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Bedarfe und Herausforderungen in Familien mit psychisch erkranktem Elternteil - "Health Literacy" als Rahmenkonzept?

Patricia Wahl, Christina Otto & Albert Lenz
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 22 (2017), Ausgabe 1]

 

Zusammenfassung

Die Konzepte "Health Literacy" und "Mental Health Literacy" versuchen, die Kompetenzen von Individuen zu beschreiben, mit gesundheitsbezogenen Informationen adäquat umzugehen und zur Förderung der eigenen (psychischen) Gesundheit zu verwenden. Die Nützlichkeit dieser Konzepte zur Beschreibung von Bedarfen und Hilfesuche in Familien mit psychisch erkranktem Elternteil wird anhand von Befunden aus einer qualitativen Interviewstudie geprüft. Viele der interviewten Eltern und Kindern berichten den Wunsch nach mehr Wissen über Erkrankung und Behandlung, besonders nach Wissen mit Lebenswelt- und Alltagsbezug. Die Befunde werden mit Blick auf (Mental) Health Literacy eingeordnet und die Konzepte mit ihren Schwachstellen und Potentialen diskutiert.

Schlüsselwörter: Gesundheitskompetenz, (Mental) Health Literacy, Betroffenenperspektive, Eltern mit psychischer Erkrankung

Summary

Needs and challenges in families with parental mental disorder - "Health Literacy" as a conceptual framework?

The concepts "Health Literacy" and "Mental Health Literacy" try to describe the competences of individuals to deal with health-related information adequately und to use it for promotion of one's own (mental) health. The utility of these terms as conceptual frameworks to describe needs and help-seeking in families with parental mental disorder is examined via findings from a qualitative interview study. Many of the parents and children, which had been interviewed, expressed the desire for more knowledge about the disorder and its treatment, especially for knowledge with reference to everyday life. These findings are classified with regard to "(Mental) Health Literacy" and the deficits and potentials of the concepts are discussed.

Keywords: Health Literacy, Mental Health Literacy, personal perspective, parents with mental disorder

Die Konzepte "Health Literacy" und "Mental Health Literacy"

Das Konzept "Health Literacy", häufig als "Gesundheitskompetenz" übersetzt, hat in den letzten Jahren in der Public-Health Forschung an Bedeutung gewonnen (Kickbusch & Maag, 2008) und ist auch in anderen Fachgebieten en vogue. Es existieren diverse Definitionen und Modelle, die aus verschiedenen Perspektiven versuchen, "Health Literacy" zu beschreiben. Die WHO (1998) beispielsweise definiert "Health Literacy" als


"...the cognitive and social skills which determine the motivation and ability of individuals to gain access to, understand and use information in ways which promote and maintain good health."
(WHO, 1998, S.10)


Darüber hinaus existieren differenziertere Definitionen unterschiedlicher Breite (z.B. gesundheitsbezogene Lese-Rechtschreibkompetenz im Kontrast zu komplexen Kompetenzmodellen) und mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten (z.B. Diabetes Literacy, Depression Literacy). Diese Vielfalt spiegelt einerseits die trendhafte Entwicklung des Konzeptes wider, aber auch seine Relevanz für verschiedenste Felder im Bereich Gesundheit und Gesundheitsförderung. Der Mangel an Health Literacy scheint eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung sozial bedingter Ungleichheiten von Gesundheitschancen zu spielen. So berichtet die WHO, dass vulnerable Gruppen, in denen eine problematische Health Literacy festgestellt wurde, wie z.B. ethnische Minderheiten oder ältere Menschen, häufiger Probleme haben mit gesundheitsbezogenem Selbstmanagement, Zugang zu Gesundheitsdiensten oder damit, informierte gesundheitsbezogene Entscheidungen zu treffen. Health Literacy scheint also eine wichtige Form sozialen Kapitals darzustellen, deren Förderung eine Chance bieten könnte, gesundheitsbezogene Ungleichheiten zu reduzieren (WHO, 2013). Im "Health Literacy"-Konzept der WHO (1998) sowie in anderen "Health Literacy"-Definitionen (wie z.B. bei Kickbusch & Maag, 2008) nimmt die psychische Gesundheit nur eine randständige Position ein, weshalb Anthony Jorm (1997) deren Einbezug forderte und das Konzept "Mental Health Literacy" in den Diskurs einführte:


"[...] the term 'mental health literacy' [...] refer[s] to knowledge and beliefs about mental disorders which aid their recognition, management or prevention. Mental health literacy includes the ability to recognise specific disorders; knowing how to seek mental health information; knowledge of risk factors and causes, of self-treatments, and of professional help available; and attitudes that promote recognition and appropriate help-seeking."
(Jorm, Korten, Jacomb, Christensen, Rodgers & Pollitt, 1997, S. 182f)


Im Kontrast zu den verschiedenen Definitionsversuchen des Konzepts "Health Literacy", scheint es für "Mental Health Literacy" kaum Alternativen zur medizinisch (störungs-) orientierten Definition von Jorm zu geben. Allerdings gibt es Bestrebungen (bspw. in Kanada), den Aspekt der Gesundheitsförderung, der in der "Health Literacy"-Forschung viel Raum einnimmt, auch in der Diskussion um "Mental Health Literacy" aufzunehmen (Kutcher, Wei & Coniglio, 2016). Über die Sinnhaftigkeit, "Mental Health Literacy" als eigenständiges Konzept statt Teil einer allgemeinen "Health Literacy" zu definieren, was vor dem Hintergrund eines biopsychosozialen Gesundheitsverständnisses fragwürdig erscheinen kann, soll an anderer Stelle diskutiert werden (Veröffentlichung in Planung).

Bedarfe und Herausforderungen aus der Betroffenenperspektive

Am Beispiel einer (noch laufenden) Interviewstudie, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird (Zeitraum: 01.03.2015-28.02.2018, Förderkennzeichen 01EL1424B), sollen subjektive Bedarfe aus der Betroffenenperspektive mit Blick auf "Mental Health Literacy" dargestellt werden. In der Studie werden Eltern und Kinder aus Familien, in denen (mindestens) ein Elternteil psychisch erkrankt ist, im Rahmen von qualitativen leitfadengestützten Interviews befragt. Familien mit psychisch erkranktem Elternteil werden von der Risikoforschung häufig als wichtige Adressaten präventiver Maßnahmen markiert (z.B. Lenz, 2014), gleichzeitig werden präventive Angebote nur selten von Betroffenen in Anspruch genommen (Kölch & Schmid, 2008). Um diese Diskrepanz zu verstehen, kann es hilfreich sein, die Perspektive der Familien und ihre Bedarfe, die die Hilfesuche beeinflussen, genauer zu untersuchen. Für einen ersten Einblick werden im Folgenden beispielhaft einzelne Interviewstellen angeführt, die im Zusammenhang mit "Mental Health Literacy" als Rahmenkonzept relevant scheinen.

Wissen/Verstehen auf individueller Ebene

Besonders stark wird von den Betroffenen der Wunsch nach mehr Wissen geäußert, mit Bezug auf verschiedene Aspekte psychischer Gesundheit und Erkrankung. Hierbei geht es weniger um Symptomwissen als um Wissen, das dabei hilft mit psychischen Erkrankungen und ihren Folgen umzugehen und sie zu verstehen. So äußert der 12-jährige Sohn eines Vaters mit Depressionen und Ängsten beispielsweise das Bedürfnis nach Wissen über den Umgang mit der Erkrankung im Alltag,


"Es wäre halt gut zu wissen, was man in diesen Momenten machen sollte und was besser nicht." (4K1-m-12)


Dieser Wunsch wird auch von Eltern genannt. Eine 49-jährige Mutter mit Depressionen äußert sich dahingehend, dass sie sich für ihre Familie mehr Wissen im Umgang mit der Erkrankung gewünscht hätte:


"... so ein Handbuch ist jetzt doof gesagt, ne? Das wäre ja jetzt kein Auto, was man reparieren kann. Aber schon weiß, wie man sich in Situationen verhalten soll, ne? [...]. Die [Ehemann und Kinder] kamen sich auch immer hilflos vor, was mache ich richtig, was mache ich falsch? Also ich glaube, da hätte man einfach so einen Fahrplan gebraucht." (2E-w-49)


Als hilfreich im Umgang mit der Erkrankung wird neben dem Wissen über "Handlungsanweisungen" auch mehr Wissen über die Symptome des Betroffenen als hilfreich gesehen. So äußert sich die 36-jährige Ehefrau eines Vaters, der an einer Depression mit psychotischen Symptomen leidet:


"Ich hätte mir gewünscht, dass mir erst mal überhaupt erklärt wird, was mein Mann hat [...] zum Beispiel mit diesem Grübeln oder mit diesem Schwarz-Weiß-Sehen [...] warum er uns so liebt und dann wieder weg. [...] auch mal so n paar Tipps gibt, ähm, zum Beispiel das habe ich jetzt erst so gemerkt, dass ich diejenige sein muss, die ne Grenze setzen muss." (9AE-w-36)


Aus Sicht der Eltern könnte zudem Wissen über Ursachen für die Kinder hilfreich sein:


"[...] also für die Lisa war das bestimmt schwierig zu verstehen, warum ist das denn jetzt so? Oder hab ich vielleicht was falsch gemacht? [...] Da braucht sich keiner Vorwürfe machen, weil das macht man ja automatisch, ne? Das macht man sich ja als Erkrankter, das macht man sich als Kind ja sowieso. Vielleicht hat die Mama das jetzt, weil ich irgendwie, was weiß ich, schlecht in der Schule war oder keine Ahnung, ne, oder frech war..." (2E-w-49)


Informationen, die von den Kindern gewünscht wurden, bezogen sich allerdings weniger auf die Ursachen als auf den zukünftigen Verlauf der Erkrankung. So äußert sich die 16-jährige Tochter einer Mutter mit Depressionen rückblickend:


"Das finde ich auch ganz wichtig, dass man halt klar hat, was das überhaupt ist. Und auch [...] das ist was, was sich wieder legen kann." (2K1-w-16)


Das Bedürfnis nach Wissen über den Verlauf kann sich auch in Befürchtungen der Auswirkungen eines negativen Verlaufs widerspiegeln, wie zum Beispiel bei der 10-jährigen Tochter einer Mutter, die unter Depressionen und Ängsten leidet:


"[...] dass Mama da drin [in der Klinik] bleiben muss oder so. [...]Für immer oder so." (8K1-w-10)


Eben dieses Mädchen äußerte auch mehrfach den Wunsch, mehr über die Behandlung ihrer Mutter zu erfahren:


"...was Mama und so - und in der [...] Klinik passiert ist und so. [...] Also was mit Mama innen drin passiert ist. Und was - halt wie der Tagesablauf und so drin - also ähm jeden Tag war bei Mama oder so." (8K1-w-10)


Das Bedürfnis nach Wissen und Verstehen steht im Kontrast zur Sprachlosigkeit, wenn es darum geht, woher entsprechende Informationen wohl zu bekommen sind. Beispielsweise äußert die zuvor zitierte 10-Jährige auf die Frage, woher sie Informationen über die Therapie bekommen könnte:


"Hm wie ich das rausfinden könnte, weiß nicht." (5K2-w-10)


Bei den Eltern bezieht sich die Sprachlosigkeit eher auf Informationen zu möglichen Hilfen für die jeweiligen Problemstellungen, wie zum Beispiel in den Äußerungen einer 39-jährigen Mutter mit Depressionen deutlich wird:


"Und ähm ja, ansonsten was gibt's sonst für Hilfen? Weiß ich nicht."7(E-w-39)

Wissen auf gesellschaftlicher Ebene

Neben dem Bedürfnis nach Wissen auf der individuellen Ebene wurde von vielen Befragten auch der Wunsch geäußert, dass auf der gesellschaftlichen Ebene das Wissen in Bezug auf die psychischen Erkrankungen gemehrt werden sollte und dies an mehreren Stellen hilfreich sein kann. Als hilfreiches Wissen wird von den Befragten bspw. Wissen über professionelle Hilfen benannt:


"... in so einer Gesundheitszeitung ähm, wie ich die jetzt von der Krankenkasse zugeschickt kriege oder in der Tageszeitung liest man da gar nichts drüber, was für Hilfen ähm, ähm so ne Familie gebrauchen könnte, wenn jemand psychisch erkrankt ist an Depressionen. [...] Und ich finde, das ist viel zu wenig publik ..." (2E-w-49)


Vermehrtes Wissen kann nach Ansicht eines 57-jährigen Vaters mit Depressionen zu einer "Erkenntnis" Betroffener führen:


"Es müsste da einfach eine breitere, ja, vielleicht auch von den Krankenkassen Aufklärung geben, Depressionen machen mit einem Menschen das und das, das und das geht da in einem vor. Und ich glaube, wenn das käme, hätten wir noch viel mehr Patienten, die wissen, sie leiden unter Depressionen." (5E-m-57)


Nach Ansicht einer betroffenen Mutter kann durch Wissenszuwachs in der Bevölkerung Scham bei Menschen mit psychischer Erkrankung abgebaut und so die Hilfesuche erleichtert werden:


"Und ich glaub halt, dass das immer noch mehr die Aufklärung bringen muss, dass man einfach immer nochmal deutlich machen muss den Leuten, das ist genauso ne Erkrankung, ne, wie n Herzinfarkt oder sonstiges. Ähm, ja, dass die Leute sich auf - ich glaub, dass viele sich immer noch dafür schämen und sich deswegen auch ganz spät Hilfe holen oder sich nicht so richtig trauen." (10E-w-38)


Durch Vermehrung von Wissen kann also einerseits frühere und erleichterte Hilfesuche gefördert werden und somit die Versorgungssituation des Einzelnen verbessert werden. Zudem bietet dies eine Chance (Selbst-)Stigmatisierung zu verringern, was ein mehrfach geäußertes Anliegen der Betroffen darstellt, wie z.B. von der 16-jährigen Tochter einer Mutter mit Depressionen benannt:


"Wenn ich jetzt sage, ja, ich gehe jetzt zum Psychiater kommt's irgendwie trotzdem komisch, sage ich mal so. Und ich find, das ähm müsste irgendwie anders werden. Auch im Bewusstsein von allen Menschen." (2K2-w-16)


Allerdings sollte die Aufklärung nicht als Pauschallösung zur Bekämpfung von Stigmatisierungsprozessen gesehen werden. Die 16-jährige Tochter beschreibt in diesem Zusammenhang:


"Also ich dieses Massen- äh also die Köpfe von allen Menschen zu ändern, ist ja schon mal schwierig." (2K2-w-16)


Es gehört also vermutlich mehr dazu als die Vermehrung von Wissen. Dies scheint auch für die Befragten selbst zu gelten, die eine Vielzahl die Krankheitsbewältigung erschwerende Belastungen berichten.

Herausforderungen und soziale Unterstützung

Beispielsweise äußert sich eine 49-jährige Mutter mit Depressionen zur Belastung durch die körperliche Erkrankung eines Familienmitgliedes und wie dies die Hilfekonstellation beeinflusst habe:


"Und irgendwann war ich halt an dem Punkt, weil meine Mutter halt auch ne Krebserkrankung hatte, wo ich dann auch von der keine Hilfe mehr erwarten konnte, sondern sie dann eigentlich auch noch Hilfe von mir brauchte ..." (3E-w-49)


Ein weiteres Beispiel für die Auswirkung alltäglicher Anforderungen liefert eine 39-jährige Mutter mit Depressionen, die beschreibt wie die Auswirkungen der Erkrankung auf die Arbeitssituation wieder neue Schwierigkeiten mit sich bringen, die die Bewältigung erschweren:


"... irgendwo soll mir das weniger Arbeiten ja helfen, dass ich, ja, mehr Zeit für mich habe. Andersrum verdiene ich weniger. Nicht, dass dann das Nächste kommt, dass ich dann, ja, finanzielle Sorgen oder sowas habe, ne? Das ist irgendwie, ja, weiß ich nicht, irgendwie son Kreis." (7E-w-39)


Die Bedeutung sozialer Unterstützung bei der Bewältigung von Belastungen lässt sich anhand zweier Beispiele erläutern. Im ersten Beispiel einer 11-jährigen Tochter, die über die Zeit des Klinikaufenthaltes ihrer Mutter berichtet, ist soziale Unterstützung vorhanden, um Veränderungen durch die Behandlung aufzufangen und somit zur Bewältigung der Situation beizutragen:


"Hm das war ähm war schon also das war jetzt nicht gut, aber also Oma war ja da und das hat dann auch alles gut geklappt." (1K2-w-11)


