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Editorial

Cornelia Caspari & Peter Mosser
[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 25 (2020), Ausgabe 1]


Evidenzbasierung - Was halten wir für evident?


Der Versuch der Etablierung evidenzbasierter Wirksamkeitsforschung in der Medizin, Psychologie, Psychotherapie und auch in der Sozialen Arbeit schließt an eine alte erkenntnistheoretische Diskussion an, die um die Frage kreist, wie Wissen überhaupt generiert werden kann und wie die Erzeugung von Wissen gesellschaftlich kontextualisiert wird (z.B. Adorno, 1970).

In der Medizin wird seit Anfang der 1990er Jahre die Forderung formuliert, Behandlungen im Rahmen von Leitlinien zu standardisieren, die auf Daten beruhen, deren Genese einer bestimmten wissenschaftlichen Logik folgt. Die Erhebung und Auswertung solcher Daten wurde von Anfang an durch die rasch fortschreitende Digitalisierung unterstützt. Die höchste Evidenz besitzen dabei die Ergebnisse aus so genannten prospektiv-randomisierten Studiendesigns, die vor allem bei pharmazeutisch-klinischen Doppelblindstudien Anwendung finden. Medizinische Entscheidungen gründen daher zunehmend auf objektivierbaren Daten und weniger auf einem ärztlichen Erfahrungshintergrund (doctor knows best), was in einigen Bereichen zu einer Verbesserung von Behandlungen führte.

Doch hat dieses strenge Regime standardisierter Daten einen Paradigmenwechsel hervorgerufen, der auch seine Schattenseiten aufweist und schon seit Jahren kritisch diskutiert wird - ganz aktuell im Diskurs, in welcher Form das Psychotherapiestudium gelehrt werden soll (Benecke, 2019; Rief, 2019). Soll der Nachweis der Wirksamkeit von Psychotherapie allein auf einer medizinisch orientierten Evidenzforschung basieren, die zum einen im psychosozialen Bereich schwer durchzuführen ist und zum anderen dadurch theorielos wird?
Wir scheinen auch angesichts fortgeschrittener Verfahren der Evidenzbasierung von der "Anstrengung des Denkens" nicht befreit. Die Methoden der Evidenzbasierung bedürfen - gleichsam parallel - einer sich ständig weiterentwickelnden kritischen Reflexion. Diese drückt sich in bestimmten wissenschaftlichen Paradigmen ebenso aus wie in einer alltäglichen Berufspraxis, in der das angeblich Evidente in Zweifel zu ziehen ist.

So stellen wir uns im Themenheft "Evidenzbasierung" folgende Fragen: Inwieweit können bestimmte Studiendesigns eine disziplinübergreifende Geltung beanspruchen? Welche Daten werden durch sie gewonnen, welche Diskurse werden damit unterfüttert und welche verhindert? Welche Position nimmt dazu die Gemeindepsychologie ein?

Der einleitende Beitrag von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterManfred Zaumseil kann in mancher Hinsicht als eine Art Überblicksartikel über die hier zur Diskussion stehende Thematik gelesen werden. Zaumseil skizziert zunächst die historische Entwicklung des Evidenzbasierungsparadigmas in der Medizin, um dann die Übertragung bestimmter Begründungslogiken in den Bereich der psychosozialen Versorgung und der Psychotherapie kritisch zu reflektieren. Es werden Formen der Institutionalisierung beschrieben, die weit über die jeweiligen Disziplinen hinausreichen und zu Verstrickungen v.a. mit rechtlichen und ökonomischen Logiken führen. Zaumseils Überlegungen führen den Widerspruch zwischen dem Anspruch auf universale (d.h. auch kulturübergreifende) Gültigkeit bestimmter Evidenzparadigmen einerseits und den jeweiligen Bedarfen des konkreten Einzelfalls andererseits vor Augen.

Ein geradezu paradigmatisch anmutendes Beispiel für eine äußerst implikationsreiche Konstruktion von Evidenz beschreibt Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHans-Peter Michels im Zusammenhang mit der Entwicklung der sogenannten RDoc-Criteria durch das US-amerikanische National Institute of Mental Health (NIMH). Es geht dabei um nicht weniger als um die Ablösung der DSM-Logik durch ein Klassifikationssystem psychischer Erkrankungen, dessen Evidenz primär auf neurobiologischen Parametern basiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die Generierung großer Datenmengen zur Funktionsweise von Hirnschaltkreisen und deren psychische Korrelate. Michels arbeitet Zusammenhänge zwischen diesem Wissenschaftsparadigma und bestimmten wirtschaftlichen Interessen heraus und unterzieht die Vernachlässigung sozialer, alltagsbezogener und gesellschaftlicher Parameter im RDoc-Modell einer fundierten Kritik.

