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"Das ist Empowerment!"

Ralf Quindel
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 2]


Diesen Ausruf von Heiner Keupp habe ich noch heute in Erinnerung. In der Funktion des Betreuers meiner Diplomarbeit hatte er diese Feststellung mit einer gewissen Begeisterung getroffen: "Das ist Empowerment!" Vorausgegangen war eine Diskussion über die Freizeitgruppenaktivitäten mit Psychiatrieerfahrenen, die ich im Rahmen meines Praktikums in einem Sozialpsychiatrischen Dienst in München erlebt hatte. Daran anschließend bekam ich den Literaturtipp mich mit dem Artikel von Rappaport (1985) auseinanderzusetzen. Der theoretische Zugang dieses Aufsatzes zur psychosozialen Arbeit war gut zu vereinbaren mit den kritischen Positionen, die ich aus dem Studium der "Angewandten Sozialpsychologie" kannte. Ich war damals begeistert von der dialektischen Herangehensweise von Rappaport, der Rechte und Bedürfnisse von Klienten nicht gegeneinander ausspielte. Mit diesem Ansatz des Empowerment habe ich schließlich die emanzipatorischen Effekte der Freizeitgruppenarbeit in meiner Diplomarbeit gut beschreiben können.

Das ist nun schon fast 20 Jahre her. Seitdem hat sich der Begriff "Empowerment" äußerst erfolgreich nicht nur in dem psychosozialen Feld, sondern auch in anderen Bereichen verbreitet. Die ursprüngliche kritisch-dialektische Perspektive ist dabei größtenteils verloren gegangen. Welche Rolle spielt also der Begriff "Empowerment" heute? Im Folgenden möchte ich diese Frage erneut am Beispiel der Sozialpsychiatrie diskutieren. Im Rahmen meiner Dissertation, ebenfalls von Heiner Keupp betreut, habe ich Interviews mit Mitarbeiter/innen Sozialpsychiatrischer Dienste geführt (Quindel, 2004). Aus den Erzählungen der Mitarbeiter/innen lassen sich drei Bedeutungsebenen herausarbeiten:

1) Empowerment als Organisation von Selbstverantwortung

"Für mich bedeutet Empowerment so was wie Hilfe zur Selbsthilfe. Also ich gucke, was kann jemand schon, und was kann ich von außen reingeben an Input, also auch an praktischen Sachen, an Wissen, an Stärkung des Selbstwertgefühls, damit derjenige seine Fähigkeit auch wirklich konstruktiv für sich nutzen kann, um mich dann irgendwann nicht mehr zu brauchen." (Psychologin im Sozialpsychiatrischen Dienst)

Diese Beschreibung von Empowerment ist die vorherrschende. Im Zusammenhang mit der Qualitätssicherung psychosozialer Arbeit zeigt sich dieses Verständnis zunehmend in Form von manualisierten Abläufen (z.B. "Integrierter Behandlungs- und Rehabilitationsplan" IBRP in der Sozialpsychiatrie) die zur Selbstverantwortung und Beteiligung der Klienten und Klientinnen im Rahmen der Hilfeplanungen beitragen sollen. Die Gefahr dieser Definition von Empowerment besteht in der zugrundeliegenden Ideologie des autonomen Individuums. Der "Klient als Kunde" soll die Kontrolle über seine Lebenswelt zurückgewinnen. Unbewusste Wiederholungszwänge, aber auch Abhängigkeit und Hilflosigkeitserleben werden negiert. Mit dieser Haltung geht dem Leben eine zentrale menschliche Qualität verloren. Auf das "Recht zur Entschleunigung" und auf das "Widerstandspotential im Verweilen" wies Heiner Keupp in Diskussionen im Rahmen des Doktoranden-Kolloquiums immer wieder hin.

