[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 30 (2025), Ausgabe 1]
Einleitung
Als ich gefragt wurde, ob eine Ausgabe des Forums Gemeindepsychologie im Zeichen des Andenkens meiner Mutter im Sinne der Familie wäre, wusste ich, dass ich daran teilhaben möchte. Doch worüber schreibt man einen Artikel bezogen auf seine Mutter in einer Zeitschrift, die „gemeindepsychologisches Denken und Handeln in Wissenschaft, Praxis und Politik vertreten“ (Forum Gemeindepsychologie, o.J.) möchte? Ich kannte sie als Mutter, als Familienmenschen und als Freundin. Ihre wissenschaftliche und psychologisch-praktische Seite kenne ich nur aus Erzählungen. Eine Reise begann durch die Biographie meiner Mutter auf der Suche nach einem Ansatzpunkt. Einer Stelle, an dem sich diese Sphären ihres Lebens verknüpften. Ich durchforstete kistenweise Dokumente, auf der Suche nach einer Spur. Ich muss dazu sagen, dass Luise alles aufhob, sehr zum Ärger meines Vaters und mir. Dennoch konnte ich in einem Stapel etwas entdecken, was die Grundlage dieses Textes bildet und Luise als herausragende Wissenschaftlerin und Praktikerin sowie fürsorgenden und liebenden Familienmenschen hervorhebt. Es handelte sich um Overhead-Folien für einen Vortrag über Elterngruppen in der Frühförderung (Behringer, 2002) sowie den Text für einen Vortrag auf dem Symposium Frühförderung „Beziehungen gestalten“ in Trier vom 1. bis 3. März 2001 (Behringer, 2001). Darunter auch ein Thesenpapier zu Elterngruppen in der Frühförderung von Eltern, die Luise begleitet hat und mit welchen ich bis heute noch Kontakt habe. Anhand Luises Tätigkeit in der Frühförderung, insbesondere in der Langau, möchte ich ihre Empowerment- und Netzwerkorientierung sowie ihre Stärke hervorheben Netzwerke zu spinnen, die ihre Wirkmächtigkeit bis heute und über sie hinaus entfalten.
Die Vortragsfolien und -verschriftlichung, eine Literaturrecherche, die mich bis in Luises Studienzeit zurückführte, sowie die Erinnerungen von Eltern einer der Familien der Elterngruppe bilden die Basis dieses Artikels. Die Familie wurde durch Luises Elternarbeit in der Frühförderung in der Langau und darüber hinaus über 20 Jahre lang begleitet. Sie kam 1995 nach der Geburt des zweiten Kindes mit einer komplexen Behinderung das erste Mal in die Langau. Ich kenne diese Familie seit Anfang der 2000er und bin mit dem zweitältesten Kind gut befreundet. Seit über zehn Jahren unterstütze ich diese Familie auch regelmäßig im Urlaub. Sie haben sich bereiterklärt ihre Erfahrungen schriftlich zu schildern. Grundlage ihrer Schilderungen waren ein kurzer Fragenkatalog, den ich ihnen zukommen ließ. Mit diesem wollte ich einen Einblick in ihre Perspektive auf Luises Elternarbeit gewinnen. Die biographischen Informationen zu Luise im Zusammenhang mit diesem Artikel basieren auf Erinnerungen meinerseits sowie der Veröffentlichung der gekürzten Trauerrede von Christine Klein (2024) (Vorsitzende des Aufsichtsrates der Langau) auf der Akademischen Trauerfeier für Luise Behringer am 25.1.2024 an der Hochschule in Benediktbeuern.
