skizzierten betroffenenkontrollierten Ansatz steht das Konzept der Nutzer*innenkontrolle. Im Gegensatz zu fremdbestimmten Kontrollverhältnissen innerhalb (sozial-)psychiatrischer Einrichtungen wird im Weglaufhaus angestrebt, die Einflussmöglichkeiten und die Entscheidungsmacht der Bewohner*innen auf bzw. über ihren eigenen Unterstützungsprozess zu erweitern und zu stärken. Eindrücklich sichtbar wird dies in der mittels Transparenz anvisierten Umkehrung der Überwachungsanordnung zwischen Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen. Letztere überwachen tendenziell die Arbeit der Mitarbeiter*innen. Alle Arbeitsschritte finden dabei nur nach Rücksprache mit den Bewohner*innen statt. Es wird in der Regel gewährleistet, dass sie jeden "Außen"- Kontakt mitgestalten können. Die Mitarbeiter*innen versenden keine Berichte, ohne dass diese den Bewohner*innen vorgelegt und auf deren Wunsch hin gemeinsam überarbeitet worden. Die Bewohner*innen haben uneingeschränkte Einsicht in "ihre" Akten. Ihre Anwesenheit während der Teamsitzungen und Dienstübergaben zu sie betreffenden Themen ist immer möglich. Die vielfältigen Korrektur- und Kontrollmöglichkeiten der jeweiligen Bewohner*innen dienen der Sensibilisierung der Mitarbeiter*innen für als pädagogisierend und einschränkend erlebte Umgangsweisen im Unterstützungs- und Begleitungsprozess. Was je als Einschränkung der Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Zwang erfahren wird, obliegt zunächst der Definition der Bewohner*innen, die ermutigt werden, die jeweilige Arbeitsweise der Mitarbeiter*innen zu kritisieren und zum Gegenstand eines gemeinsamen Klärungsprozesses zu machen. Der nutzer*innenkontrollierte Ansatz bezweckt zwar die Offenlegung hierarchischer Verhältnisse zwischen den jeweiligen Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen. Dennoch lassen sich gewisse Herrschaftsanordnungen nicht beseitigen, jenseits dessen, dass die einen Geld verdienen und nach Dienstende das Weglaufhaus verlassen. Beispielsweise liegt die bürokratische Verwaltung größtenteils komplett in den Händen der Mitarbeiter*innen, auch wenn bei Interesse die Mitarbeiter*innen den Bewohner*innen die (administrativen) Arbeitsschritte transparent machen und erklären. Weiterhin ist die von Seiten des Vereins und des Weglaufhauses mit dem betroffenen- und nutzer*innenkontrollierten Ansatz beabsichtigte Durchlässigkeit der Strukturen, der Wechsel von der Bewohner*innen- auf die Mitarbeiter*innenseite, u.a. infolge rigider formaler Einstellungsvoraussetzungen der Berliner Senatsverwaltung kaum realisierbar. Die nach jahrelanger politischer und inhaltlicher Auseinandersetzung erkämpfte, seit 1996 bestehende öffentliche, mitunter recht wacklige Finanzierung über eine sozialrechtliche Verortung des Weglaufhauses innerhalb der Wohnungslosenhilfe hat aufgrund strenger Zugangskriterien leider zur Folge, den Aufenthalt einer großen Anzahl Unterstützung-Suchender zu verhindern. Durch diese Verortung wird jedoch eine (weitgehende) Umgehung hegemonialer psychologisch-psychiatrischer Diagnostik möglich, wie ursprünglich für eine antipsychiatrische Arbeitsweise gewünscht. Innerhalb der Unterstützungs- und Begleitungsprozesse verzichten wir Mitarbeiter*innen folglich auf bekannte diagnostische Instrumentarien, ebenso auf Denkformen, die subjektive Erfahrungen und Handlungen bspw. psychologisierend oder pathologisierend ausdeuten. Viele, die sich an unsere Einrichtung wenden, verbinden mit diesen diagnostischen Instrumentarien und Denkformen sehr schmerzhafte Erfahrungen von Fremdbestimmung und Diskriminierung. Wir halten diese Instrumentarien und Denkformen entsprechend