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Gemeindepsychologie ein reflexives Projekt - oder die Notwendigkeit der politischen Einmischung

Mike Seckinger
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 2]


Es war eine wilde Zeit in Deutschland und anderswo auf der Welt am Ende der 1960er Jahre. Die Freuden über und der Glaube an die fortgesetzte Steigerung des wirtschaftlichen Aufstiegs waren vorüber, die erste Midlife Crisis der kapitalistischen Gesellschaften in der westlichen Hemisphäre nach dem zweiten Weltkrieg war eingetreten. Der Pragmatismus US-amerikanischer Handlungsmodelle in Politik, Technik und auch in der Psychologie verlor vor dem Hintergrund der großen Probleme, wie den Befreiungskriegen in den Noch-Kolonien, die zu Stellvertreterkriegen zwischen den Blöcken wurden, den sozialen Ungerechtigkeiten und der mangelnden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus an Attraktivität. Die Suche nach Alternativen fand mit großer Vehemenz statt. Dies galt auch für die Psychologie, wo sich eine am einzelnen Individuum orientierte, völlig unpolitische klinische Psychologie als "akademisches Zugpferd des Psychobooms" durchgesetzt hatte (Keupp u.a., 2003, S. 6). Doch was ist die Alternative zu dem psychologischen Mainstream für junge Psychologinnen und Psychologen in dieser Zeit? An die Konzepte der Psychologie, die vor dem zweiten Weltkrieg in Deutschland und Europa entwickelt wurden, lässt sich nur schwer anknüpfen. Die Psychologie der Vorkriegsjahre hat zwar mit ihren Konzepten, seien sie psychoanalytisch, feld- oder gestalttheoretisch orientiert, auch das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft zum Thema gemacht und wesentlich dazu beigetragen, Psychologie als Wissenschaft zu etablieren, aber trotz allem war ihre Durchsetzungskraft gegenüber dem individualistischen Mainstream gering. Möglicherweise auch deshalb, weil viele ihrer Protagonisten ins Exil getrieben wurden und/oder inzwischen verstorben waren.

Der Mainstream wählt als Strategie, individuelles Leid zu verringern, eine Intensivierung der Psychologie, die versucht die einzelne Person fit für eine harte Welt zu machen. Es wird der fast verzweifelt anmutende Versuch unternommen und über Jahrzehnte fortgeführt, durch eine Fokussierung auf das Subjekt und seine unmittelbaren sozialen Beziehungen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausblenden zu können. Dies spiegelt sich zum Beispiel in der Übernahme medizinischer Rollen (Niederlassung, Privatpraxis, Psychotherapeutenkammer) und medizinischer Konzepte wie Compliance und Krankheitseinsicht wider. Es ist Ausdruck einer Haltung, die gesellschaftliche Bedingungen als kaum oder gar nicht veränderbar betrachtet, so dass nur die Möglichkeit einer Optimierung des Subjekts für die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen bleibt. Ausbleibende Heilungserfolge werden - ganz in religiöser Tradition - auf unzureichende Anstrengung der Kranken zurückgeführt, eine angemessene Lebensweise zu pflegen.

Die Kritik an dieser Entwicklung war ein Ausgangspunkt für die Entwicklung und Etablierung der Gemeindepsychologie in Deutschland (vgl. Bergold & Seckinger, 2007). Die Wegbereiter der deutschen Gemeindepsychologie, ganz wesentlich auch Heiner Keupp, gelangten gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern für sich zu der Gewissheit, nur in einem Wechselspiel individueller und gesellschaftlicher Anstrengung kann individuelles Leid gemildert werden. Professionelle und vor allem professionspolitische Entwicklungen bedürfen einer stetigen Reflexion, damit sie nicht ihr Ziel verfehlen und die Ungerechtigkeiten moderner Gesellschaften verfestigen. Dies erfordert einen interdisziplinären Dialog, um die eigenen blinden Flecke erkennen zu können. Eine Absicht des Kreises derer, die zu der Gründungsgeneration der deutschen Gemeindepsychologie gehören, war es, aus der boomenden Psychozunft eine "politisch-reflektierte(n) Bewegung zu machen, die sich die Ziele der damaligen Emanzipationsbewegungen aneignen möge" (Keupp u.a., 2003, S. 8). Dieses Ziel beschreibt Keupp so: "Wir wollten die reale Entwicklung der klinischen Psychologie kritisch reflektieren, sie im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang begreifen und politische Orientierungen vermitteln, die auf eine strukturelle Verbesserung der psychosozialen Versorgung zielten. Diese Ansprüche haben wir u.a. als gemeindepsychologische Perspektive bezeichnet." (Keupp u.a., 2003, S.8).