Elternarbeit in der Frühförderung nach dem Langauer Modell
Nach ihrer Promotion arbeitete Luise Ende der 1990er Jahre als Psychologin in der Arbeitsstelle Frühförderung in München. Um diese Zeit herum entstand dort eine Kooperation mit der Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V. Die Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V. ist ein gemeinnütziger, 1965 gegründeter und dem Diakonischen Werk der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayern angehöriger Verein. Die Räumlichkeiten der Langau werden als ein barrierefreies Tagungs- und Gästehaus betrieben. Dort finden Veranstaltungen, Freizeitprogramme und Seminare oder Tagungen statt, die von den Gästen in Eigenregie oder von der Langau veranstaltet werden. Anhand der drei pädagogisch geleiteten Arbeitsbereiche der offenen Behindertenarbeit, Familienfreizeiten und pädagogisch-theologischen Angeboten möchte die Langau Menschen mit Behinderung und deren Familien direkt ansprechen. Die Arbeit in der Langau ist hauptsächlich über Ehrenamtliche organisiert, die von einem kleinen Team hauptamtlicher Referent*innen koordiniert ist (vgl. Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V., o. J.). Das Vorhaben der Kooperation zwischen der Arbeitsstelle Frühförderung und der Langau orientierte sich an der Grundidee, Eltern von Kindern mit Behinderungen frühzeitig in ihrer Selbsthilfe und Selbstorganisation zu fördern und sie dabei zu begleiten. Der damalige Elterngruppenreferent der Langau, Wolfgang Ursel, organisierte in Zusammenarbeit mit Dr. Sabine Höck, Leitung der medizinischen Abteilung der Arbeitsstelle Frühförderung, 1996 eine erste Begegnungsveranstaltung in der Woche nach Ostern. Diese Woche war ein voller Erfolg und sollte noch viele Jahre weiterbestehen. Nach zwei Jahren übergab Sabine Höck das Projekt an Luise und eine langjährige Kooperation zwischen der Langau und Luise entstand.
Die Elternarbeit von Luise und Wolfgang orientierte sich konzeptionell an der eigenverantworteten Elternarbeit nach dem Langauer Modell (Böhm & Kardorff, 1989a, 1989b). Die Eltern beschreiben die Elternarbeit in der Osterwoche wie folgt:
„Wir haben die Arbeit von Wolfgang und Luise als wertvoll, hilfreich und bereichernd erlebt. Sie haben moderiert, Gespräche angeregt, für die Betreuung unserer Kinder gesorgt, so dass wir Eltern ungestört reden konnten.“ (Eltern)
Laut des Konzepts soll die eigenverantwortete Elternarbeit zur gegenseitigen Unterstützung von Eltern anregen sowie bei der Entfaltung der Kompetenzen und bei der Bewältigung der vielseitigen Belastungen verbunden mit der Geburt und Erziehung eines Kindes mit Behinderung unterstützen (Böhm & Kardorff, 1989b). Die eigenverantwortete Elternarbeit stellt im Gegensatz zur in der Frühförderung häufigen Fokussierung auf die Behinderung des Kindes den ganzen familiären Lebenszusammenhang in den Mittelpunkt und geht davon aus, dass Eltern grundsätzlich in der Lage sind ihre Kinder angemessen zu unterstützen (Böhm & Kardorff, 1989a). Effekte eigenständiger Elternarbeit sind ein positives Gefühl des in-der-Welt-Seins, die Förderung von Wissen und Können, das zu einem kritischen und analytischen Verständnis der sozialen und politischen Umwelt führt, sowie Stärkung von Fähigkeiten, Strategien und Ressourcen, um persönliche und gemeinschaftliche Ziele zu erreichen (Behringer, 2002).
Das Ziel eigenverantworteter Elternarbeit ist Empowerment der Eltern und Ermächtigung zur Selbsthilfe. Empowerment soll dazu führen, dass die Macht im Hinblick auf Selbstbestimmung über das eigene Leben etwas gerechter verteilt wird (Berger & Neuhaus, 1977; zit. n. Behringer, 2002). “Nicht die professionellen Helfer sollen bessere Lebensbedingungen für ihre Klient[*inn]engruppen erstreiten, sondern sie darin unterstützen, es selbst zu tun“ (Rappaport, 1985; zit. n. Behringer, 2002), da hilfesuchende Personen neben ihren Problemen immer auch Lösungen für diese mitbringen (Thiersch, 1997; zit. n. Behringer, 2002). Die Begegnungswoche nach Ostern bot gemäß des Empowermentprinzips für die Eltern Raum und Unterstützung, sich mit Bedürfnissen und Fragestellungen auseinanderzusetzen (Ursel, 2000), während die Kinder mit und ohne Behinderungen durch ehrenamtliche Betreuer*innen versorgt wurden. In den Worten der Eltern ermöglichte die Woche nach Ostern in der Langau
„Begegnung[en] mit Menschen, die in der gleichen oder einer ähnlichen Lebenssituation sind. Jede Familie hat mindestens ein Kind mit Behinderung. Die mittlerweile erwachsenen Kinder sind zwar sehr verschieden, doch die Probleme, Fragen und Nöte der Eltern ähneln sich. Wir können offen miteinander reden, ohne Dinge zu beschönigen. Wir können Erfahrungen austauschen und voneinander lernen.“ (Eltern)
Die Frühförderung soll dabei unterstützen. Die Eltern beschreiben, dass sie über eine Frühförderstelle in die Langau kamen:
„Eine Sozialarbeiterin der Frühförderstelle in der [Kinderklinik] hatte uns auf die Langau aufmerksamen [sic!] gemacht – konkret auf die Begegnungswochen für Familien mit Kindern in der Frühförderung.“ (Eltern)
Luise beschreibt in ihrem Vortrag, dass „Selbsthilfe […] nicht von selbst [entsteht], sie bedarf eines Katalysators, der die Entstehung unterstützt“ (Behringer, 2001, S. 9). So soll auch über den Zugang hinaus „Frühförderung […] im Sinne der Empowermentperspektive förderliche Bedingungen für die Entstehung von [Elternselbsthilfe] schaffen“ (Behringer, 2001, S. 9). Es braucht institutionelle und professionelle Ressourcen zur Bildung von Zusammenarbeit. Der Fachkraft kommt dabei eine bedeutende Rolle zu. Sie muss anregen, ohne zu sehr einzugreifen. Ferner muss sie gewillt sein, Risiken einzugehen und sich selbst miteinzubringen.
