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Die Patchwork-Identität der Psychoanalyse

Gudrun Brockhaus
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 2]


Mehr als hundert Jahre alt, ist die Psychoanalyse inzwischen so diversifiziert, dass die Differenzen, die - wie bei Jung oder Adler - in den frühen Jahren der Institutionalisierung zu Verdammung und zum Ausschluss führten, heute geringfügig erscheinen.

Psychoanalytiker heute sind z.B. an die komplexen Machtspiele des Versorgungssystems angepasste Verbandspolitiker oder aus dem Werkzeugkasten von operationalisierten Diagnosetechniken (OPD) oder Therapie-Manualen sich bedienende Handwerker; sie sind naturwissenschaftlich identifizierte Neurowissenschaftler oder Affektforscher oder betreiben Bindungsforschung mittels Verhaltensbeobachtung und standardisierter Interviews. Es gibt die hermeneutisch-sozialwissenschaftlich interessierten "Relationisten", es gibt ein Revival der Kleinianischen Positionen samt Verteidigung von Todestrieb und unbewussten Phantasien, es gibt radikale Verteidiger der 4-Stunden-Frequenz als einzig möglicher Praxis der Psychoanalyse. Psychoanalytiker können sich nicht mehr auf einen common ground einigen und mussten notgedrungen zu einer Patchwork-Identität finden. Dieser Begriff von Heiner Keupp hilft uns, einen Prozess auch positiv zu sehen, der von vielen mit sehr negativen Urteilen verbunden wird, mit Eklektizismus, Beliebigkeit und Überanpassung an jeweilige wissenschaftliche Moden (wie gegenwärtig die Neurowissenschaften) oder der Gegenbewegung eines dogmatischen Sich-Festklammerns an einer "reinen" Lehre und starren Ritualen.

Die Psychoanalyse ist für ihre Vertreter immer mehr gewesen als eine wissenschaftliche Schule oder eine bestimmte therapeutische Technik. Nach dem Nationalsozialismus verbanden sich mit ihr gesellschaftstherapeutische Ambitionen auf einen angemesseneren Umgang mit dem Nationalismus und seinen Opfern (vgl. Mitscherlich & Mitscherlich, 1967).

In der Studentenbewegung wurden die psychoanalytischen Ziele von Aufklärung und Anerkennung von Triebbedürfnissen zusammengemixt mit Marxschen Aufforderungen zum gesellschaftlichen Umsturz. Viele 68er identifizierten sich mit der Position der jüdischen Begründer der Psychoanalyse, katapultierten sich so aus dem Status der Erben der Täter-Gesellschaft heraus und definierten sich als Angehörige einer minoritären Elite, die aus Distanz und moralischer Überlegenheit zu einer totalen Gesellschaftskritik ansetzt.

Die meisten übernahmen in ihrer Gesellschaftskritik, die Psychoanalyse und Marxismus integrieren wollte, Adornos Ablehnung der Psychoanalyse als Therapie (versöhnt den Einzelnen mit der Gesellschaft). Dies führte zu einer Abschottung in feindlichen Lagern: im einen standen die gesellschaftsblinden Therapeuten, im anderen die psychologisch ahnungslosen, abgehobenen Gesellschaftsanalytiker. Verschärft wurde der Bruch dadurch, dass sich die Psychoanalyse in der BRD nach 1945 nicht an den Universitäten etablierte und in privaten Ausbildungsinstitutionen gelehrt wurde, die sich mit Einführung der Kassenfinanzierung psychoanalytischer Therapie Ende der 60er Jahre gänzlich in das "medizinische Modell" und das deutsche Gesundheitswesen einordneten. Diese Institute kämpfen heute um ihr Überleben gegen billigere, schnellere und in ihrer Wirksamkeit leichter überprüfbare Therapiemethoden. Noch ist unklar, was von der Psychoanalyse überleben wird. Die universitäre Verankerung der theoretischen und gesellschaftskritischen Aspekte der Psychoanalyse ist weitgehend abgerissen, weil sie nicht mehr in die politische Landschaft passt. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, welche die Psychoanalyse als Therapie betreiben, bin ich dennoch eine enthusiastische Anhängerin der Psychoanalyse. Insbesondere schätze ich ihre selbstreflexive Haltung und halte immer noch an dem berühmten Votum von Habermas fest, die Psychoanalyse sei "das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft" (Habermas, 1968, S. 262). Ebenso lebendig und kreativ ist das Konzept eines szenischen Verstehens, welches das konstruktivistische Denken um die Dimension des affektiven und unbewussten Austausches in der Übertragungs- und Gegenübertragungsszene erweitert. Immer agiert man mit, aber die Einsicht in die Unvermeidbarkeit von affektiven Verstrickungen eröffnet die Chance zu Humor und zu emotional wie kognitiv hoch spannender Detektivarbeit. Gleichzeitig ist die Psychoanalyse dem therapeutischen Auftrage und dem Versuch zur Linderung von Leid verpflichtet; das verleiht ihr Verbindlichkeit und Ernsthaftigkeit.

Der Psychoanalyse bin ich erst im Studium der Klinischen Psychologie in München begegnet. Eine eigene Auseinandersetzung begann mit einem schwergewichtigen Skriptum zur Ich-Psychologie, die in den 60er Jahren als Import aus den USA das Verständnis von Psychoanalyse dominierte. An dem Skript hatte auch einer der Assistenten der Abteilung für Klinische Psychologie der LMU München mitgewirkt, Heiner Keupp.

