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Seid realistisch: Fordert das Unmögliche

Rolf Rosenbrock
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 15 (2010), Ausgabe 3]


Be Realistic: Demand the Impossible

Die Münchner Erklärung zur Gesundheitsförderung der GGFP (2009) enthält in prägnanter Form das verfügbare Wissen über die individuellen, gruppenbezogenen, sozialräumlichen und politischen Bedingungen von Gesundheit und die Instrumente ihrer Erhaltung bzw. Förderung. Sie kann als wissensbasierter Leitfaden zur Gestaltung einer gesundheitsgerechten Gesellschaft gelesen und genutzt werden. Damit hebt sie sich wohltuend ab von der schier unendlichen Flut von Papieren, die gesundheitswissenschaftliche Befunde je nach Akteurinteressen und aktuellen politischen Opportunitäten selektieren, verstümmeln oder verfälschen.

Fachlich besonders hervorzuheben ist das Verständnis zum Verhältnis zwischen Gesundheitsförderung und Prävention. Zu Recht wird primär auf die Förderung von individuellen Gesundheits- und Widerstandsressourcen sowie auf gesellschaftliche Bedingungen ihrer Entfaltung und Erhaltung abgehoben. Zielgruppengerechte Ansätze zur Minderung der Eintrittswahrscheinlichkeit spezifischer Erkrankungen sollen hinzu treten - als Ergänzung.1 Diese Gewichtung - mit der Priorität für Ressourcenförderung, aber unter Berücksichtigung auch der Belastungssenkung - entspricht dem Stand des gesundheitswissenschaftlichen Wissens und formuliert gegenüber dem vorherrschenden, letztlich krankheitsorientierten Leitbild der Prävention den notwendigen Widerpart.

Also alles nur prima? Nicht ganz.

Probleme ergeben sich daraus, dass die 'Münchner Erklärung' zur Lösung all der prägnant umschriebenen Probleme ein 'Gesundheitsförderungsgesetz' vorschlägt. Die an ein solches Gesetz (und damit an die Regelungsfähigkeit des Staates bzw. an die Bindungskraft staatlicher Normen) geknüpften Erwartungen sind selbstverständlich irreal: Das mit der Erklärung vorgeschlagene Gesetz soll durch Setzung von Rahmenbedingungen Autonomie, Selbstbestimmung und Handlungsfähigkeit, v. a. durch die Entwicklung von Widerstandsressourcen auf individueller Ebene, im sozialen Nahraum sowie auf der gesellschaftlichen Ebene fördern; letztlich geht es um die Überwindung von materieller und Bildungs-Armut, um die Schaffung von Verwirklichungschancen unter Berücksichtigung von diversity und Lebenslaufperspektive etc.

Da die Autoren der Erklärung als ernsthafte Forscher, Lehrer und Intellektuelle bekannt sind, kann dieses 'Programm' für ein Bundesgesetz nur als didaktischer Kniff interpretiert werden, mit dem die LeserIn zum Nachdenken über zwei Probleme gebracht werden soll.

Zum einen, durch welche Politiken denn die sozialen Determinanten von Gesundheit in Richtung auf Besserung verändert werden könnten und welche Rolle der Staat als Gesetzgeber dabei spielen kann bzw. könnte. Dass dies mehr sein könnte als die Delegation der Aufgabe an die Gesetzliche Krankenversicherung (§ 20 SGB V) zur symbolischen Bearbeitung unter entgegen wirkenden Anreizstrukturen, steht außer Zweifel. Der Ansatz der Präventionsgesetzes von 2005 (das auch gerne Gesundheitsförderungsgesetz hätte heißen können) ging darüber hinaus: Es sollten die Gesundheitsförderungs-/Präventionsanstrengungen aller öffentlich-rechtlichen Akteure nach einheitlichen Rahmenregeln auf Gesundheitsziele gerichtet, finanziert und in ihrer Qualität entwickelt und gesichert werden. Das wäre - bei allen Schwächen des Gesetzentwurfes - ein echter Fortschritt gewesen, hätte aber nach wie vor den gesamten Bereich der 'impliziten Gesundheitspolitik' (Politik 'außerhalb der unmittelbaren Zuständigkeit der für Gesundheit verantwortlichen Ressorts' (Ziff. 8, S. 6)) ungeregelt gelassen (weil er auch allein staatlich nicht zu regeln ist).