„Gut, dass wir einander haben“2
Bis hierher konnte ich darstellen, dass es sich bei der eigenverantworteten Elternarbeit und Elterngruppe um ein Empowerment förderndes Modell handelt. Ein weiterer Grundgedanke ist die Vernetzung von Eltern (Böhm & Kardorff, 1989a),
„…, weil es im Alltag wenige Möglichkeiten gibt, sich über all dies mit anderen Familien auszutauschen.“ (Eltern)
Eltern von Kindern mit Behinderung suchen in Elterngruppen Menschen mit der gleichen Lebenswirklichkeit (Behringer, 2002). Sie hoffen darüber Solidarität, konkrete Hilfe, Orientierung, Maßstäbe und eine neue Normalität zu finden. Entscheidend für die Tragfähigkeit und Qualität, d.h. die Hilfestellung von Elterngruppen, ist der Beziehungsaspekt und nicht der Zielaspekt (Behringer, 2002). Durch eigenverantwortete Elternarbeit erweitern sich die sozialen Beziehungen in quantitativer sowie qualitativer Hinsicht (Behringer, 2001). Einerseits lernen die betroffenen Familien in der Elternarbeit neue Familien kennen. Ferner entsteht zu anderen Familien in der gleichen Situation schneller das Gefühl von Nähe. Darüber hinaus werden Gefühle und Probleme thematisiert, die gegenüber anderen Personen wahrscheinlich nicht geäußert werden. Aber auch die schon bestehenden Beziehungen können sich verändern, indem sich die Familien sicherer und stärker fühlen und dadurch Druck aus anderen Beziehungen genommen werden kann.
Die Funktion von Elterngruppen ist über das Empowerment hinaus das Bilden und Stärken sozialer Netzwerke. Ein soziales Netzwerk kann man als weites Feld wechselseitiger Beziehungen beschreiben (Keupp, 1987; zit. n. Böhm & Kardorff, 1989b). Sie sind die Muster sozialer Beziehungen, in die ein Individuum eingebunden ist, und erfüllen verschiedene Funktionen (Mitchell & Trickett, 1980; zit. n. Behringer, 2002). Sie bieten unter anderem die Gelegenheit für (a) sozialen Umgang im Sinne der gemeinsamen Teilhabe an Freizeit- und sozialen Aktivitäten, welche positive Gefühle vermitteln und gegebenenfalls von Problemen ablenken. Weiter können Subjekte durch diese Beziehungen (b) emotionale Unterstützung erhalten. Die gegenseitige Vermittlung von Verständnis kann das Gefühl geben, angenommen und geschätzt zu sein. Sie stellen darüber hinaus spezifische Unterstützung wie Geld oder Kinderbetreuung bereit, d.h. sie bieten (c) materielle Hilfe. Ferner fördern soziale Netze eine (d) kognitive Orientierung. Durch die wechselseitige Klärung von Erwartungen, den Zugang zu Informationen und das Vermitteln von Rollenmodellen für spezifische Lebenssituationen können Bewältigungsmöglichkeiten in einer Situation beeinflusst werden. Zusammenfassend haben soziale Netzwerke eine Unterstützungs- sowie Bezugs- und Kontrollfunktion (vgl. Mitchell & Trickett, 1980; zit. n. Behringer, 2002). Bei sozialen Netzwerken können natürliche und künstliche Netzwerke differenziert werden (Behringer, 2002). Natürliche Netzwerke sind ein „Kreis von Personen, zu denen jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt eine soziale Beziehung unterhält“ (Straus, 1990, S. 497). Bei einem künstlichen Netzwerk hingegen handelt es sich um „einen Personenkreis, der erst aufgrund einer bestimmten [professionellen] Intervention zustande kommt“ (ebd.). Neue Beziehungen über eine Gruppe an einer Beratungsstelle sind ein Beispiel dafür. Die eigenverantwortete Elternarbeit im Sinne des Langauer Modells hat Netzwerkförderung zum Ziel und soll die Entwicklung künstlicher Netzwerke bestärken. Dadurch können Eltern im Sinne der Netzwerkperspektive emotionalen Halt oder praktische Hilfe erfahren, mit Familien in einer ähnlichen Lebenssituation Freizeitaktivitäten planen und durch den Erfahrungsaustausch ein größeres Selbstbewusstsein entwickeln (Böhm & Kardorff, 1989b).