für wenig hilfreich und inhaltlich hoch problematisch, da sie die gesellschaftlich-soziale Spezifik subjektiver Erfahrungen und Handlungen tendenziell verkennen und bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse verfestigen (vgl. Markard & Kaindl, 2014). Wir versuchen daher, der Diskursmächtigkeit jener Denk- und Praxisformen entgegenzuarbeiten, und rücken gemeinsam mit den Bewohner*innen ihre subjektiven Erfahrungen und deren gesellschaftlich-sozialen Bezüge in das Zentrum des Unterstützungsprozesses. Die Bewohner*innen gelten also nicht als krank oder determiniert, sondern als für ihre Angelegenheiten prinzipiell selbst verantwortlich.6 Sie behalten in diesem Prozess die Deutungsmacht über ihr (Krisen-)Erleben sowie über ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ziele, die sie mit ihrem Aufenthalt im Weglaufhaus verbinden. Sie entscheiden maßgeblich über die Inhalte der Unterstützungstätigkeit und ihre Beziehungsgestaltung zu den Mitarbeiter*innen. Recht unterschiedlich verlaufen daher die Aufenthalte, die, vorrangig in Abhängigkeit von den durch die zuständigen Ämter gewährten Kostenübernahmen, zwischen einem Tag und anderthalb Jahren dauern. Ein bedeutsames Thema für viele Bewohner*innen ist, Selbstbestimmung sowohl in der alltäglichen Lebensführung wie auch in der Entwicklung eigener Lebens- und Wohnperspektiven zurückzuerlangen. Viel zu häufig wurden sie in verschiedensten Lebensbereichen - u.a. in diversen (sozial-)psychiatrischen Einrichtungen - fremdbestimmt und gedemütigt. Zentrale Rollen im Unterstützungsprozess spielen für (fast) alle Bewohner*innen die Themen Wohnperspektive und Klärung finanziell-administrativer Angelegenheiten. Weitere wichtige Anliegen sind beispielsweise, ver-rückte bzw. krisenhafte Erfahrungen und eigenes Leiden zu erfassen und zu ordnen, Psychopharmaka zu reduzieren oder abzusetzen, Vertrauen und Hoffnung zu schöpfen, Ruhe und Sicherheit zu finden sowie eigene Bedürfnisse freizulegen.7 Mit einer so organisierten und hier nur kurz skizzierten Unterstützungs- und Begleitungspraxis versuchen die Mitarbeiter*innen des Weglaufhauses gemeinsam mit den Bewohner*innen, Herrschaftswissen und Normalitätsanforderungen zu problematisieren sowie der Exklusion Betroffener entgegenzuwirken. Sie sind bemüht, sozialarbeiterische, psychologische und psychiatrische Selbstverständlichkeiten ins Wanken zu bringen und individuelle Problemlagen zu entpathologisieren. Zweifelsohne treffen wir dabei auf verschieden gelagerte Praxiswidersprüche und sehen uns in der alltäglichen Arbeit mit vielfachen, die eigenen antipsychiatrischen Ansprüche unterminierenden Beschränkungen konfrontiert. Diese reichen von größeren finanziellen Unsicherheiten und neoliberal-kapitalistischem Verwaltungsumbau über engmaschige sozialrechtliche Vorgaben und institutionellem Rechtfertigungsdruck der eigenen Arbeitsschritte bis hin zur Vormacht (sozial-)psychiatrischer Überwachungsstrukturen und Ordnungssysteme sowie zum angespannten Berliner Wohnungsmarkt. Viele Bewohner*innen leben zum Teil seit Jahren in prekären Lebensverhältnissen: bedroht von (dauerhafter) Armut, Wohnungslosigkeit, sozialer Isolation und Psychiatrisierung. Unsere Ohnmacht im Angesicht dieser Verhältnisse und Beschränkungen reflektiert die Grenzen unserer Unterstützungstätigkeit. Unter diesen behindernden politischen und sozialen Rahmenbedingungen und im Bewusstsein unserer politischen Marginalisierung kann das Weglaufhaus bedauerlicherweise nicht die angestrebte uneingeschränkte Alternative zur (Sozial-)Psychiatrie sein, trotzdem aber zahlreichen Menschen einen Ort bieten, die jener entfliehen wollen.

