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Zwangsbehandlung: Hilfe wider Willen oder Disziplinierungsmaßnahme?

Miriam Krücke
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 19 (2014), Ausgabe 2]

Compulsory treatment: Help against one’s will or disciplinary action?

Nach dem richtungweisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23.03.2011 (2 BvR 882/09) bezüglich der Zwangsbehandlung eines forensisch Untergebrachten, ist das Thema der Zwangsbehandlung wieder im gesellschaftlichen Diskurs angekommen.

Das hohe Gericht hat festgestellt, dass eine Zwangsbehandlung nur als letztes Mittel und nur, wenn der zu erwartende Erfolg größer als die Belastung des Betroffenen ist, gerechtfertigt werden kann. Außerdem fehle eine verfassungsrechtlich genehmigungsfähige gesetzliche Grundlage. Das Urteil haben das BVerfG in zwei weiteren Beschlüssen (2 BvR 633/11 und 2 BvR 228/12) und der Bundesgerichtshof in zwei Entscheidungen (XII ZB 99/12 und XII ZB 130/12) gefestigt.

Da die Maßregelvollzugsgesetze in allen Bundesländern gleich aufgebaut sind und auch die Unterbringungsgesetze der Länder (PsychKG) sowie das Betreuungsrecht (BGB, §§ 1896ff) einer ähnlichen Argumentation folgen, kann das BVerfG-Urteil auf alle Unterbringungsgesetze übertragen werden.

Inzwischen hat der Bundestag mit einer Novelle des § 1906 BGB (vom 18.02.2013) betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung gegen den vehementen Widerstand der Betroffenenverbände im Eilverfahren legalisiert und die Länder ziehen mit der Überarbeitung ihrer Unterbringungsgesetze nach.

Warum es Politik und Ärzteschaft damit so eilig hatten, bleibt unklar. Sie argumentieren entweder mit der Not der psychisch Kranken, denen ohne entsprechende Gesetze vorgeblich nicht mehr geholfen werden kann oder mit der Notwendigkeit einer Gefahrenabwehr.

Beides lässt sich begründet in Frage stellen.

Wem die Zwangsbehandlung letztlich wirklich nützt, wurde innerhalb dieses Prozesses nur insofern deutlich, als dass sich ein Zusammenhang zwischen der Befürwortung des Gesetzes und einem damit verbundenen Nutzen sowie ein Schaden der Gegner vermuten lässt.

Die Maßgaben des Verfassungsgerichtes sollen nun vor allem in Abs. 3 des § 1906 BGB verwirklicht sein:

(3) Widerspricht eine ärztliche Maßnahme nach Absatz 1 Nummer 2 dem natürlichen Willen des Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), so kann der Betreuer in sie nur einwilligen, wenn

  1. der Betreute auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,
  2. zuvor versucht wurde, den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen,
  3. die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung nach Absatz 1 zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
  4. der erhebliche gesundheitliche Schaden durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und
  5. der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegt.

Sprechen wir von "psychischer Krankheit", so scheitert eine klare Abgrenzung allerdings schon an der Begriffsbestimmung. So ist z.B. nicht bewiesen, ob es sich bei psychischen Problemen, Ver-rücktheiten und Eigensinn um krankhafte Veränderungen vom "Normkörper" (?) handelt, die einen entsprechenden, nun auch vom Gesetz vorgesehenen, medizinischen Eingriff rechtfertigen können. Noch gibt es keine Tests mit denen "psychische Krankheiten" im Körper nachgewiesen werden können. Eine Transmitterstoffwechselveränderung dürfte es tatsächlich geben, auch wenn sich diese am lebenden Menschen nicht messen lässt. Der Stoffwechsel reagiert auf jedes Ereignis, jede Bedeutungsgebung und jede Emotion. Das ist normal.

Sollte die Kategorisierung der menschlichen Psyche doch gelingen, so stellt sich weiterhin die Frage, wer ermessen darf, ab wann und ob einer Erlebens- und Verhaltensbesonderheit Krankheitswert beigemessen werden kann. Und dementsprechend außerdem, ob der in solch gravierender Weise über das Leben einer anderen Person entscheidende Psychiater selber einen freien Geist und Willen hat, eine ganz gesunde Psyche besitzt und niemanden gefährdet. Schon in der Theorie wird offenbar, dass sich dieses Problem nicht ohne Machtgefälle lösen lässt.

