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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 23 (2018), Ausgabe 1]


Alles machbar, Herr Nachbar?
Vom Ausloten der Grenzen der Machbarkeit

Von der Kinderwunschbehandlung über Pränataldiagnostik, Transplantationsmedizin und plastische Chirurgie bis hin zu lebensverlängernden Maßnahmen könnte unsere gesamte Lebensspanne inzwischen unter dem Prinzip der Machbarkeit gesehen werden. Es scheint, als könnten wir uns als Menschen "machen" und optimieren. Doch die Grenzen zwischen Machbarkeitsideen und Machbarkeitswahn scheinen fließend zu sein. Hinter Vorstellungen von permanenter Expansion und zwanghaftem Wachstum lauern - emotional und interpersonell - riskante Konsequenzen für das Subjekt.

Machbarkeit suggeriert die Bewältigung von Leid und Ohnmacht; es scheint sich der Traum zu erfüllen, dem Schicksal durch technologische Kontrolle "Herr zu werden". So hoffen wir, von der Herausforderung entbunden zu werden, Leid und Verzicht ertragen zu müssen. Wir werden zum Objekt des Möglichen.

Der Hang (oder Druck) zur persönlichen Selbstoptimierung und Selbstüberschätzung wirkt wie die notwendige Begleiterscheinung zu den grenzenlos scheinenden technologischen Möglichkeiten. Die psychischen Korrelate zum "Immer weiter, immer höher, immer besser, immer schneller" sind die Angst vor dem Scheitern, dem unerfüllten Anspruch und die Erschöpfung. Unter dem Titel "Sind Arbeitnehmer in Deutschland zunehmend erschöpft?" berichtet die FAZ am 5. Mai 2018 von einer Zunahme überlastungs- und erschöpfungsbedingter Krankheitstage bei deutschen Arbeitnehmern auf 30,53 Mio (zum Vergleich 2012: 19,97 Mio Fehltage). Die Zeitung beruft sich dabei auf Angaben des Bundesgesundheitsministeriums: "Besonders stark gestiegen seien die Zahlen bei Belastungs- und Anpassungsstörungen" (FAZ, 05.05.2018).

Anything goes? Wahrscheinlich. Aber zu welchem Preis? Diese Frage wird aus unterschiedlichen Perspektiven und in Bezug auf vielfältige Themenfelder im Heft beleuchtet.

Kritisch setzt sich Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHeiner Keupp mit den aktuellen Umbrüchen in der Arbeitswelt 4.0 auseinander, in der sich gewachsene Arbeitsstrukturen zunehmend auflösen mit der Folge, dass der Einzelne als gefordertes Subjekt flexible und optimale Lösungen suchen muss, um in dieser Leistungsgesellschaft bestehen zu können. Häufig folgen diesen Selbstoptimierungsversuchen Erschöpfung und Burn-out. In einer (Arbeits)-Gesellschaft, die in Bezug auf sich selbst keine Grenzen akzeptiert, wird dem Einzelnen immer mehr abverlangt, wobei es kein Regulativ zu geben scheint, das dieser Dynamik Einhalt gebieten würde.

Um sich selbst zu optimieren und seinen eigenen Leistungserwartungen und Ansprüchen (im Sinne eines Ich-Ideals) zu genügen, bedient sich das Individuum einer immer ausgefeilteren technologischen, v.a. digitalen Unterstützung. Personalisierte Geräte wie Alexa, Navi, Smartphone und digitale personal coaches bestimmen unser Leben; sie vermessen uns, geben den Takt unseres Alltags vor und versprechen die Optimierung unseres Dasein und unseres Selbst. Doch wie verändert diese Mensch-Maschine-Verschränkung unser Er-Leben, unsere Wahrnehmung, unsere Kommunikation und unser Verhalten? Diese Fragen behandelt Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterTamara Musfeld in ihrem Beitrag aus einer psychodynamischen Perspektive. Dabei beschreibt sie unter anderem, wie sich technologische Entwicklungen auf Gefühle von Scham und Kontrolle auswirken können, wenn Kinder schon früh die Erfahrung machen, dass Wünsche und Bedürfnisse immer sofort erfüllbar sind und dadurch inzwischen auch bei Erwachsenen die Erwartung entsteht, dass Gefühle wie Enttäuschung und Entsagung nicht mehr Teil des psychischen Repertoires sein müssen.

Als klassisches Beispiel einer Machbarkeitsphantasie lässt sich die Kinderwunschbehandlung konzipieren. Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAnnette Tretzel berichtet exemplarisch von einem Fall aus ihrer Praxis als Psychologin in einer Beratung für Paare mit Kinderwunsch. Hierbei beschreibt sie, wie medizinische und gesellschaftliche Implikationen von Machbarkeit auf die Subjektebene abgewälzt werden und das "Paar" mit den diesbezüglichen Entscheidungen und Konsequenzen alleingelassen wird. Tretzel schließt mit der Einschätzung, dass Beratung unter einer gemeindepsychologischen Perspektive zur Entlastung Betroffener und zur Entwicklung alternativer Lösungen beitragen kann.

Auch Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterOlena Besserer beleuchtet ein medizinisches Machbarkeitsthema, nämlich jenes der ästhetischen Chirurgie, die seit Jahren in einem immer höheren Ausmaß zur Anwendung gebracht bzw. genutzt wird. Mit einer technologischen Praxis, die das menschliche Aussehen beeinflussen und optimieren kann, geht das Versprechen einer Angleichung an das äußere (und innere?) Ich-Ideal einher. Doch wer bestimmt über dieses Ideal und wie wird unsere Identität durch Machbarkeitsphantasien, die von den Möglichkeiten der ästhetischen Chirurgie evoziert werden, verändert? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Psychologin auf der Basis ihrer eigenen empirischen Arbeit.

Eine Kritik an psychotherapeutischen Machbarkeitsvorstellungen nimmt Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterJulia Gebrande in ihrer Auseinandersetzung mit allzu mechanistischen Vorstellungen von Traumabewältigung vor. Durch verbreitete Praxen der Pathologisierung und Medizinisierung entstehe der Eindruck, dass die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse regelhaft in behandelbare Kategorien zu pressen seien. Gebrandes Kritik begründet sich unter anderem durch die Einschätzung, dass traumatisierende Geschehnisse und deren Folgen auch im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen gesehen werden müssen. Bewältigung erfordert daher auch die Zuschreibung gesellschaftlicher und politischer Verantwortung und die umfassende Erweiterung einer Perspektive, die allein auf individuell konzipierte Belastungssymptome fokussiert.

Die Beiträge zeigen, dass eine fundierte Kritik an Machbarkeitsvorstellungen produktiv in dem Sinne ist, als sie Weiterentwicklungspotenziale sozialer und technologischer Praxen offenlegt. Es geht dieser Kritik nicht darum, dem Machbaren das "Nicht-Machbare" entgegenzusetzen, sondern es in Einklang zu bringen mit psychischer Gesundheit und einem respektvollen und wertschätzenden sozialen Miteinander.

Cornelia Caspari & Peter Mosser
Herausgeber für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

Literatur

FAZ (05.05.2018). Verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/immer-mehr-krankheitstage-wegen-ueberlastung-15575203.html [13.05.2018].



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