In Rückgriff auf die Dialektik von Rappaport zeigt sich in der oben genannten Definition von Empowerment, wie die Rechte auf Kosten der Bedürfnisse der Klienten in den Vordergrund rücken. Die Logik der Erhebungsmanuale (z.B. IBRP) entspricht einem sehr leistungs- und zielorientierten Vorgehen, in dem die sperrigen und widerständigen Seiten, die gerade Menschen mit Psychiatrieerfahrung auszeichnen, keinen Platz finden. Ebenso bleiben Aspekte der professionellen Beziehung, die nicht diesem Fortschritt dienen, undokumentiert und damit sind sie, der Logik der Dokumentation folgend, nichts wert. Der vorläufige Höhepunkt dieses einseitigen Prozesses ist das "persönliche Budget", in dem der Klient tatsächlich als Kunde seine Betreuungsleistungen individuell zusammenstellen und "einkaufen" kann. Welch ein Unterschied zu der Pauschalfinanzierung der Sozialpsychiatrischen Dienste in der Zeit meines Psychologie-Praktikums, als es auch noch keine fallbezogenen Dokumentations- und Abrechnungspflichten gab!

2) Empowerment als (möglichst) herrschaftsfreie Begegnung

"Wo man dann auch wirklich so ganz normal miteinander zur "Norma" gegangen ist, debattiert hat, was wird gekocht, ausgerechnet, was können wir uns leisten, das zusammen gemacht, abgespült, aufgeräumt. Also so ganz lebenspraktische Sachen, wo auch die Klienten, hab ich immer den Eindruck gehabt, auch sehr viel einbringen können. Wir Leiter konnten nicht kochen. Das war meine Freundin und ich, und bei uns ging es über studentische Spaghetti-Küche nicht hinaus. Was mich dann auch fasziniert hat zu sehen, wie clever die das auch machen. Und zwar völlig ohne dass wir da jetzt irgendwas strukturieren müssen." (Psychologin im Sozialpsychiatrischen Dienst)

Ein zweiter Aspekt des Empowerment-Konzeptes lässt sich in der oben beschriebenen Begegnungsform finden. Die Beziehung zwischen Professionellen und Klienten ist hier nicht durch psychotherapeutische oder medizinische Behandlungsansätze definiert, sondern es ist eine Alltagsbegegnung, in der es um das konkrete Projekt "Kochen" geht. Jede/r Beteiligte bringt seine/ihre individuellen Kompetenzen und Perspektiven ein. Diese Bedeutung von Empowerment trifft das Kernstück der sozialpsychiatrischen Identität. Das "Normalisierungsprinzip" und ein "verlässliches Netz sozialer Beziehungen" (Keupp, 1998, S. 582) waren und sind die Ziele sozialpsychiatrischer Reformen. Nicht die "psychische Krankheit" soll im Mittelpunkt der professionellen Begegnung mit Klienten und Klientinnen stehen, sondern die "menschlichen Grundbedürfnisse" (ebd.), insbesondere die nach stabilen sozialen Bezügen.

Das bedeutet nicht, dass diese Begegnungen ohne Konflikte sind. Durch die unterschiedlichen Interessen und Rollen entstehen zwangsläufig auch Auseinandersetzungen. Im Sinne des Empowerment begründen die Professionellen ihre Position und Rolle in den Konflikten in einer Weise, die sich auf gemeinsame Ziele und Regeln bezieht, aber nicht auf psychologischer oder medizinischer Deutungsmacht beruht. Als ermutigende Beispiele wären hier der Trialog in den Psychose-Seminaren und das psychiatriepolitische Engagement der Psychiatrie-Erfahrenen-Bewegung in der Beteiligung an Fachtagungen zu nennen. Diese Form von Austausch zwischen kritischen Professionellen und Psychiatrie-Erfahrenen gab es tatsächlich vor 20 Jahren noch nicht. Ich erinnere mich lebhaft an die Geschichte, die Heiner Keupp als wegweisende Erfahrung in diesem Zusammenhang gerne erzählt: sein Erschrecken, als auf einer Fachtagung Psychiatrie-Erfahrene die innovativen und engagierten Überlegungen sich als kritisch wahrnehmender Professioneller heftig als patriarchale Bevormundung angriffen. Die Kritik an der "fürsorglichen Belagerung" tat Wirkung: Seitdem ist die kritische Reflexion der eigenen Expertenmacht zentraler Bestandteil der theoretischen und praktischen Arbeiten von Heiner Keupp und seinen Studierenden.

