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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 21 (2016), Ausgabe 1]

Sexualität ist doch Privatsache, oder? Gibt es nicht auch hochrelevante aktuelle sexualitätspolitische Diskurse, zu denen sich gemeindepsychologische Positionen finden lassen könnten, die eine kritische Reflexion des Verhältnisses zwischen Privatem und Öffentlichem ermöglichen? Zu diesen Fragen versucht die vorliegende Ausgabe eine Standortbestimmung. Das von uns gewählte Verfahren könnte als induktiv bezeichnet werden. Wir fragten in unserem Call for Paper nach Beobachtungen, Episoden, nach bestimmten Konfigurationen im beruflichen Feld, in denen das Thema Sexualität zum Vorschein kommt oder nach Forschung, die sich auf Sexualität bezieht. Die gefundene Auswahl ist selektiv. Sie behandelt Sexualität hauptsächlich anhand der Dimensionen Gewalt und Sexualerziehung. Die Gewaltdimension wird dabei insbesondere als sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Jungen thematisiert. Der Schwerpunkt dieses Heftes hat also etwas mit der Frage zu tun, in welcher Weise Erwachsene die Sexualität Heranwachsender besetzen1. Diese inhaltlichen Akzentuierungen verweisen auf zwei öffentliche Diskurse, die in den vergangenen Jahren zu besonders prominenten Varianten einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Sexualität geworden sind: erstens die Aufdeckung und Skandalisierung zahlreicher Fälle von sexualisierter Gewalt in institutionellen Kontexten (Canisius-Kolleg, Kloster Ettal, Odenwaldschule, ...) und zweitens die Debatte um eine "Sexualpädagogik der Vielfalt" (Tuider et al., 2012), die auf zum Teil hochaggressive Weise mit dem Verweis auf eine "Frühsexualisierung unserer Kinder" vor allem von christlich-konservativen Kreisen attackiert wurde. Gerade das zuletzt genannte Beispiel zeigt, wie eng die Debatte um bestimmte Sexualitätskonzepte nach wie vor mit bestimmten politisch-ideologischen Paradigmen konfundiert ist (isp, 2015). Auch die Perspektive auf sexualisierte Gewalt erfährt - wie die vorliegenden Beiträge zeigen - durch die Offenlegung gesellschaftlicher Herstellungsprozesse wichtige Differenzierungen, wodurch eher geläufige klinische, juristische und viktimologische Sichtweisen hinterfragt werden. Von Bedeutung ist hier etwa eine Reinterpretation des Belastungserlebens Betroffener mit Blick auf (verinnerlichte) gesellschaftliche Stigmatisierungsprozesse und damit assoziierten erhöhten Reviktimisierungsrisiken. Erwachsenensexualität wird im vorliegenden Heft explizit im Zusammenhang mit Krankheit und medizinischer Machbarkeit diskutiert.

Aus den Beiträgen lassen sich aus unserer Sicht wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf die Formulierung einer gemeindepsychologischen Position zu Sexualität ziehen. Im Zentrum stehen dabei (1) ein als emanzipatorisch zu bezeichnender Umgang mit der eigenen Sexualität und der Sexualität anderer, (2) die damit einhergehende bewusste Reflexion gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse, (3) die Anerkennung sexueller Vielfalt, (4) eine Kritik der Instrumentalisierung von Sexualität für Stigmatisierungen (z.B. gegenüber Flüchtlingen oder Betroffenen von sexualisierter Gewalt) und (5) eine Kritik der Bemächtigung von Sexualität durch relevante gesellschaftliche Strömungen, z.B. innerhalb von Medizin, Kirche und Politik.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterUwe Sielert wirft in seinem Beitrag die kontroverse und komplexe Frage auf: Ist Sexualität politisch? In einer Zeit, in der die Gesellschaft ein "anything goes" proklamiert, erscheinen politische und moralethische Einmischungen in die Privatsphäre der Sexualität längst überwunden. Dass Sexualität jedoch immer auch historisch-politisch mitkonstituiert wird, zeigt der Autor in seinem Überblicksartikel.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterBarbara Kavemann problematisiert in ihrem Artikel die Tabuisierung von Sexualität durch einen zunehmenden Gefährdungsdiskurs, den sich bestimmte politische Strömungen (z.B. AfD; "besorgte Eltern") zunutze machen. Dies wird als Risikokonstellation im Zusammenhang mit Reviktimisierungsrisiken bei von sexualisierter Gewalt betroffenen Mädchen diskutiert. Der Artikel ist - feministisch fundiert - ein Plädoyer für eine diskursive Auseinandersetzung über Sexualitätsvorstellungen, die einen Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt zu leisten vermag.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterBernd Christmann greift in seinem Artikel die aktuelle Stigmatisierungsdebatte über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auf. Dabei konstatiert er bestimmte Haltungen gegenüber einer "Sexualität der Anderen" im Kontext fremdenfeindlicher Stereotypisierung. Auf diese Weise wird Sexualität anfällig für rassistische Klischees. Christmann wirft vor diesem Hintergrund die Frage nach Bedarfen unbegleiteter Minderjähriger und der diese betreuenden Einrichtungen auf.