Zum andern aber ist die 'Münchner Erklärung…' auch deshalb so wichtig, weil sie (mit der gespielten Naivität der Gesetzesgläubigkeit) mit klaren, einfachen und konzisen Definitionen und Ableitungen darauf aufmerksam macht, dass der größere Teil des Problems der sozial bedingten Ungleichheit durch Gesetze und jene Bereiche von Gesundheitspolitik, die nach gängiger Konvention heutzutage unter dieser Überschrift betrieben werden, eben nicht zu fassen ist. Dass also diejenigen, denen es um mehr als die inkrementale Weiterentwicklung im Rahmen bestehender Zuständigkeiten und Handlungslogiken, nämlich - realistisch - um Gesundheit geht, das Unmögliche fordern müssen.

Endnote

  1. Das Papier spricht hier (und nur hier) von der 'Minderung von Gesundheitsrisiken' (Ziff. 1, S. 2). An diesem Punkt sehe ich die einzige begriffliche Unschärfe der Münchner Erklärung: Bei der 'Minderung von Gesundheitsrisiken' geht es um die Senkung von Eintrittswahrscheinlichkeiten. Diese aber wird keineswegs nur durch spezifisch ansetzende Prävention erreicht. Die Eintrittswahrscheinlichkeit einer speziellen Krankheit oder von Krankheit überhaupt ist vielmehr stets das Produkt der Balance bzw. Disbalance von Gesundheitsbelastungen und gesundheitsrelevanten Ressourcen. Infolgedessen zielt auch die Mehrung von gesundheitsrelevanten Ressourcen (und damit die Gesundheitsförderung) auf die Minderung von Gesundheitsrisiken (und damit auf Prävention im Sinne einer Minderung der Eintrittswahrscheinlichkeit) - eben weil sie die Balance zwischen Belastungen und Ressourcen und damit auch die Eintrittswahrscheinlichkeit von Erkrankung beeinflusst. Die sehr weit verbreitete semantische Verknüpfung von 'Gesundheitsrisiko' mit gesundheitlichen Belastungen verdankt sich wahrscheinlich der Wahl des Terminus 'Risikofaktor' durch die gleichnamige Medizin der 1970er: auch dort ging es ja tatsächlich nicht um Risikofaktoren, also um Faktoren die das Risiko - positiv oder negativ - beeinflussen, sondern um Belastungsfaktoren, also Faktoren, die das Risiko erhöhen. Diese Entwicklung hat es erschwert, den im Kern simplen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen, dass Primärprävention immer Risikosenkung ist, und dass wirksame Risikosenkung in aller Regel sowohl Belastungssenkung als auch Ressourcenförderung (Gesundheitsförderung) umfasst. Die strikte Trennung zwischen Belastungen und Ressourcen (und die Unterscheidung darauf bezogener Interventionen in 'Prävention' und 'Gesundheitsförderung') versperrt auch häufig die Einsicht, dass 'Belastung' und 'Ressource' oftmals nur unterschiedliche Punkte auf ein und derselben Skala bezeichnen (z.B. Ausgrenzung/Einsamkeit vs. Inklusion/soziale Vernetzung; oder Unterforderung - Herausforderung - Überforderung).

Autor

Prof. Dr. rer. pol. Rolf Rosenbrock
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Jg. 1945, Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitswissenschaftler, ist Leiter der Forschungsgruppe Public Health im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und lehrt Gesundheitspolitik u.a. an der Berlin School of Public Health in der Charité Berlin. Seine wichtigsten Themen sind sozial bedingte Ungleichheiten von Gesundheitschancen, Präventionspolitik, Betriebliche Gesundheitsförderung sowie Steuerung und Finanzierung der Krankenversorgung. Er betreibt seit den 70er Jahren Gesundheitsforschung, Lehre und Politikberatung und war bzw. ist u.a. Mitglied im Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR - G) (1999 - 2009), Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (seit 2002), Vorsitzender der Landesvereinigung Gesundheit Berlin-Brandenburg e.V. (seit 2006) und war Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH) (2006 - 2008).
Jüngste Buchpublikationen:
Rosenbrock, R. & Michel, C. (2007). Primäre Prävention, Bausteine für eine systematische Gesundheitssicherung, Berliner Schriftenreihe Gesundheitswissenschaften, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin.
Rosenbrock, R. & Gerlinger, Th. (2006). Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung, 2., vollst. überarb. u. erw. Auflage. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber.



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