In Abs.1 des zitierten Paragraphen (1906 BGB) spricht der Gesetzgeber von einer notwendigen medizinischen Maßnahme. Die Legitimation der psychiatrischen Zwangsbehandlung folgt ursprünglich derselben Logik wie die Notfallbehandlung. Bei einer Notfallbehandlung handelt der Arzt auf der Grundlage einer mutmaßlichen Einwilligung (Geschäftsführung ohne Auftrag). Dabei geht es darum, das Leben des Menschen zu retten und Krankheit und Behinderung weitest möglich abzuwenden. Dies geschieht unter der Annahme, dass der Patient, wäre er freien Willens, die ihm angetane Behandlung wünschen würde.

Denn ohne die Zustimmung des Patienten gilt eine medizinische Behandlung als Körperverletzung und wird entsprechend geahndet. In der Notfallmedizin wird die Einwilligung stillschweigend vorausgesetzt und in den meisten Fällen mit einer Zustimmung im Nachhinein bestätigt. Dem liegt die Prämisse zugrunde, dass Menschen in der Regel überleben möchten. Würden sich 90 % der Reanimierten im Nachhinein über die Lebensrettung beschweren, müssten wir umdenken. Im somatischen Bereich ist dies nicht der Fall. Im Psychiatrischen sieht es allerdings anders aus.

Im Falle der psychiatrischen Zwangsbehandlung kann von Lebensrettung keine Rede sein.

Nach wie vor sterben mehr Menschen an der psychiatrischen Behandlung als an einer "psychischen Krankheit". An "Depressionen", "Psychosen" und "Ticks" stirbt man in der Regel nicht. An den Neben- und Langzeitwirkungen der zwangsverordneten Psychopharmaka allerdings schon. Kaum ein Zwangsbehandelter ist seinen Behandlern im Nachhinein dankbar. Wobei ihm in diesem Falle leicht unterstellt werden kann, er sei noch nicht gesund.
Seit vielen Jahren fordert der BPE e.V. eine Todesfallstatistik. Der Verband plädiert für eine öffentlich einsehbare Statistik aller Todesfälle während und 12 Monate nach psychiatrischer Behandlung. Der 12-Monatszeitraum ist aus 2 Gründen erforderlich:
a) viele PatientInnen werden bei lebensbedrohlichen Komplikationen auf die Intensivstation verlegt,
b) viele Suizide finden direkt nach stationärer psychiatrischer Behandlung statt.

Zahlreiche Studien belegen bereits, dass die Lebenserwartung psychiatrisch Behandelter drastisch verkürzt ist. Die deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) spricht in ihrem "Memorandum zur Anwendung von Neuroleptika" von 20 bis 25 Jahren.1 Sowohl die sichtbaren (Katatonie, Tremor, Akinesie, Stupor, sabbern, glasiger Blick, Fettleibigkeit, Trägheit etc.) als auch die unsichtbaren (Diabetes, Herz-Kreislaufstörungen, Niereninsuffizienz, Magen- und Darmerkrankungen, Atemwegserkrankungen etc.) Wirkungen der Psychopharmaka sind kein Geheimnis mehr.

Auch die Begriffe "natürlicher Wille" und "Einwilligungsfähigkeit" sind schwer zu fassen. Die "Einwilligungsfähigkeit" muss im Medizinrecht nicht nur situativ festgestellt werden sondern hängt auch von der Aufklärung des Arztes ab. Es ist denkbar, dass ein und derselbe Mensch eine äußere Operation an seiner Hand nachvollziehen und entsprechend wirksam einwilligen kann, während er geistig nicht in der Lage ist, Art und Tragweite einer inneren Operation, z.B. am Herzen, zu begreifen. So wäre er im einen Falle einwilligungsfähig, im anderen nicht. Da die wirksame Einwilligung außerdem von der Aufklärung des Arztes abhängt, ist auch denkbar, dass ein Mensch bei zwei unterschiedlichen Ärzten einwilligungs- bzw. nicht einwilligungsfähig wäre.

Mit dem neuen Betreuungsrecht wurde diese bisher zumindest theoretische Grundlage eines durchaus komplexen Sachverhaltes gebrochen. Einwilligungsfähigkeit ist nicht mehr vom Kontext abhängig, sondern zu einem Faktum geworden, welches einer Person wie ein Stigma eingebrannt werden kann. Die mit dem Label "psychisch krank" versehenen Menschen werden, sobald sie der Behandlung widersprechen, ohne Umschweife als unmündig erklärt, als wäre dies dem nicht folgsamen Menschen inhärent.

Absatz 2 (§1906 BGB) bezieht sich genau darauf. Wird der Betroffene von der Notwendigkeit der Behandlung überzeugt, stimmt also zu, so bedarf es keiner besonderen gerichtlichen Genehmigung, er wird als einwilligungsfähig betrachtet. Lässt er sich hingegen nicht überzeugen, so legitimiert ein spontaner Entzug der Entscheidungsfähigkeit höhere Gewalt.