Von besonderem gemeindepsychologischen Interesse ist das Bild des "Opfers", das Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterChrista Paul auf der Folie gesellschaftlicher Zuschreibungen zur Sexualität Betroffener sexualisierter Gewalt skizziert. Die Autorin zeigt, dass Betroffene nicht nur durch die geschehene sexualisierte Misshandlung viktimisiert werden, sondern auch durch spezifische Rollenmuster und Normativitätsvorstellungen, die insbesondere Mädchen und Frauen in Schuld-Scham-Dilemmata verwickeln.

Die Autorengruppe um Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterRetkowski zeigt in ihrer Studie, dass der biographische Hintergrund pädagogischer Fachkräfte Interventionen bei kindlichen sexuellen Handlungen beeinflusst. Damit korrespondiert der Befund, dass in pädagogischen Einrichtungen konzeptionelle Vorstellungen über kindliche Sexualität zugunsten von Aushandlungen auf individueller Ebene vernachlässigt werden.

Die Tabuisierung von Sexualität im Erwachsenenalter beschreibt Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAnja Hermann aus ihrer Perspektive als Psychoonkologin. Die Autorin berichtet, dass das Thema Sexualität bei Brustkrebs nur in einem Handlungs- und Machbarkeitsfokus diskutiert wird, während das einhergehende emotionale Leid der Frauen und deren Partner weitgehend unberücksichtigt bleibt. In der Vorstellung einer biophysikalischen Schulmedizin werden somit Mythen geschrieben, wonach jedes Leiden eine behebbare Störung sei und somit die emotionale Seite häufig ausgeblendet wird. Aus ihrer gemeindepsychologischen Perspektive hinterfragt die Autorin diese Diskrepanz zwischen der Behauptung medizinischer Machbarkeit einerseits und den von betroffenen Frauen geäußerten Unsicherheiten im Zusammenhang mit ihrer Sexualität andererseits.

Insgesamt machen die Beiträge neugierig auf mehr. Die historisch-kulturelle Herstellung von Sexualität könnte zum Beispiel anhand eines "Updates" der Diskussion darüber analysiert werden, wie sie durch aktuelle "Zeiterscheinungen" (Kommerzialisierung, Individualisierung, Beschleunigung, Konkurrenzdruck) beeinflusst wird.

Cornelia Caspari & Peter Mosser
Herausgeber für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

Endnote

  1. Der Begriff "besetzen" bedarf natürlich klarer Differenzierungen. So gibt es zum Beispiel einerseits eine "diskursive Besetzung" der kindlichen/jugendlichen Sexualität durch eine von Erwachsenen durchgeführte Sexualerziehung, während auf der anderen Seite eine Besetzung der kindlichen Sexualität/des kindlichen Körpers im Sinne einer gewalttätigen Bemächtigung in Form sexualisierter Gewalt existiert.

Literatur

Isp (2015). Kampagnen gegen emanzipatorische sexuelle Bildung. Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirats des isp Dortmund. Verfügbar unter: https://www.isp-dortmund.de/downloadfiles/Stellungnahme%20des%20Wissenschaftlichen%20Beirats%20des%20isp_1449823412.pdf [28.03.16].

Tuider, E., Müller, M., Timmermanns, S., Bruns-Bachmann, P. & Koppermann, C. (2012). Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.



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