Im zweiten Beispiel fehlt die soziale Unterstützung, was sich wiederum auf das Befinden der 49-jährigen Mutter während des Klinikaufenthaltes auswirkt:


"Aber ich denke, so manches Mal halt eben, wenn ich ne intakte Familie hätte, dann ähm würde ich mich während oder hätte ich mich während des Klinikaufenthaltes mit Sicherheit besser gefühlt, wohler gefühlt. Weil so war immer halt das Gewissen irgendwo da und was tue ich meiner Familie an, was tue ich meinen Kindern an? Und wenn ich gewusst hätte, da ist wirklich jemand halt eben, der mir da total hilft und mich mit Leib und Seele halt eben irgendwo unterstützt und mir was abnimmt und wo ich weiß, die Kinder fühlen [...] sich halt wirklich wohl und sind supergut aufgehoben, so halt." (6E-w-49)


Im Fall einer anderen 49-jährigen Mutter verhindert die mangelnde soziale Unterstützung die Inanspruchnahme bestimmter Hilfen:


"... einmal ein Problem für mich war, dass ähm es ne zeitlang bei mir so schlimm war, dass eigentlich ein Klinikaufenthalt angeraten war. Und ähm ja, ich das aber nicht gemacht habe, weil ich niemanden für meine Kinder gehabt hätte. Und ähm vom Jugendamt die Hilfe, also meine Kinder in ein Heim zu geben oder so oder in eine Pflegestelle oder so, das war äh außer Frage." (3E-w-49)


Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass zwar ein starkes Bedürfnis nach Wissen vorhanden ist, aber neben der Tatsache, dass auch andere wichtige Einflussfaktoren bei Bewältigung und Hilfesuche eine entscheidende Rolle spielen, die Bedarfe sich meist auf die Alltagsbewältigung beziehen, also eher Wissen mit konkretem persönlichen Bezug als Symptom- oder Fachwissen über psychische Erkrankungen gewünscht wird.

Einordnung der Ergebnisse

Betrachtet man nun die geschilderten Befunde aus unseren Interviews hinsichtlich ihrer Passung mit dem "(Mental) Health Literacy"-Konzept, so wird schnell deutlich, dass die ursprünglichen Definitionen durch WHO (1998) und Jorm et al. (1997) zu kurz greifen. Zwar finden sich einige der geäußerten Bedarfe im Konzept wieder, insbesondere der Bedarf nach "knowledge [...] which aid[s] [...] management" (Jorm et al., 1997, S.182). Jedoch fehlt in der aktuellen Definition die Bedeutung der individuellen Herausforderungen (im Alltag) der Betroffenen, zudem ist die Definition stark funktional ausgerichtet und ignoriert die "Bedeutung" der Erkrankungen für die Betroffenen und mit ihnen verbundenen Emotionen, die ebenfalls die Hilfesuche- und Inanspruchnahme beeinflussen. Beispielsweise die benannten Schamgefühle, die sich nicht unter "...knowledge and beliefs about mental disorders..." (ebd.) einordnen lassen und dennoch einen starken Einfluss auf "...recognition, management or prevention..." (ebd.) haben. Auch die Bedeutsamkeit sozialer Unterstützung wirkt nicht hinreichend beachtet, trotz der Äußerung von Jorm, dass nicht nur die "Mental Health Literacy" des Betroffenen selbst bedeutsam ist, sondern auch die der Kontaktpersonen (Jorm, 2000). Neben diesen aus unseren Daten abzuleitenden Punkten, können auch einige weitere Kritikpunkte angeführt werden, die im Folgenden dargelegt werden.