3) Empowerment als intersubjektive Anerkennung

"Dann fahr ich hin, sie erzählt mir, was sie jetzt gerade vor hatte, um sich umzubringen. Gut, sag ich, wir müssen jetzt ins Bezirkskrankenhaus fahren. Sie bittet mich, sie an der Hand zu nehmen, muss ich ziemlich weit zum geparkten Auto laufen, sie an der Hand führend - ich hab gesagt: "Wenn mich jetzt meine Freundin sieht, gibt es Probleme an diesem Abend!" - und so geht das also bis durch auf die Station, das Gespräch beim ambulanten Arzt bringen wir auch hinter uns, bis in die Station hinein noch, und ich verspreche dann also, sie bald wieder zu besuchen. Und sie sagt, heute sagt sie noch, nach einem halben Jahr, das war ein ganz wichtiger Moment. Also wenn ich da nicht gekommen wäre, dann hätte sie halt was gemacht. Ungewöhnliche Intervention war das für mich, so nah jemand an mich rankommen zu lassen, aber es ist mir dann doch gelungen. Und das freut mich heute noch." (Sozialpädagoge im Sozialpsychiatrischen Dienst)

Eine dritte Bedeutung von Empowerment bezieht sich auf die emotionale Begegnung der Professionellen mit den Klienten und Klientinnen sowie mit sich selbst. Eine Begegnung, die, wie oben beschrieben, Ungewohntes, Neues und Verunsicherndes mit sich bringt. Eine Begegnung, die gewohnte Rollen und kontrollierte Abläufe sprengt. Diese Seite von Empowerment ist meines Erachtens unterbelichtet, sie passt nicht in die rational dominierte Diskussion. Sie ist jedoch ständig präsent und bestimmt den Alltag der sozialpsychiatrischen Arbeit.

Hilfreich für das Verständnis des Besonderen und gleichzeitig Selbstverständlichen dieser Form von Begegnung ist der Begriff der Anerkennung in der intersubjektiven Theorie von Jessica Benjamin (1990). Eine Veröffentlichung mit der ich mich ebenfalls im Rahmen des Studiums der "Angewandten Sozialpsychologie" intensiv beschäftigen konnte und die Heiner Keupp vor allem im Zusammenhang mit der feministischen Kritik an der patriarchal orientierten "Kritischen Theorie" ins Spiel brachte. Das Bedürfnis nach Anerkennung ist laut Benjamin eine fundamentale Grundlage menschlicher Beziehungen. Zentral in dem Konzept von Benjamin ist das Bedürfnis nach Gegenseitigkeit. In einer Beziehung kann man von Anerkennung sprechen, wenn das jeweilige Gegenüber als ähnlich und doch verschieden gesehen werden kann.

Die übergeordnete Konzeption, die die verschiedenen Ansätze einer intersubjektiven Theorie der Selbst-Entwicklung vereinigt, ist das Bedürfnis nach Anerkennung. Eine Person bekommt das Gefühl: "Ich bin es, die etwas tut, ich bin die Urheberin meines Tuns", wenn sie mit einer anderen Person zusammen ist, die ihre Taten, ihre Gefühle, ihre Intentionen und ihre Existenz, ja ihre Unabhängigkeit anerkennt. Anerkennung ist die entscheidende Reaktion, die ständige Begleitmusik der Selbstbehauptung. Das Subjekt erklärt "Ich bin, ich tue" und wartet dann auf die Reaktion "Du bist, du hast getan". (ebd., S. 24).

Anerkennung ist Grundlage für die Differenzierung in Beziehung zu Anderen, für die Autonomie unter Berücksichtigung der gegenseitigen Abhängigkeit. Bereits Stephanie Riger (1993) hatte in einer Literaturanalyse gezeigt, dass viele Veröffentlichungen zum Empowerment-Konzept das Bedürfnis nach Anerkennung ebenso wie die Abhängigkeit in menschlichen Beziehungen abwerten und die Bedeutung von Autonomie und Kontrolle über die Lebensbedingungen als unhinterfragbares Ziel von Empowermentprozessen festlegen. Hier schließt unmittelbar auch die erste Bedeutungsebene von "Empowerment als Organisation von Selbstverantwortung" an.