Gemeindepsychologie hat sich nicht in dem Anspruch, Psychologie zu einer kritischen Wissenschaft zu formen, verloren. Es wurden vielmehr vielfältige Versuche unternommen, diesen Anspruch vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen in konkrete Praxis umzusetzen. Hierzu wurde ein Selbstverständnis von Gemeindepsychologie entwickelt, das sich als Disziplin des (auch disziplinären) Grenzenüberschreitens beschreiben lässt. Darin findet sich der Anspruch, Praxis und Theorie als unzertrennlich und aufeinander wechselseitig angewiesen zu verstehen. Das Wissen, das im Rahmen wissenschaftlichen Arbeitens gewonnen wird, hat per se keine höhere Wertigkeit als das Alltagswissen des Einzelnen oder das aus einer psychosozialen Praxis heraus entstandene Wissen der Fachkräfte. Vielmehr ist es notwendig, in intensiven gemeinsamen Diskursen eine gemeinsame Wissensbasis zu schaffen, die dazu beiträgt, die wechselseitige Beeinflussung von Individuum und Gesellschaft zu verstehen. Denn darauf aufbauend ist es möglich, Strategien zu entwickeln, die einen gelingenden Alltag, ein gutes Leben wahrscheinlicher werden lassen.

Gemeindepsychologie ist als reflexives Projekt angelegt, weil die eigenen Erklärungsmuster sich immer wieder der Überprüfung unterziehen müssen. Schließlich ist es unwahrscheinlich, dass in einer sich wandelnden Welt gerade psychologisches Wissen und Handlungsansätze keiner Veränderungsnotwendigkeit unterworfen wären. Reflexion wird erleichtert, wenn Abstand zu dem möglich wird, was reflektiert werden soll. Hierfür bedarf es der Unterstützung aus anderen Disziplinen. Aber alle anderen Perspektiven dienen nicht dazu, die Psychologie abzulösen, sondern ihren Blick zu erweitern und die Selbstbezüglichkeit mancher Aussage zu verstehen. So sollen Räume im Denken und Handeln eröffnet werden, die eine Überwindung scheinbar fest zementierter Ungerechtigkeiten ermöglichen helfen.

Gemeindepsychologische Konzepte

Die zentralen gemeindepsychologischen Konzepte (Partizipation, Empowerment, Förderung Sozialer Netzwerke, Selbsthilfe, Salutogenese, Diversity und die Förderung von Ambiguitätstoleranz) haben alle eine politische Komponente. Partizipation und Empowerment zielen darauf ab, den Einfluss des einzelnen Menschen auf seine Lebensbedingungen zu erhöhen. Psychische Gesundheit, so die dahinter liegende Überzeugung, benötigt den "aufrechten Gang", wozu es Ermutigungen braucht (Keupp, 1997).

Durch die Förderung von Partizipation und Empowerment wird der einzelne Mensch gestärkt und gleichzeitig erlebt er die Kraft der Gemeinschaft. Denn Prozesse der Selbstbemächtigung sind immer auf eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen der einzelnen Person und der sie umgebenden Gruppen angewiesen. Empowerment lässt sich ganz in der Tradition der Dialektik auch als Versuch verstehen, den Widerspruch zwischen Förderung individueller Autonomie und der Stärkung gesellschaftlicher Verantwortung aufzulösen. Die Förderung individueller Autonomie wurde dem Würgegriff neoliberaler Konzepte der Verantwortungslosigkeit entzogen und theoretische Begründungen und praktische Beweise für die Versöhnbarkeit zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung gesucht. Es findet damit nicht nur eine Weiterentwicklung der Psychologie statt, sondern es wird auch ein utopischer Entwurf für eine bessere Welt formuliert (leben in einer sich stetig selbst empowernden Umwelt), ohne jedoch ideologische Totalität einzufordern. Dieses Beispiel zeigt: Das Spiel mit der Spannung von Individuum und Gesellschaft verleitet manchmal zu Formulierungen, die nach einer naiven Utopie der besseren Welt klingen. Damit man nicht dem Charme naiver Utopien verfällt, ist die Anforderung, die eigenen Konzepte auch auf sich selbst anzuwenden, zu erfüllen. Denn (Selbst)Reflektion kann helfen, nicht den Verlockungen einfacher Erklärungen zu verfallen.