Anmerkungen zu einem (sozial-)psychiatrischen Reformversuch

Auch innerhalb der (sozial-)psychiatrischen Ordnung haben, wie angedeutet, neuere Entwicklungen dazu geführt, das Verhältnis zwischen Professionellen und Betroffenen bzw. Nutzer*innen neu zu justieren. Konzepte wie Partizipation und Empowerment erheben den Anspruch, den Subjektstatus der Betroffenen bzw. Nutzer*innen gegen traditionelle (sozial-)psychiatrische Denk- und Praxisformen zu verteidigen. So ist es nur folgerichtig, auch das Feld der Professionalität neu zu vermessen. Dabei tat sich insbesondere die Experienced-Involvement-(EX-IN-)Bewegung hervor. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, Psychiatrie-Erfahrene für eine Mitarbeit im (sozial-)psychiatrischen Versorgungssystem zu Genesungsbegleiter_innen bzw. Expert_innen aus Erfahrungen zu qualifizieren. Wichtiger Bestandteil des EX-IN-Ausbildungsprogramms ist die Entwicklung von so genanntem "Erfahrungswissen": Ausgehend von der Reflexion und Strukturierung eigener Erfahrungen sollen die Auszubildenden ein gemeinsam verstandenes "Wir-Wissen" entwickeln (vgl. Freitag, 2011; Utschakowski et al., 2009). Zugleich, so mein Eindruck, erfüllen EX-IN-Kurse eine Art therapeutische Funktion (vgl. Achberger, 2016).8

An dieser Stelle möchte ich einige strukturelle Aspekte dieser Form der Betroffeneneinbindung in die (sozial-)psychiatrischen Ordnung hervorheben.9 Meiner Einschätzung nach wird mit dem Einsatz von Genesungsbegleiter*innen nicht beabsichtigt, die traditionelle Kontrollanordnung in (sozial-)psychiatrischen Einrichtungen grundsätzlich in Frage zu stellen.10 Die Entscheidungsmacht und die Gestaltungsmöglichkeiten ehemaliger und aktueller Nutzer*innen (sozial-)psychiatrischer Einrichtungen unterliegen weiterhin fundamentalen Beschränkungen. Es ist zu befürchten, dass die erhoffte Verbesserung der Arbeitsmarktchancen nicht bzw. nur eingeschränkt eintritt und wenn doch, Betroffene mitunter zu schlecht(er) bezahlten (Hilfs-)Arbeitskräften werden.11 Daneben ist eine einseitige Exponierung subjektiver Erfahrungen zu konstatieren. Während Professionellen in der Regel qua institutioneller Rahmung verschiedene Sprach- und Handlungsmöglichkeiten gegeben sind, Persönliches zurückzuhalten - Stichwort professionelle Distanz -, besteht für Genesungsbegleiter*innen eventuell verstärkt die Notwendigkeit, eigene, selbst intimste Erfahrungen in ihre Arbeit einzubringen, ist dies doch das von ihnen geforderte Qualifikationsmerkmal. Dies hat eine Aufspaltung des Expert*innentums in Expert*innen qua Profession und Expert*innen qua Erfahrung zur Konsequenz. Es stehen nun zwei Wissenskomplexe unvermittelt nebeneinander, wobei die Professionellen sowohl Wissenschaft wie auch Praxis nach wie vor dominieren. Meine These ist, dass hier auf struktureller Ebene ein Bruch zwischen den vermeintlich Kranken und den Professionellen re-inszeniert wird, der nicht selten die Welt- und Selbstsicht der Betroffenen und der Professionellen affiziert und bestehende hierarchische Strukturen weitestgehend unangetastet lässt.12 Dieser Bruch läuft Gefahr, zugleich ein tradiertes Pathologieverständnis zu zementieren und den Subjektstatus der eingebundenen Betroffenen tendenziell wieder zurückzunehmen. Der Begriff der Psychiatrie-Erfahrung reflektiert dies. Im Gegensatz zu dem Begriff der Psychiatriebetroffenheit bleibt jener nämlich seltsam neutral gegenüber der strukturellen und unmittelbaren (sozial-)psychiatrischen Gewalt, die sich bereits in (sozial-)psychiatrischen Sprachregelungen und Krankheitskonzepten manifestiert.13