Gefahren und Potentiale

Zunächst ist (insbesondere im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit/ Krankheit) wichtig aufzuzeigen, dass die Begriffe des "Wissen" und der "Information" genutzt werden, ohne Verdeutlichung, welche Form von Wissen oder Information für richtig oder hilfreich befunden werden. Die Tatsache, dass medizinisches Wissen einer ständigen (Weiter-) Entwicklung unterworfen ist und zudem als sozial konstruiert betrachtet werden kann (z.B. Lachmund, 1987), erschwert die Klärung noch. Zudem lässt sich diskutieren, ob Konstrukte wie Empathie oder Bewältigungskompetenz nicht eher als Teil eines Wissensbegriffs in Zusammenhang mit psychischer Gesundheit herangezogen werden sollten als nur der Bezug auf reines Symptom- und Faktenwissen. Je nach Komplexität des zugrundeliegenden Wissens- und Informationsbegriffs wird es auch schwer, von "Health-Literacy-Leveln" zu sprechen (wie z.B. bei Sørensen et al., 2015), da eine klare Zuordnung von "korrektem" oder "nicht korrektem" Wissen schwerer möglich ist, je weiter man sich von der Symptomebene entfernt. Zudem wäre eine Zuordnung von hohem oder niedrigen HL-Level eine wertende (autokratische) Zuschreibung, die die Lebenswelten und subjektiven Krankheitstheorien und Sichtweisen der Menschen vernachlässigt und daher insbesondere für den Bereich der psychischen Gesundheit kritisch betrachtet werden kann. Eine weitere Gefahr, die bei der Diskussion von "Health Literacy" besteht, ist die der Übertragung von zu viel Verantwortung auf das Individuum. Geht man davon aus, dass gesundheitliche Ungleichheiten zum Teil durch die "Health Literacy" der betroffenen Gruppen erklärbar sind und geschlussfolgert wird, dass deren Förderung die Ungleichheiten verringern kann, läuft man Gefahr die Tragweite äußerer gesellschaftlicher und politischer Bedingungen zu negieren. Die Förderung von "Health Literacy" sollte also lediglich als eine potentielle Möglichkeit unter vielen gesehen werden, gesundheitsbezogene Ungleichheiten zu reduzieren. Die oben genannten Kritikpunkte und Unklarheiten im Zusammenhang mit der Konzeptualisierung von "(Mental) Health Literacy" sollten in der weiteren Diskussion beachtet werden, dennoch scheint die Förderung von "Health Literacy" eine Möglichkeit oder ein Mittel zu sein, die Krankheitsbewältigung zu unterstützen und das Empowerment von Menschen zu stärken. Hier lässt sich die Definition von Don Nutbeam heranziehen, der von drei "Health Literacy"-Ebenen ausgeht. Zunächst beschreibt er die rein funktionale Ebene von "Health Literacy" als Kompetenzen umfassend, die dabei helfen im Gesundheitssystem zu funktionieren, und somit primär auf die Compliance von PatientInnen abzielt. Diese funktionale "Health Literacy", die in etwa der ursprünglichen engen Definition aus Kontexten der Gesundheitsbildung entspricht, wird durch Nutbeam (2000) um zwei Ebenen erweitert. Er spricht von einer interaktiven "Health Literacy", die kommunikative Kompetenzen von Individuen umfasst, die dabei hilfreich sind, mit Ärzten oder anderen PatientInnen in Austausch zu kommen und mit dem Umfeld so zu interagieren, dass Informationen aufgenommen werden können, um das eigene Wohlbefinden zu fördern. Er spricht außerdem noch über eine kritische Ebene von "Health Literacy", die die Kompetenz eines Individuums beschreibt, in eine kritische Auseinandersetzung mit Gesundheitsinformationen zu treten, d.h. die Gültigkeit von Informationen zu hinterfragen, ärztliche Ratschläge und Entscheidungen infrage zu stellen, eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen oder sich in PatientInnen-Vertretungen zu engagieren. Das Verständnis von Nutbeam bietet Potential für die Empowermentdiskussion dahingehend, dass eine Steigerung insbesondere der kritischen "Health Literacy" Menschen dabei unterstützen kann "...ihre soziale Lebenswelt und ihr Leben selbst zu gestalten und sich nicht gestalten zu lassen..." (Brandes & Stark, 2011). Aber ein dem Empowermentbergriff innewohnendes Grundproblem lässt sich auch in der Diskussion um Health Literacy wiederfinden: Wer bestimmt, wer empowered werden soll/muss? Wer bestimmt wer zu wenig/nicht das Richtige weiß? Es besteht die Gefahr, dass Bedürfnisse und Bedarfe zugeschrieben werden. Obwohl im Rahmen unserer Interviewstudie der Versuch unternommen wird, diese aus Betroffenenperspektive näher zu ergründen, bedingt die hohe Selektivität der Stichprobe (PatientInnen, die sich in Behandlung befinden und bereitwillig am Interview teilnehmen), dass die von uns beschriebenen Bedarfe in den Familien mit Vorsicht betrachtet werden müssen.