Probleme der Übertragbarkeit medizinischer Evidenzlogiken auf andere Handlungsfelder beschreibt auch Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAlex Stern in seinem Beitrag zur Entwicklung der S3-Kinderschutzleitlinien. Stern, der selbst an der Entwicklung dieser Leitlinien beteiligt war, weist nach, dass Kinderschutz nur in Form interdisziplinärer Zusammenarbeit funktionieren kann, sodass die Frage der Begründbarkeit professionellen Handelns im jeweiligen Einzelfall nicht allein auf ein medizinisches Evidenzverständnis rückführbar ist. Darüber hinaus kann auf der Ebene der Umsetzung der Leitlinien die unreflektierte Rezeption quantitativer Befunde zu einer Markierung und Stigmatisierung bestimmter "Risikogruppen" führen. Stern ermöglicht vielfältige Einsichten in solche Marginalisierungsdynamiken und verweist auf die Bedeutung der Transferkompetenz professionell Handelnder bei der Verwirklichung wirksamen Kinderschutzes.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterKlaus Fröhlich-Gildhoff und Rieke Hoffer beschäftigen sich in ihrem wissenschaftstheoretisch fundierten Beitrag mit methodologischen und methodischen Fragen der Begründbarkeit professionellen pädagogischen und psychologischen Handelns. Sie bleiben bei ihren diesbezüglichen Überlegungen nicht bei einer (präzise formulierten) Kritik an den epistemologischen Grenzen von RCT-Designs stehen, sondern beschreiben vielfältige methodische Zugänge, um den komplexen Anforderungen bei der Implementierung und Weiterentwicklung psychosozialer Praxis gerecht zu werden. Der Beitrag von Fröhlich-Gildhoff und Hoffer kann daher als Grundlagen- und Referenztext für die wissenschaftliche bzw. methodische Fundierung von Implementierungsvorhaben im psychosozialen Bereich gelesen werden.

Die exemplarische Darstellung einer praxisbezogenen Anwendung der Überlegungen von Fröhlich-Gildhoff/Hoffer liefern aus derselben Arbeitsgruppe Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterMaike Rönnau-Böse, Claudia Grasy-Tinius, Rieke Hoffer und Klaus Fröhlich-Gildhoff, indem sie die Wirkungen eines Qualifizierungsprojekts für Kindertagesstätten im Zusammenhang mit "herausforderndem Verhalten" der Kinder beschreiben. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass nachhaltige Wirkungen nur mit mehrdimensional implementierten Interventionen erzielt werden können, sodass sich entsprechend vielfältige Fragen an die Überprüfung der Wirksamkeit eines solchen Vorgehens ergeben. Im Kontrast zu komplexitätsreduzierenden RCT-Verfahren entfalten die Autor*innen ein gut nachvollziehbares methodisches Spektrum, um sowohl den inhaltlichen Ansprüchen ihres Projekts gerecht zu werden als auch die Wirksamkeit ihrer Interventionen entsprechend ihrer Komplexität abbilden zu können.

Der letzte Beitrag, ist ein Gastbeitrag, der außerhalb des übergeordneten Themas "Evidenzbasierung" in diese Ausgabe aufgenommen wurde. Dieser befasst sich unter dem Titel "Islam meets queer" mit dem gesellschaftlich hochbrisanten Thema, wie durch die Ermöglichung von Begegnungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen verzerrte Wahrnehmungen, Vorurteile und Wissensdefizite abgebaut werden können. Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterUlrich Klocke, Helen Landmann und Bernhard Heider vermitteln sehr konkrete Einblicke in ein Berliner Projekt, bei dem es um die Initiierung von Begegnungen zwischen LSBT-Personen und Muslim*innen ging. Neben der Darstellung ihrer Erfahrungen und deren sozialpsychologischer Einordnung geben die Autor*innen Hinweise für die Durchführung ähnlicher Veranstaltungen, die mit einiger Berechtigung als vorbildhaft bezeichnet werden könnten.

Als Fazit der hier vorliegenden Ausgabe lässt sich bilanzieren, dass uns sowohl grundlegende Referenztexte als auch fundierte Praxisdarstellungen zum Thema "Evidenzbasierung" vorliegen. Diese Beiträge sind im besten Sinne gemeindepsychologisch, weil sie etablierte Praxen und Techniken der Evidenzbasierung sowohl in ihrem Entstehungszusammenhang als auch mit ihren durchaus weitreichenden Implikationen beschreiben. Dabei wird deutlich, dass die Herstellung von Evidenz ebenso heterogen ist wie die Handlungsfelder, zu denen wissenschaftlich fundierte Begründungen beigesteuert werden. So gesehen lassen sich die vorliegenden Texte als Plädoyer gegen methodischen Reduktionismus und für die kritische Reflexion von Evidenz lesen.

Cornelia Caspari & Peter Mosser
Herausgeber für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

Literatur

Adorno, T. (1970). Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Benecke, C. (2019). Die Zukunft der Psychotherapieverfahren im neuen Psychotherapiestudium. Psychotherapeutenjournal, 18 (4), 393-401.

Rief, W. (2019). Mut zur Zukunft - und Gegenwart: Kompetenzorientierte Psychotherapie-Qualifikation. Ein Kommentar zur Stellungnahme von Cord Benecke. Psychotherapeutenjournal, 18 (4), 402-405.



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