So erwiesen sich auch Luises und Wolfgangs Bemühungen als stark beziehungs- und netzwerkorientiert, da
„Beide [versucht haben], den Vernetzungsgedanken zu fördern, also dafür zu sensibilisieren und anzuregen, dass wir Familien auch über die Osterwoche hinaus in Verbindung bleiben und uns auch zu Hause mit unseren Erfahrungen gegenseitig helfen können.“ (Eltern)
Und das nicht nur innerhalb der Gruppe der Eltern, sondern auch darüber hinaus und in Luises eigenes Privatleben hinein. Fuhr Luise im ersten Jahr noch alleine in die Langau, so war schnell die ganze Familie eingebunden. Mein Vater wurde als Kletterlehrer akquiriert, um mit den Eltern klettern zu gehen. Wir Kinder, d.h. mein Bruder, Freund*innen von mir und ich, fuhren anfangs noch als Betreute mit, brachten uns über die Jahre aber selbst als Betreuer*innen ein.3 So entstanden Bekanntschaften und Freundschaften, die bis zum heutigen Tag fortbestehen. Nach dem Tod von Luise boten diese Familien meinem Vater, Bruder und mir Rückhalt, indem sie sich bei uns meldeten und uns zu verstehen gaben, dass auch sie für uns da sein werden. Erst vor kurzer Zeit verbrachte ich mit einer dieser Familien zwei Wochen an der Nordsee, um sie in ihrem Urlaub zu unterstützen. Wie ich sind die Familien
„Mit vielen der Familien [...] bis heute befreundet, auch wenn die Kinder mittlerweile erwachsen sind. Es sind stabile Beziehungen entstanden, die wichtig sind für uns und unsere Kinder bis heute.“ (Eltern)
Hieran lässt sich exemplarisch erkennen, was aus der Forschung bekannt ist. Das durch die Elterngruppe angestoßene künstliche Netz kann sich zu einem natürlichen Netz weiterentwickeln (Keupp & Röhrle, 1987; zit. n. Böhm & Kardorff, 1989b). So entstanden aus der ursprünglich durch die Kooperation der Langau mit der Arbeitsstelle Frühförderung München initiierten Begegnungswoche an Ostern Treffen abseits der Langau. Die Eltern
„haben in München eine Elterngruppe gegründet, die – vom Geist der Langau getragen – dafür gesorgt hat, dass wir uns regelmäßig treffen, austauschen und gemeinsam mit unseren Kindern etwas unternehmen und unsere Freizeit gestalten. Diese Gruppe hat uns fast 20 Jahre lang sehr geholfen.“ (Eltern)
Viele Familien dieser Gruppe unternehmen bis heute gemeinsame Ausflüge und Aktivitäten, fahren gemeinsam in den Urlaub oder treffen sich für eine autonom organisierte Begegnungswoche an Ostern in der Langau. Das neue soziale Netz kann den betroffenen Familien in schwierigen Situationen Rückhalt geben sowie Normalität vermitteln. Luise zitiert in ihrem Vortrag auf dem Symposium die Erzählung von Eltern:
„Wenn wir früher in Urlaub waren, glotzten uns immer alle Leute an und es war schrecklich. Heute fahren wir mit der Gruppe und es glotzen immer noch alle, aber es macht mir nichts mehr.“ (Behringer, 2001, S. 8)