Neben dem propagierten Potential der Förderung von "Health Literacy"(Sørensen et al, 2015) und "Mental Health Literacy" (Jorm, 2015), lassen sich also auch viele Kritikpunkte an den Konzepten anführen. Dennoch sollte das Potential der Förderung von (Mental)Health Literacy nicht aufgrund seiner Grenzen verkannt werden. Wichtig ist auch, bei der Betrachtung des Konzeptes im Blick zu halten, dass Health Literacy und Mental Health Literacy nur einen Teilaspekt im Gesundheits- und Hilfesuchverhalten abbilden möchten, obgleich viele andere Aspekte in diesem Zusammenhang auch eine wichtige Rolle spielen.

Weiterführende Überlegungen zu MHL

Eine perspektivische Erweiterung und Differenzierung des "Mental Health Literacy"-Konzeptes scheint also nicht nur sinnvoll, sondern nötig. Anpassungen des MHL-Konzeptes ließen sich dahingehend vorstellen, dass ein näherer Lebensbezug insbesondere auf der Bewältigungs-Dimension sinnvoll wäre. Dies würde den subjektiv wahrgenommenen Bedarfen der Betroffenen entsprechen. Hierzu ist es notwendig, den "Wissensbegriff" und das gegebenenfalls vermittelte Wissen an den subjektiven Krankheitstheorien und dem bereits vorhandenen Wissen der Betroffenen zu orientieren. Weitere Überlegungen wären auch dahingehend wichtig, ob in Zukunft besser von "Mental Health Literacy"-Mustern gesprochen werden sollte als von "Leveln", um den unterschiedlichen Bedürfnislagen der Familien und Einflussfaktoren wie Alltagsanforderungen und soziale Unterstützung gerecht zu werden. Das Ansetzen an individuellen "Mental Health Literacy"-Leveln bietet Möglichkeiten, Behandlungen und/oder Präventionsmaßnahmen individueller und damit potentiell effektiver zu gestalten. Die Förderung der "Mental Health Literacy" in Richtung der individuellen Bedarfe (also beispielsweise in Bezug auf bestimmte Symptome, die im Alltag problematisch sind) kann zu einer Verbesserung der Bewältigungskompetenz des Betroffenen führen und bietet gleichzeitig das Potential über positive Bewältigungserfahrungen das Empowerment der Betroffenen zu stärken (Learned Hopefulness, Zimmermann, 1990). Ein weiteres Potential des "Mental Health Literacy"-Konzeptes bieten die Punkte, an denen die Überlegungen über die Inhalte symptombezogener Psychoedukation hinausgehen, nämlich an dem Punkt "... knowing how to seek mental health information" (Jorm, 1997, S. 182), bestenfalls noch ergänzt durch die Kompetenz, Informationen zu bewerten. Genau diese beiden Punkte bieten die Möglichkeit, die Betroffenen aus einer starken Abhängigkeit von BehandlerInnen zu befreien, sie dazu zu befähigen eigene fundierte Entscheidungen zu treffen und eine "kritische Health Literacy" sensu Nutbeam (2000) zu entwickeln. Es muss beachtet werden, dass eine Förderung von "Mental Health Literacy" zielgruppenspezifisch erfolgen sollte, da bei Anwendung eines universalen Ansatzes (z.B. in Form einer Aufklärungskampagne), die Gefahr besteht, dass sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten noch verstärkt werden, wenn bspw. nur Zielgruppen erreicht werden, die ohnehin über viele Bewältigungskompetenzen verfügen. Es sollten also explizit Personen angesprochen werden, die einen hohen Bedarf an "Mental Health Literacy" aufweisen bzw. äußern. Wichtig bei der Betrachtung unserer zuvor beschriebenen Eindrücke aus den Interviews ist die Tatsache, dass wir mit der Beschreibung nicht die Validität des "Mental Healt Literacy"-Konzeptes überprüfen wollen, sondern es vielmehr als Rahmenkonzept betrachten, um die Bedarfe der Familien beschreiben und strukturieren zu können und eine Basis für Anpassungen des Konzeptes und weitere Forschung in diesem Feld zu liefern. Die Komponenten des "Mental Health Literacy"-Konzeptes decken sich mit einigen Bedarfen, die von den Befragten aus unserer Interviewstudie geäußert wurden. Eine Anpassung des Konzeptes hinsichtlich weiterer relevanter Einflussfaktoren auf Bewältigung und Hilfesuche ist aber wichtig. Eine so erweiterte Form von "Mental Health Literacy" hat damit Potential, sowohl als Deutungsrahmen bei der Betrachtung von Erkenntnis- und Bewältigungsprozessen zu dienen als auch Ansatzpunkte für bedarfsorientierte Interventionen zu bieten.