Bevor ich meine Überlegungen fortsetze, möchte ich dreierlei Missverständnisse explizit ausschließen. Ich leugne nicht, dass viele Menschen diese Veränderungen des (sozial-)psychiatrischen Versorgungssystems als unterstützend und bereichernd erfahren. Ebenso gilt meine Solidarität den Genesungsbegleiter*innen, denen sich in Anbetracht kapitalistischer Verhältnisse mittels EX-IN die ansonsten eventuell verwehrte Perspektive einer Teilhabe am gesellschaftlichen Re-Produktionsprozess eröffnet. Drittens bedeuten die verschiedenen Problematisierungen nicht, dass professionelle Akteur*innen in ihrer Berufspraxis nicht auch permanent entgegen den strukturellen Nahelegungen der (sozial-)psychiatrischen Ordnung Handlungsmöglichkeiten erstreiten und realisieren. Mit meinen Ausführungen beabsichtige ich vor allen Dingen, den Fokus auf die angesprochenen Grenzen zu richten. Die verschiedenen Kämpfe von Betroffenen und Professionellen für weitreichende emanzipatorische Veränderungen stoßen letztlich an die Grenzen einer rassistischen und patriarchalen Klassengesellschaft. Eine Kritik der (sozial-)psychiatrischen Ordnung und ihres inhärenten Gewaltproblems kann daher auf eine Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse nicht verzichten; Verhältnisse
, zu deren Aufrechterhaltung die kritisierte (sozial-)psychiatrische Ordnung direkt oder indirekt ihren Beitrag leistet; Verhältnisse, in und an denen tagtäglich so viele verzweifeln (vgl. Weigand, 2015). Bei den erwähnten neueren Entwicklungen inkl. ihrer spezifischen Einbeziehungsform Psychiatriebetroffener handelt es sich meines Erachtens um eine strukturelle Modernisierungsbewegung innerhalb der (sozial-)psychiatrischen Ordnung, die freilich nicht selten auf großen (inneren) Widerstand stößt. Vormals zum Teil widerständige Kritiken - bspw. an dem Objektstatus der Betroffenen und der Macht der Professionellen - finden Eingang in die (sozial-)psychiatrische Ordnung jedoch zum Preis ihrer Entradikalisierung. Deren theoretische und praktische Essentials bleiben unverändert. Die angeführten Begriffe - Empowerment, Peer-Support, Partizipation etc. - wurden schließlich zu Begriffen der herrschenden Ordnung, unabhängig von den Intentionen der beteiligten Akteur*innen.

Abspann

Beiden Praxisansätzen, dem Konzept der Betroffen- und Nutzer*innenkontrolle sowie dem Konzept der Genesungsbegleiter*innen, geht es um die Einbeziehung von Betroffenen bzw. Nutzer*innen und deren Erfahrungen in psychosoziale Unterstützungsverhältnisse und deren Ausgestaltung. Beide Ansätze vermessen das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Wissen und Erfahrung, von Professionalität und Betroffenheit neu. Offen bleibt die Frage nach dem Maßstab, denn beide Ansätze vertreten verschiedene theoretische und politische Standpunkte. Diese Standpunkte müssen sich nicht zwingend vollständig ausschließen. Ich möchte jedoch dafür argumentieren, dass Erfahrungen, Vorstellungen, Konzepte und Praxisversuche gewissermaßen schräg analysiert sind, wenn die sie strukturierenden gesellschaftlichen (Herrschafts- und Macht-)Verhältnisse nicht hinreichend berücksichtigt werden (vgl. Markard, 2007). Auch wenn klar ist, dass bereits die richtige Rekonstruktion dieser Verhältnisse aus emanzipatorischer Perspektive umstritten ist, stehen wir doch vor der Aufgabe, eine Antwort auf das Leiden, die Ängste und die Schmerzen, derjenigen zu finden, die freiwillig oder unfreiwillig mit der (sozial-)psychiatrischen Ordnung in Berührung kommen. Zur Lösung dieser Aufgabe ist es erforderlich, die gesellschaftlichen Bedingungen der (sozial-)psychiatrischen Ordnung systematisch in die Analyse mit einzubeziehen und für deren grundlegende soziale und politische Veränderung zu kämpfen. Innerhalb konkreter Unterstützungs- und Begleitungsprozesse müssen den Einzelnen dabei die Möglichkeiten gewährleistet werden, wie in dem vorgestellten Konzept der Betroffenen- und Nutzer*innenkontrolle angedacht, an der Ausgestaltung des je sie betreffenden Unterstützungs- und Begleitungsprozesses entscheidend teilhaben zu können.

