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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 20 (2015), Ausgabe 2]

Der alte Großvater und der Enkel
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm naß. Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das Schüsselchen nicht fest halten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus mußte er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. 'Was machst du da?' fragte der Vater. 'Ich mache ein Tröglein,' antwortete das Kind, 'daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.' Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mit essen, sagten auch nichts wenn er ein wenig verschüttete.
Gebrüder Grimm (1812)


Jacob Grimm (1785-1863) hielt 1860 nach dem Tod seines Bruders Wilhelm an der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin einen Vortrag über das Alter. Grimm betrachtet darin das Alter als Lebensabschnitt, "der durch die natürliche Ordnung vorgegeben ist und als solcher angenommen und gelebt werden sollte" (Rentsch & Vollmann, 2012, S. 95).

Der Begriff "Alter" ist vielschichtig, nicht nur auf Lebensphasen bezogen. Neben soziologischen und politischen stehen auch psychologische und philosophische Diskurse, von denen zur Einstimmung für diese Ausgabe zwei Perspektiven exemplarisch vorgestellt werden.

Jean Améry (1912-1978, geb. als Hans Chaim Mayer) schreibt in seinem Aufsatz "Der Blick der Anderen" über das "Soziale Altern" und reflektiert über die gesellschaftliche Bedeutung von Sein und Haben im Alter. Er orientiert sich an der Frage, wie der alternde Mensch von außen gesehen wird. Niemand frage mehr "Was wirst du tun? Alle stellen fest, nüchtern und unerschütterlich: Das hast du schon getan. Die Anderen, so muß er erfahren, haben Bilanz gezogen und ihm einen Saldo vorgelegt, der er ist" (Améry, 2012, S. 143). Unsere Welt des Habens bestimme das soziale Altern wesentlich mit. Améry weist aber auch auf das "Faktum des Körpers - des hinfälligen Körpers in diesem Falle" hin (ebd., S. 153). Man werde im Alter nicht schöner, sondern hässlich, diese Erkenntnis impliziere eine Entwertung des Altersprozesses. Améry zeigt Aspekte des sozialen Alters, wenn Menschen mit ihrem jeweiligen realen Alter von der Gesellschaft für "jung" oder "alt" gehalten werden. Eine positive Einstellung wäre nach Améry ein würdiges und klagloses Altern, weil beim Versuch, jung zu bleiben, das veränderliche Sein ausgeblendet werde (ebd., S. 154-156). Zuletzt resümiert er, dass der alternde Mensch "die Negation durch den Blick der Anderen zu seiner Sache" macht "und sich gegen sie erheben" könne. Das heißt, durch sein selbstbestimmtes individuelles Sein bewahrt der alternde Mensch seine Würde, ungeachtet dessen, wie die Gesellschaft sein Leben beurteilt, sei es als Mensch im Narrenhaus oder als Künstler oder als "normal" (vgl. ebd., S. 157-158). "Das ist seine Chance und ist, vielleicht, die einzige Möglichkeit, wahrhaft in Würde zu altern" (ebd., S. 158).

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist der Umgang mit dem Altern nicht nur eine Frage der Würde, sondern in ihm werden auch die Grenzen einer stark individualisierten und einseitig auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft sichtbar. Die Autoren Böhnisch und Schröer (2011) beschreiben "die gesellschaftliche Rückkehr des Alters", weil die im letzten Jahrhundert begonnene zunehmende Überalterung der Gesellschaft in Europa uns heute mit dem Alter vehement konfrontiert. Zuvor war das Alter "aus dieser Fortschrittsformel ausgeschlossen", weil in der Beschleunigungsdynamik der neuen Technologien Alterserfahrung als out und jugendliche Risikobereitschaft als in galten (vgl. Böhnisch & Schröer, 2011, S. 108). Die demografische Entwicklung in Richtung Überalterung wirke wie ein Schock, auch wenn es den älteren, finanziell besser gestellten Menschen gelingt, in der Konsumgesellschaft den Faktor "Alter" noch etwas auszubremsen. Der folgende Hinweis auf ein sozialgerontologisches Paradox klingt wie der klassische Abwehrmechanismus der Verdrängung: "Dass jemand alt geworden ist, abbaut, sieht man meist nur bei den anderen, will es aber bei sich selbst nicht sehen. Auch solche Selbsttäuschungen werden über den Konsum vermittelt" (ebd., S. 109). Was passiert da eigentlich? Gesellschaftlich werden alten Menschen nur noch wenige soziale Rollen und Funktionen zugestanden. Im Wesentlichen sind es folgende drei Rollen: als Großeltern, die die Verfügbarkeit der Eltern für den Arbeitsmarkt sichern helfen, als Konsumenten, die die Wirtschaft stärken, und als bürgerschaftlich Engagierte, die sich bei der Gesellschaft für die Befreiung aus dem Arbeitsleben bedanken.