Die Förderung sozialer Netzwerke geschieht nicht aus den Motiven moderner Sozialpolitik, die sich hierdurch wieder eine stärkere soziale Kontrolle und eine Verringerung öffentlicher Ausgaben erhofft. Vielmehr sind Menschen in ihrer Identitätsentwicklung auf das Erleben von Gemeinschaft angewiesen. Sinnerfüllung und Unabhängigkeit lassen sich nur in und nicht ohne soziale Netzwerke verwirklichen (Keupp u.a., 1999).

Das letzte gemeindepsychologische Konzept, das hier kurz gestreift werden soll, ist die Ambiguitätstoleranz. In Multioptionsgesellschaften, in denen eine einheitliche große Erzählung fehlt, aus der für alle verbindlich abgeleitet werden könnte, was richtig und falsch ist, wird es unweigerlich zu unauflösbaren Widersprüchen kommen. Diese auszuhalten und nicht daran zu verzweifeln, sondern Freude aus der darin liegenden Verunsicherung zu gewinnen, ist eine hohe Kunst. Ambiguitätstoleranz meint genau dieses (vgl. z.B. Keupp, 2002). Und wieder begibt sich die Gemeindepsychologie auf einen schmalen Grat. Ein Fehltritt und sie stärkt unfreiwillig die gesellschaftlichen Verhältnisse der Moderne, die als wesentliche Ursachen für die Entstehung individuellen Leids gelten. Ambiguitätstoleranz könnte als perfekte Anpassung an eine ungerechte Welt verstanden werden: Wer gelernt hat Widersprüche als Quelle von Lust zu erleben, der oder die hat keinen Grund mehr, Widersprüche zwischen gesellschaftlichem Schein und Sein zu benennen und auf ihre Auflösung zu drängen.

Diese Beispiele geben eine Idee davon, dass Gemeindepsychologie sich nur im Zusammenspiel ihrer Einzelkonzepte entfaltet. Jede Fokussierung auf Einzelkonzepte, so notwendig dies aus forschungspragmatischen Gründen auch sein mag und so erforderlich dies zur Schärfung einzelner Begriffe auch ist, trägt die Gefahr eines Missverstehens in sich, da der Kontext ausgeblendet wird.

Hauptlinien der deutschen Gemeindepsychologie

Rückblickend lassen sich für die vergangenen Jahrzehnte unter der hier eingenommen Perspektive drei Hauptlinien in der deutschen Gemeindepsychologie rekonstruieren:

  • Verbesserung der psychologischen Handlungsstrategien durch Konzepte wie community building, Netzwerkförderung (hierzu gehört auch Förderung von Selbsthilfe, Bürgerschaftliches Engagement), Weiterentwicklung von dialogischen Strategien (z.B. Psychoseminare), Öffnung von psychosozialen Diensten für Lebenswelten (z.B. Erziehungsberatung), spezifische Formen der Gesundheitsförderung
  • vertieftes Verständnis für den Zusammenhang zwischen individueller und gesellschaftlichen Entwicklungen (z.B. Stichwort Identität)
  • direkte politische Einmischung insbesondere durch fachlich basierte Politikberatung.

Heiner Keupp hat diese Entwicklung mitgestaltet und wird dies hoffentlich auch in Zukunft weiterhin tun.

Literatur

Bergold, J. & Seckinger, M. (2007). Community Psychology Between Attitude and Clinical Practice: The German Way. In S. M. Reich, M. Riemer, I. Prilleltensky & M. Montero (Eds.), International Community Psychology. History and Theories (pp. 238-262). New York: Springer Verlag.

Keupp, H. (1997). Ermutigung zum aufrechten Gang. Tübingen: dgvt-Verlag.

Keupp, H. u.a. (1999). Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbeck bei Hamburg: rororo.

Keupp, H. (2002). Identitätsfindung im freiwilligen Engagement: Schlüsselqualifikationen für die Zivilgesellschaft durch Mentoren. Vortrag bei der 4. Sommerakademie vom 15. - 17. Juli 2002 in Bad Herrenalb. Verfügbar unter: http://www.buergerfenster.de/downloads/schluesselqualifikationen_fuer_die_zivilgesell.pdf [Letzter Zugriff 13.12.2009].

Keupp, H., Zaumseil, M., Düll, U. & Schürmann, I. (2003). Heiner Keupp und Manfred Zaumseil im Gespräch. Rundbrief Gemeindepsychologie, 9(1), 7-18.

Autor

Dr. phil. Dipl.-Psych.Mike Seckinger
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Mike Seckinger, Dr. phil., Dipl. Psych., Jg. 1965, wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut e. V., München, Abteilung Jugend und Jugendhilfe, Arbeitsschwerpunkte: Strukturen und Leistungen öffentlicher und freier Jugendhilfe; interinstitutionelle Kooperationsbeziehungen; Gemeindepsychologie



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