Untersuchungen zeigen, dass Reaktionen der Umwelt auf die Kinder, wie verlängertes Hinschauen, aus dem Weg gehen o.ä., noch nach Jahren kränkende Gefühle hervorrufen und den Sonderstatus immer wieder bewusstmachen (Böhm & Kardorff, 1989a). Der Kontakt mit anderen Eltern von Kindern mit Behinderung ermöglicht einen Lebenswelt- und Alltagsbezug, der oft einen entspannteren Umgang mit der Situation der Behinderung hervorruft (Böhm & Kardorff, 1989b). Die Gruppenteilnahme hat insofern eine normalisierende Wirkung, da sie dazu beiträgt den Umgang mit der Behinderung zu normalisieren und die schon immer vorhandene Normalität im Alltag zu stärken. Die Eltern, sowie
„die Kinder – sowohl diejenigen mit Behinderung als auch die Geschwisterkinder [erleben], dass sie normal sind.“ (Eltern)
Normalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, „für die Sondersituation des Lebens mit dem behinderten Kind sowohl entlastende Alltagsroutinen zu finden als auch nach Formen der Anknüpfung an und der Integration in den gesellschaftlichen Normalalltag und die subjektiven Normalitätserwartungen der Eltern zu suchen“ (Böhm & Kardorff, 1989a, S. 45). Die Begegnungswochen in der Langau mit dem Thema „Mit der Behinderung leben“ förderten diesen Prozess. Einerseits rufen sie einen Vergleich mit der Bezugsgruppe Gleichbetroffener, andererseits Maßstabsveränderungen, also die Reflexion über Prioritätssetzungen, hervor. Darüber hinaus kann insbesondere die Ermutigung zu Schwellenüberschreitungen Erfolgserlebnisse evozieren. Schwellenüberschreitungen sind keine drastischen Veränderungen, vielmehr handelt es sich um das Wagen kleiner Handlungserweiterungen in einem geschützten Rahmen. Entsprechend des Erfahrungslernens soll zur Wahrnehmung und Nutzung der eigenen Kompetenzen ermuntert werden. So „bildet der Rahmen eines dritten Ortes […] [ein] Experimentierfeld, um der Normalisierung durch kleine Schwellenüberschreitungen möglichst nahe zu kommen“ (Böhm & Kardorff, 1989a, S. 71).
Im Sinne eines dritten Ortes ermöglichte die Begegnungswoche nach Ostern einen Erfahrungsaustausch für die ganze Familie. Die Eltern beschreiben dies wie folgt:
„Die Langau ist aus vielerlei Gründen ein besonderer Ort. Zum Ersten: Anders sein, auch ein Mensch mit Behinderung zu sein, ist dort normal und vorbehaltlos akzeptiert. Zum Zweiten: Die Langau ist barrierefrei. Zum Dritten: In der Langau ist Begegnung von sehr unterschiedlichen Menschen, die aus völlig unterschiedlichen Lebenszusammenhängen kommen, auf Augenhöhe möglich. Zum Vierten: In der Langau herrscht ein guter, wertschätzender, offener Geist. Zum Fünften: Die Langau ist ein wunderbares Gebäude in einer herrlichen Landschaft; man kann, ja muss sich dort einfach wohlfühlen.“ (Eltern)
Die Begegnungswoche bot den Familien eine Möglichkeit zum Kennenlernen anderer Familien in einer ähnlichen Lebenssituation, zum wechselseitigen Austausch, unabhängig vom Zeitdruck und den familiären Routinen des Alltags. Im Sinne der eigenverantworteten Elternarbeit konnten die Eltern sich untereinander über Themen austauschen, die sie im Alltag belasteten oder anderweitig bewegten. Darüber hinaus konnten die Familien sowie ich Netzwerke bilden, die uns in unserem Alltag abseits der Langau bis heute tragen würden.