Endnoten

  1. Der Beitrag baut auf an anderer Stelle veröffentlichte Arbeiten auf (vgl. Küpper, 2014).
  2. Der Begriff (sozial-)psychiatrische Ordnung rekurriert auf Castels Überlegungen zur psychiatrischen Ordnung. Diese konstituiert sich entlang fünf grundlegender Elemente, die die Eigenständigkeit der Psychiatrie als Wissenschaft und Praxis begründen: eines theoretischen Codes, spezifischer Eingriffstechnologien, eines institutionellen Dispositivs, eines Korpus‘ von Fachleuten und einem Benutzerstatus (vgl. Castel, 1983, S. 12 f.). Zur Diskussion einer möglichen Neukonfiguration dieser Elemente infolge der sozialpsychiatrischen Reformen seit den 1970er Jahren und der zunehmenden psychopharmakologischen Behandlung vgl. Balz et al. (2002, 73 ff.).
  3. Vgl. Kempker, 1998; Hölling, Vogel, Tiedtke in Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt, 2012.
  4. Gemeinsam mit den betroffenenkontrollierten Berliner Projekten Wildwasser e.V., einer Beratungs- und Selbsthilfestelle für Frauen, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erlebt haben, und Tauwetter e.V., einer Anlaufstelle für Männer, die als Jungen sexueller Gewalt ausgesetzt waren, wurde das Konzept der Betroffenenkontrolle auf Basis der Projektgeschichten und der in den Projekten gemachten Erfahrungen inhaltlich weiter ausbuchstabiert, wobei anzumerken ist, dass diese beiden Projekte jeweils mit einer 100-Prozent-Betroffenenquote arbeiten (vgl. Tauwetter, Weglaufhaus "Villa Stöckle" & Wildwasser, 2004).
  5. Die strukturelle Ähnlichkeit der Erfahrungen bricht sich nicht selten an der Differenz der gesellschaftlich-sozialen und biographischen Verortung.
  6. Mit dem Verweis auf Selbstverantwortung und Selbstbestimmung möchten wir nicht neoliberalen Individualisierungsvorstellungen das Wort reden (vgl. Markard, 2009). In Abgrenzung zu diesen und zu deterministischen Vorstellungen verstehen wir Selbstverantwortung und Selbstbestimmung als Verhältnisbegriffe, die den Grad angeben, inwieweit ich individuell oder kollektiv Verfügung über die je mich betreffenden gesellschaftlich-sozialen Lebensverhältnisse bzw. die je relevanten Erfahrungsausschnitte habe.
  7. Sehr viele, die unter der (zwangsverordneten) Einnahme von Psychopharmaka leiden, wünschen, diese abzusetzen, zumindest zu reduzieren. Absetzprozesse sind sehr häufig mit spezifischen Schwierigkeiten verbunden. Unsere diesbezüglichen Erfahrungen sind an einem anderen Ort zu erörtern, ebenso die Frage nach möglichen nachteiligen Einflüssen struktureller Rahmenbedingungen.
  8. Die Thematisierung und Analyse eigener Erfahrungen weist interessanterweise einige strukturelle Parallelen zu verschiedenen Psychotherapie- und Beratungsausbildungen auf (siehe z.B. Lehranalyse in der Psychoanalyse-, Selbsterfahrung in der Verhaltenstherapieausbildung). Selbsterfahrung und -reflexion bilden demnach eine wichtige Voraussetzung für die jeweilige psychosoziale Praxis und sind entsprechend essentieller Bestandteil dieser Ausbildungen, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung und auf Basis verschiedener theoretischer Prämissen. Im Gegensatz dazu spielen in den meisten Studiengängen, die zu einer Mitarbeit in den helfenden Berufen befähigen sollen - siehe u.a. Psychologie und Medizin -, Selbsterfahrung und -reflexion nur eine untergeordnete Rolle; sie werden unter Umständen gar als hinderlich erlebt.
  9. Eine Auseinandersetzung mit den Inhalten des EX-IN-Ausbildungsprogrammes und dessen theoretischen Voraussetzungen kann ich an dieser Stelle nicht leisten.
  10. Der Begriff traditionelle Kontrollanordnung zielt - schematisch - auf die strukturelle (Über-)Macht der Professionellen (traditionell des Arztes) und die strukturelle Ohnmacht der Betroffenen in der Psychiatrie (vgl. Foucault, 2005, S. 489 ff.).
  11. Ich danke Christel Achberger für den Hinweis, dass in Abhängigkeit vom Standort bzw. Träger verschiedene Modelle - darunter auch einige, die meiner Befürchtung widersprechen - der Entlohnung und tariflichen Eingruppierung der Genesungsbegleiter*innen umgesetzt werden (Jahrestagung der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis in Erfurt, Symposium 9, 24.09.16).
  12. Strukturell sehen sich die Einzelnen in Abhängigkeit von ihren Positionen mit verschiedenen Handlungsaufforderungen und Denkformen konfrontiert. Ob, warum und wie sie sich diesen unter Umständen entziehen wollen oder können, ob die Handlungsaufforderungen und Denkformen nahegelegt, aufgenötigt oder einfach nur vorgeschlagen werden, welche subjektive Funktionalität sie ggfs. erfüllen können und welchen Einfluss sie auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung haben, sollte Gegenstand eingehender subjektwissenschaftlicher Erörterungen sein (vgl. Markard, 2007).
  13. Die formulierte Kritik wäre zu bereits durchgeführten oder geplanten Forschungsvorhaben in Beziehung zu setzen, die sich beispielsweise der Fragen annehmen, ob der Einsatz von Genesungsbegleiter*innen zu einer Sensibilisierung im Umgang und in der Sprache führt, ob professionelle Mitarbeiter*innen ihre eigenen Erfahrungen vermehrt transparent machen, wie Vertreter*innen anderer Berufsgruppen auf den Einsatz von Genesungsbegleiter*innen reagieren und welche Bedeutung ihr Einsatz für die jeweiligen Nutzer*innen hat. Es wäre weiterhin zu klären, wann ihr Einsatz lediglich eine Alibifunktion erfüllt, ob an den Vorwürfen, die Genesungsbegleiter*innen würden zur Herstellung von Krankheitseinsicht und Compliance instrumentalisiert, etwas dran ist und was die Vorstellung, die Genesungsbegleiter*innen könnten vermittelnde oder gar "anwaltliche" Funktionen ausfüllen, eigentlich über das Verhältnis zwischen Professionellen und Betroffenen bzw. Nutzer*innen aussagt. Auch muss ein Umgang mit dem Ressentiment gefunden werden, demnach Betroffene generell vulnerabler wären und sich als Helfende bspw. schlechter von Krisen Anderer distanzieren könnten (vgl. Achberger & Utschakowski, 2015; Lacroix & Schmitz, 2013).