Der Ich-Psychologie ging es um die Stärkung der bewussten und autonomen Regulierungsmöglichkeiten des Menschen. Sie war von einer optimistischen Sicht auf die Welt und den Menschen getragen - im Vordergrund stand nicht die Triebpsychologie, schon gar nicht in der düsteren Variante des Todestriebes. Fremd war ihr die Einschätzung einer Unvermeidbarkeit und Unlösbarkeit von Konflikten zwischen triebgesteuerten Wünschen und verinnerlichter gesellschaftlicher Macht, die Sicht eines sich mit dem gesellschaftlichen Fortschritt weiter verschärfenden menschlichen Unglücks, wie Freud (1994) sie in "Das Unbehagen in der Kultur" beschrieben hatte. Die Ich-Psychologie pries vielmehr die menschlichen Chancen auf Eindämmung des Irrationalen oder seine Umnutzung zu kreativen Zwecken ("Regression im Dienste des Ich"). Heiners Naturell ist diese Betonung der Chancen gegenüber den Risiken - vermute ich - sehr entgegengekommen.

In späteren Jahren, inzwischen weg von der Klinischen Psychologie und bei der Sozialpsychologie angekommen, sehe ich in Heiners Zugang auf psychoanalytische Sozialpsychologie die Spuren ich-psychologischen Denkens. Ich erinnere mich, wie Heiner immer wieder der Notwendigkeit einer Ich-Stärkung das Wort redet und - mit Mitscherlich und Adorno - die Gefahren eines schwachen Ichs für die demokratische Entwicklung betont.

Bei Heiners intensiver Beschäftigung mit Alexander Mitscherlich war dieser Topos im Vordergrund. Heiner gefiel, dass Mitscherlich die Notwendigkeit der Entwicklung eines kritischen, reflexiven Ich betonte, das in der 'Vaterlosen Gesellschaft' den Verlockungen von Massensuggestionen widerstehen kann.

Der Terminus 'Ich-Schwäche' und wie diese Schwäche die Anfälligkeit für faschistische Ideologie bedingen könnte, war auch in seiner Sicht auf die Studien zur Autoritären Persönlichkeit von Adorno et al. zentral. Ich habe viele Prüfungen miterlebt, in denen Heiner genau dieses Wort "Ich-Schwäche" zur Charakterisierung der Autoritären Persönlichkeit aus den Prüflingen herauszulocken versuchte - nicht immer mit Erfolg.

Psychoanalytisches Denken und insbesondere die Untersuchung der Abwehrmechanismen waren für Heiner wichtig in der Zeit, als er sich mit Angst und den problematischen Folgen der Angstabwehr in Bezug auf Umweltkatastrophen auseinandersetzte. Fromms Idee einer Einpassung von gesellschaftlichen Notwendigkeiten und individuellen Bedürfnissen in einem "Sozialcharakter" (Fromm, 1981) stellt bis heute einen zentralen Punkt in Heiners "Einführung in die Sozialpsychologie" dar.

Theoretisch gab es also viele Anknüpfungspunkte zur Psychoanalyse. Zudem hat Heiner in den vergangenen Jahrzehnten seine diplomatischen Fähigkeiten und sein Verhandlungsgeschick immer wieder eingesetzt, um den Verbleib der Psychoanalyse an den Universitäten zu ermöglichen, und sich dabei oft mehr engagiert als die schnell resignierten und klagsamen Psychoanalytiker selber.

Problematischer sah und sieht Heiner die Praxis der Psychoanalyse. Insbesondere missfällt ihm die Unterordnung der Profession unter das ärztliche Standesdenken, die konkurrierende Ausgrenzung anderer psychotherapeutischer Zugänge, das Setting einer Behandlung des aus seinen gesellschaftlichen Bezügen isolierten Einzelnen, der zwangsweise (durch die Einordnung in kassenärztliches Denken und Finanzierungsstrukturen) pathologisiert und in rigide Diagnoseschemata (ICD) eingepasst werden muss. Ihm missbehagt, dass wir Psychoanalytiker von Patienten reden, von Pathologie, dass wir die Bezüge zur Gesellschaft auf die Familiengeschichte einschränken und das Macht-Ungleichgewicht in der Therapeut-Patient-Beziehung nicht abschaffen. Kritisch sieht er auch die psychoanalytische Berufspolitik, die Kurzsichtigkeit beim Kampf um die Finanzierungstöpfe.

Kein Wunder bei jemandem, der in Deutschland den labeling approach in die wissenschaftliche Szene einführte, der im Rahmen der Sozialpsychiatrie und der Gemeindepsychologie sich theoretisch wie praktisch jahrzehntelang für ressourcenorientiertes Vorgehen, für Salutogenese, für Prävention und soziale Einbettung aller psychosozialen Eingriffe eingesetzt hat.

Fazit: Ambivalenz scheint das richtige Wort, um Heiners Verhältnis zur Psychoanalyse als Sozialpsychologie und als Profession zu kennzeichnen…

Literatur

Freud, S (1994). Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Fromm, E. (1981). Gesamtausgabe, Band 1. Stuttgart.

Habermas, J. (1968). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Mitscherlich, A. & Mitscherlich, M. (1967). Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München: Piper.

Autorin

Dr. phil. Gudrun Brockhaus
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailg.brockhaus@bitte-keinen-spam-brockhausstiftung.de

Gudrun Brockhaus, Dr. phil., studierte Psychologie und Soziologie. Beide Diplomarbeiten wurden von Heiner Keupp betreut. Von 1977 - 2007 arbeitete sie in dem Team der "Reflexiven Sozialpsychologie" unter Leitung von Heiner Keupp an der LMU München. Psychoanalytische Praxis seit 1983, Forschung und zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Politischen Psychologie



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