Fazit
Luises Affinität für Netzwerke überrascht nicht in Anbetracht ihrer Promotion bei Heiner Keupp und ihrer langjährigen Freundschaft und Zusammenarbeit. Mir stellt sich allerdings die Frage der Wirkrichtung. War Luise schon immer eine gute Netzwerkerin und fühlte sich daher von Keupps Forschungsinteressen angezogen? Beziehungsweise förderte die Zusammenarbeit mit ihm ihre Netzwerkorientierung? Wahrscheinlich zeichnet sich hier ebenfalls eine wechselseitige Beziehung ab. Als eine besondere Gabe von Luise empfinde ich ihre Fähigkeit nachhaltige Netzwerke zu knüpfen, die über ihre physische Anwesenheit hinaus so wirkungsvoll sind. Immer wieder bekomme ich den Eindruck, dass Luise auch heute noch von weitem wirkt und Menschen zusammenbringt, um neue feste Netze entstehen zu lassen. Im Zusammenhang mit den Recherchen für diesen Artikel hatte ich mit einigen ihrer ehemaligen Wegbegleiter*innen Kontakt. Unter anderem mit einer Kommilitonin, mit der ich mich auch auf einen Kaffee traf. Auf Anhieb spürte ich eine Verbindung, die ich mir nur über Luises warmherzige und offene Art und ihre Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen, erklären kann. Erst im letzten Jahr verstand ich diese Stärke in ihrer vollen Tiefe: Egal in wessen Leben sie trat, Luise hinterließ eine Spur. Sie hinterließ eine Verbindung, auch über sie selbst hinaus zu Personen, die schon mit ihr verwoben waren. Sie knüpfte fleißig an einem großen Netz. Von diesem Netzwerk zehre ich und die Familien, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Frühförderung begleitet hat, noch heute.
Endnoten
1. Abgewandelt von „Väter an Bord – Arbeit mit Vätern von Kindern mit Behinderung“ (Behringer, Gmür, Hackenschmied & Wilms, 2019)
2. Lied von Manfred Siebald; ein fester Bestandteil in der Langauer „Arche“, der hauseigenen Kapelle, beim morgen- und abendlichen Singen.
3. Ich betitelte diesen Artikel „Kind an Bord“. Eigentlich könnte ich auch einen Artikel zu „Familie/Umfeld an Bord“ schreiben. Ich habe mich in diesem Zusammenhang für Kind entschieden, weil ich aus meiner Perspektive heraus erzähle.
Literatur
Behringer, L. (2001). Selbsthilfegruppen – Eine Chance für die Erweiterung von Beziehungen. [Vortrag auf dem Symposium Frühförderung „Beziehungen gestalten“].
Behringer, L. (2002). Elterngruppen heute [Overhead-Folien].
Behringer, L., Gmür, W., Hackenschmied, G. & Wilms, D. (2019). Väter an Bord: Arbeit mit Vätern von Kindern mit Behinderung. De Gruyter Oldenbourg. https://doi.org/10.1515/9783110669152
Bildungs- und Erholungsstätte Langau e.V. (o. J.). Über uns. Langau – Einfach Mensch sein. Verfügbar unter: https://www.langau.de/ueber-uns/ [28.11.2024].
Böhm, I. & Kardorff, E. von (1989a). Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Langauer Modell zur Entwicklung und Förderung eigenverantworteter Elternarbeit in der Frühförderung. Institut der Psychologie der Ludwig-Maximilian-Universität München, Abteilung Sozialpsychologie.
Böhm, I. & Kardorff, E. von (1989b). Selbsthilfe entsteht nicht von selbst: Erfahrungen mit eigenverantworteten Elterngruppen im Frühförderbereich. In E. von Kardorff & H. Oppl (Hrsg.), Selbsthilfe und die Krise der Wohlfahrtsgesellschaft (S. 107-129). Minerva.
Forum Gemeindepsychologie (o. J.). Forum Gemeindepsychologie: Startseite. Forum Gemeindepsychologie. Verfügbar unter: http://www.gemeindepsychologie.de/ [14.10.2024].
Klein, C. (2024). In Erinnerung an Luise Behringer. Welle, Sonderausgabe.
Straus, F. (1990). Netzwerkarbeit. Die Netzwerkperspektive in der Praxis. In M. Textor (Hrsg.), Hilfen für Familien: Ein Handbuch für psychosoziale Berufe (S. 496-520). Fischer Taschenbuch.
Ursel, W. (2000). Gelegenheit zur Ermutigung: Angebote am Rande der Frühförderung. Zielgruppenorientierte Arbeit der Langau mit Vätern, Alleinerziehenden, Geschwistern. Frühförderung interdisziplinär, 19, 39-44.
Autorin
Franziska Behringer
behringer@bitte-keinen-spam-ipp-muenchen.de
franziska.behringer@ipu-berlin.de
Franziska Behringer ist M.Sc. Psychologin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am IPP München mit den Schwerpunkten der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Institutionen und der psychosozialen Versorgung Geflüchteter. Darüber hinaus hat sie einen Lehrauftrag an der IPU Berlin zu psychoanalytisch-sozialpsychologischen Zugängen zur Rechtsextremismusforschung.
Webseite: https://www.ipp-muenchen.de/institut/team/franziska-behringer/