In solch einer Situation, in der einem Menschen ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit unter Zuhilfenahme von Zwang und Gewalt droht, hat dieser genau zwei Möglichkeiten: Entweder er fügt sich dem Geschehen in erpresster Freiwilligkeit oder er lehnt sich auf und wird damit für sein Umfeld unbequem.

In Absatz 4 (§ 1906 BGB) wird besonders deutlich, dass es bei der psychiatrischen Behandlung nicht allein um medizinisch relevante Eingriffe geht. Sollte tatsächlich eine medizinisch behandlungsbedürftige Krankheit bestehen, so bleibt fraglich, wie dieser mit "anderen Mitteln" als mit medizinischen entgegnet werden kann. Schließlich sprechen wir hier von Zwangsbehandlung im medizinischen Sinne. Wie kommt es, dass hier plötzlich gedanklich andere Mittel zulässig sind? Ist die Krankheit vielleicht doch nicht unbedingt behandlungsbedürftig? Geht es hier vielleicht doch darum, unbequeme Menschen zu disziplinieren? Wenn nicht sogar um rein menschliche Fragen wie essen, trinken, schlafen, frische Luft, Bewegung? Oder welche anderen Maßnahmen könnten gemeint sein? Und stellt dieser Punkt nicht wiederum das ganze Konstrukt in Frage, welches mit der neuen Gesetzgebung plötzlich manifestiert sein soll?

Auch die verfassungsrechtlich genehmigungsfähige Grundlage fehlt bei dem neuen Gesetz weiterhin. Mit der Betreuungsrechtsänderung wurde der Widerspruch der Sondergesetzgebung gegen "psychisch Kranke" nicht aus der Welt geschafft:

Unsere Grundrechte können durch andere Gesetze eingeschränkt werden. Diese müssen wiederum für alle gelten. So kann z.B. jeder Mensch für gewisse Straftaten verurteilt und mit Freiheitsentzug bestraft werden (Nicht zwangsbehandelt, das wäre Folter! Die körperliche Unversehrtheit gilt in unserer Verfassung gegenüber der Freiheit der Person als höheres Gut). Es darf gemäß unserer Verfassung keine Sondergesetze geben, welche die Grundrechte bestimmter Personengruppen, wie z.B. religiöser Minderheiten, homosexueller oder behinderter Menschen einschränken. Und trotzdem gibt es Sondergesetze, die nur für "Psychisch Kranke" gelten. Zum Verständnis: Es ist legitim und notwendig, Sondergesetze zu schaffen, die Begünstigungen für benachteiligte Menschen festlegen. Das schreibt auch die UN-Behindertenrechtskonvention vor, damit alle Menschen an dieser Gesellschaft uneingeschränkt teilhaben können. Aber die Grundrechte einer definierten Gruppe einzuschränken ist verfassungswidrig, sonst sind wir eben doch nicht alle vor dem Gesetz gleich.

Ein häufig angewandtes Argument für die Unterbringungsgesetze ist auch, dass wir ein Gefahrenabwehrgesetz brauchen, damit Menschen, die eventuell gefährlich werden könnten, der öffentlichen Gesellschaft entzogen werden. Sollte es tatsächlich ein Anliegen sein, Menschen vorzuverurteilen, dann muss dieses Gefahrenabwehrgesetz für alle gelten, nicht nur für sogenannte "psychisch Kranke". Aber dann würden statt 200.000 etwa 2 Millionen Menschen jährlich willkürlich und unschuldig ihrer Freiheit und körperlichen Unversehrtheit beraubt.

Dann würde auch keiner mehr behaupten, der Zwang geschähe zum Wohle der Betroffenen, um eine Krankheit zu lindern. Einige Unterbringungsgesetze (PsychKG) erlauben beispielsweise eine Zwangsbehandlung bei der Gefährdung bedeutender Rechtsgüter anderer. Auch an dieser Stelle wird offenbar, dass es sich bei dem erzwungenen und häufig mit Gewaltanwendung verbundenen "medizinischen" Eingriff um eine Disziplinierungsmaßnahme handelt.

Endnoten

  1. www.dgsp-ev.de/fileadmin/dgsp/pdfs/Flyer_Infoblatt_KuFo-Programme_Broschueren/Broschuere_Neuroleptika_2012_web.pdf

Autorin

Miriam Krücke
kontakt-info@bitte-keinen-spam-bpe-online.de

Miriam Krücke ist aktives Mitglied und Geschäftsstellenleiterin im Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (www.bpe-online.de), der sich unter anderem für die rechtliche Gleichstellung und den Ausbau alternativer nichtmedizinischer Hilfen für Menschen mit sozialen und psychischen Problemen einsetzt.



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