Literatur

Achberger, C. (2016). Erfahrungen aus EX-IN-Kursen - Was hilft? Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, Jg. 48, 1/2016, 59-65.

Achberger, C. & Utschakowski, J. (2015). "Zuversicht als Grundhaltung lohnt sich". Soziale Psychiatrie, 2/2015, 14-15.

Balz, V., Bräunling, S. & Walther, T. (2002). Meine Krankheit, mein Medikament und ich. Die atypischen Neuroleptika als neue Identitätsstifter der Psychiatrie. Psychologie und Gesellschaftskritik, Jg. 26, Ausgabe 4, 73-97.

Brückner, B. (2010). Basiswissen: Geschichte der Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag.

Castel, R. ([1976]/1983). Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Dörner, K. ([1972]/1995). Was ist Sozialpsychiatrie? In A. Finzen & U. Hoffmann-Richter (Hrsg.), Was ist Sozialpsychiatrie. Eine Chronik (S. 83-90). Bonn: Psychiatrie-Verlag.

Foucault, M. (2005). Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973-1974. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Freitag, R. (2011). Experienced Involvement - EX-IN. Einbeziehung Psychiatrie-Erfahrener. sozialpsychiatrische informationen, Jg. 41, Ausgabe 1, 30-32.

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Autor

Christian Küpper
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailchristian.kuepper@bitte-keinen-spam-gast.hs-magdeburg.de

Dipl.-Psych., tätig im Weglaufhaus "Villa Stöckle", einer antipsychiatrisch orientierten Kriseneinrichtung in Berlin, Lehrbeauftragter u.a. an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Vorstandsmitglied der Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis (GsFP). Arbeitsschwerpunkte: Kritische Psychologie, psychisches Leiden im Kapitalismus, Psychiatriekritik



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