Literatur

Brandes, S. & Stark, W. (2011). Empowerment/Befähigung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Verfügbar unter: http://www.leitbegriffe.bzga.de/alphabetisches-verzeichnis/empowerment-befaehigung/ [15.12.2016].

Jorm, A.F., Korten, A.E., Jacomb, P.A., Christensen, H., Rodgers, B. & Pollitt, P. (1997). 'Mental health literacy': a survey of the public's ability to recognise mental disorders and their beliefs about the effectiveness of treatment. Medical Journal of Australia, 166, 182-186.

Jorm, A. F. (2000). Mental health literacy: Public knowledge and beliefs about mental disorders. British Journal of Psychiatry, 177, 396-401.

Jorm, A. F. (2015). Why we need the concept of "Mental Health Literacy". Health communication, 30(12), 1166-1168.

Kickbusch, I. & Maag, D. (2008). Health Literacy. In K. Heggenhougen & S. Quah (Hrsg,), International Encyclopedia of Public Health, Vol 3 (S. 204-211). San Diego: Academic Press.

Kölch, M. & Schmid, M. (2008). Elterliche Belastung und Einstellungen zur Jugendhilfe bei psychisch kranken Eltern: Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Hilfen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 57(10), 774-788.

Kutcher, S., Wei, Y. & Coniglio, C. (2016). Mental Health Literacy: Past, Present, and Future. The Canadian Journal of Psychiatry, 61(3), 154-158.

Lenz, A. (2014). Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe.

Lachmund, J. (1987). Die Profession, der Patient und das medizinische Wissen. Zeitschrift für Soziologie, 16(5), 353-366.

Nutbeam, D. (2000). Health literacy as a public health goal: a challenge for contemporary health education and communication strategies into the 21st century. Health promotion international, 15(3), 259-267.

Sørensen, K., Pelikan, J. M., Röthlin, F., Ganahl, K., Slonska, Z., Doyle, G., Fullam, J., Kondilis, B., Agrafiotis, D., Uiters, E., Falcon, M., Mensing, M., Tchamov, K., van den Broucke, S., & Brand, H. (2015). Health literacy in Europe: comparative results of the European health literacy survey (HLS-EU). The European Journal of Public Health, 25(6), 1053-1058.

WHO (World Health Organization) (1998). Health promotion glossary. Verfügbar unter: http://www.who.int/healthpromotion/about/HPR%20Glossary%201998.pdf?ua=1 [09.12.2016].

WHO (World Health Organization) (2013). Health literacy. The solid facts. Verfügbar unter: http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0008/190655/e96854.pdf [09.12.2016].

Zimmerman, M. A. (1990). Toward a theory of learned hopefulness: A structural model analysis of participation and empowerment. Journal of research in personality, 24(1), 71-86.

Autor*innen

Patricia Wahl
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailp.wahl@bitte-keinen-spam-katho-nrw.de
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Institut für Gesundheitsforschung und soziale Psychiatrie (igsp), Leostr. 19, 33098 Paderborn.
Ihr aktueller Schwerpunkt liegt im Bereich Health Literacy in Familien mit psychisch erkrankten Eltern

Christina Otto
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailc.otto@bitte-keinen-spam-katho-nrw.de
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Institut für Gesundheitsforschung und soziale Psychiatrie (igsp), Leostr. 19, 33098 Paderborn.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im igsp

Prof. Dr. Albert Lenz
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Maila.lenz@bitte-keinen-spam-katho-nrw.de
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Institut für Gesundheitsforschung und soziale Psychiatrie (igsp), Leostr. 19, 33098 Paderbor.Schwerpunkte in den Bereichen Gesundheitsförderung, Kinder psychisch erkrankter Eltern, Gemeindepsychologie und Gemeindepsychiatrie



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