Perspektiven für Empowerment: Jenseits von technokratischer Distanz und fürsorglicher Belagerung

Die Mitarbeiter/innen der sozialpsychiatrischen Dienste, so zeigten meine Interviews, sehen Ihre Tätigkeit primär als Beziehungsarbeit und stehen den konzeptionellen Diskussionen über Empowerment skeptisch gegenüber. Damit bewahren sie etwas Kostbares, das Primat der persönlichen Beziehung, die emotionale Begegnung, die Beziehungen über Nähe und Anerkennung gestaltet. Die Kehrseite ist die Tendenz, Klienten und Klientinnen in der Abhängigkeit der Zweierbeziehung zu halten, den Kontext zu vernachlässigen und zu wenig Impulse für Autonomie zu setzen.

Demgegenüber verläuft die Diskussion auf der sozialpolitischen Ebene in abstrakteren, methodisch-fachlichen Dimensionen. Die individuelle Ebene der Beziehung zwischen Professionellen und Klienten und Klientinnen soll durch mehr Struktur reguliert werden. Die undurchsichtigen Verhältnisse, die viel dem Zufall überlassen, die Klienten und Klientinnen mit wenig Rechten ausstatten und in Abhängigkeit halten, sollen transparenter werden, um öffentlich-demokratisch kontrollierbar zu werden. Die Gefahr dieser Tendenz ist es, das Bedürfnis nach Bezogenheit, Nähe und Beständigkeit zu ignorieren und ein einseitiges autonomieorientiertes Menschenbild zu vertreten.

Beide Positionen könnten sich gut ergänzen. Das Problem ist fehlende Kommunikation zwischen den Ebenen. Nur über eine Demokratisierung der Entscheidungen, über Mitbestimmung der Basis kann eine Reform der Psychiatrie, die beide Bedürfnisse, die nach Autonomie und Anerkennung berücksichtigt, gelingen. Das demokratische Klima auf der institutionell-professionellen Ebene ist so die Voraussetzung für die Initiation von Empowermentprozessen bei den Klienten und Klientinnen.

Beide Seiten, Psychiatrie-Erfahrene, sowie Mitarbeiter/innen im sozialpsychiatrischen Feld wissen um den Wert der persönlich-emotionalen Beziehung. Nur sie können die Bedeutung dieser Seite der Arbeit glaubhaft vertreten und die technokratische Seite des Empowerment-Konzeptes kritisieren und ergänzen. In diesem Sinne gilt es in der aktuellen Situation die Position der Anerkennung und der Bedürfnisse gegenüber der Position der Autonomie und der Rechte zu stärken, um dem Empowerment-Konzept die dialektische Spannung wiederzugeben. Dies ist eine Anstrengung, die gegen den gesellschaftlichen Mainstream kämpfen muss, aber, um wie Heiner Keupp in seiner Abschiedsvorlesung Max Horkheimer zu zitieren: "Bangemachen gilt nicht!"

Literatur

Benjamin, J. (1990). Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern.

Keupp, H. (1998). Sozialpsychiatrie. In S. Grubitzsch & K. Weber (Hrsg.), Psychologische Grundbegriffe. Ein Handbuch (S. 581-583). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Quindel, R. (2004). Zwischen Empowerment und Sozialer Kontrolle. Das Selbstverständnis der Professionellen in der Sozialpsychiatrie. Bonn: Psychiatrie.

Rappaport, J. (1995). Empowerment meets narrative: listening to stories and creating stories. American Journal of Community Psychology, 23 (5), 795-808.

Riger, S. (1993). What’s wrong with Empowerment. American Journal of Community Psychology, 21 (3), 279-292.

Autor

Prof. Dr. Dipl.-Psych. Ralf Quindel
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailquindel@bitte-keinen-spam-khsb-berlin.de

Ralf Quindel, Prof. Dr., Dipl.-Psych., Systemischer Familientherapeut (SG), Jg. 1966, Professur für psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit und Heilpädagogik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, Arbeitsschwerpunkte: Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie, Erziehungs- u. Familienberatung, Gemeindepsychiatrie



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