Für betagte und hochbetagte Menschen stellen sich altersspezifisch neue Aufgaben und Herausforderungen: Sie müssen sich entscheiden, welche ihrer Pläne sie noch verwirklichen wollen, ein Aufschieben auf später erscheint zunehmend als riskante Strategie. Gleichzeitig erfordert die körperliche Konstitution eine Neujustierung des Verhältnisses von Aktivität und Ruhe. Außer individuell zu betrachtenden Rollenzuschreibungen eröffnet die Debatte über Alter und Altern auch Zeitperspektiven, die biografisch und anthropologisch von Bedeutung sind:


"Wenn das Alter als Hüter der Zeit, als Ort der Entschleunigung und Mittler der Nachhaltigkeit gesellschaftlich anerkannt und hofiert wird, fällt dabei auch einiges für die älteren und alten Menschen selbst ab: Lebenssinn und gesellschaftliche Teilhabe über den familialen Großelternstatus hinaus. So kann auch der Graben zwischen Gesundheit und Gebrechlichkeit überwunden werden, wenn wir in dieser neuen Sicht auf das Alter erkennen, dass sich das Leben in seiner Gefährdung und Bewältigung genauso im Gebrechlichen widerspiegelt wie im Gesunden" (ebd., S. 110-111).


Bei der gemeindepsychologischen Position geht es um genau diese Vielfalt von "Alter" und "Altwerden". Individuelle und gesellschaftliche Perspektiven sind miteinander verschränkt und fordern eine differenzierte Analyse. In diesem Sinne setzen sich die Autoren und Autorinnen mit ihren Beiträgen in dieser Ausgabe "Forum Gemeindepsychologie" mit dem Alter/n auseinander.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHeiner Keupp eröffnet diesen auf das Alter fokussierten gemeindepsychologischen Diskurs mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel seit der Nachkriegszeit. Anhand identitätsrelevanter Thesen beleuchtet er die derzeitigen gesellschaftlichen Umbrüche. Ausgehend von der Generation seines Großvaters und seiner eigenen Biografie skizziert er die Entwicklung neuer Dimensionen des Älterwerdens und der gesellschaftlichen Konfrontation damit. Wie sieht Identitätsarbeit im Alter aus, um den Anforderungen der reflexiven Moderne gewachsen zu sein? "Konjunkturzyklen von Alterskonstruktionen" leiten über zur Identitätsarbeit, die auch im Älterwerden nie abgeschlossen und im gesellschaftlichen Strukturwandel ständig gefordert sein wird.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterSandra Wesenberg konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die "Schreckensdiagnose" Demenz. Sie stellt einen Überblick der aktuellen Forschung über Demenzerkrankung vor. Demnach dominiert im Fachdiskurs die medizinische Position: Angst vor kognitiven Verlusten und weiteren Defiziten prägen das Demenzverständnis. Die derzeitige Demenzdiskussion "bleibt stark dem Fixpunkt der Kognition verhaftet" zitiert die Autorin. Sie selbst favorisiert biopsychosoziale Perspektiven, um das Phänomen der Demenz und davon betroffene Menschen in gesellschaftliche und persönliche Lebenswelten anders einbetten zu können.

Was steckt hinter der Formulierung "soziale Platzanweisung?" In Bezug auf Foucaults historische Rekonstruktion subjektiven Verhaltens und der Verschränkung mit der gelebten Kultur (als These) befasst sich Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterUlrike Steinforth mit verschiedenen aktivitätsbetonten Bildern über Alter und Altern. Kritisch reflektiert die Autorin ihr Datenmaterial aus Interviews mit Kursteilnehmer_innen von Gedächtnistrainingskursen. Aktives Handlungspotential der Betroffenen soll "im Interesse der Gemeinschaft" bis ins hohe Alter erhalten bleiben, biologische Abbauprozesse verhindert und vorhandene Kompetenzen gefördert werden. Wer an welchem Kurs teilnehmen kann und darf, basiert unter anderem auf Zuordnungen von "gesund", "mental fit" oder "krank". Letzteres bedeutet Verdacht auf Demenz, womit eine Person nicht mehr als "rational zurechnungsfähiges Subjekt anerkannt" wird. Dahinter scheint eine Trennung zwischen "würdigen" und "unwürdigen" Gruppenmitgliedern stattzufinden.

In der Kategorie Varia findet sich in dieser Ausgabe ein Beitrag von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAndreas Lange. Er untersucht in seinem Artikel mit dem Titel "Ende der Moderne - Ende der Zeiten? Individuelle und gesellschaftliche Formen des Umgangs mit temporalen Verwerfungen" die Zeit im Kontext der Beschleunigung. Neben der Präsentation von verschiedenen Zeitkonzeptionen wird eine "Logik der Rationalisierung", die in die "Materie der Narration" eindringt, wie zum Beispiel im Roman, gezeigt. In Zeiten von modernen Zeitregimes verändern sich die Qualität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die "Pluralität komplexer zeitlicher Strukturen und Handlungsnotwendigkeiten" schafft neue Anforderungen für die Bildung. Eines der anzustrebenden Ziele im Sinne von Lebensqualität könnte "Zeitwohlstand" mit "autonom verfügbarer Zeit" sein.

"Zeit, Rhythmen und Menschen" im Spiegel der spätkapitalistischen Gesellschaft wie von Lange anthropologisch und soziologisch beschrieben, könnten einen Bezug zum subjektiven Zeitverständnis "im Lichte des Alters" herstellen. Welche Differenzen zeigen sich? Was bedeuten veränderte Qualitäten beziehungsweise Bedeutungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wenn wir die Zeit und unsere Lebensbezüge neu in Frage stellen müssen?

Wir freuen uns auf viele Leseechos, kritische Rückmeldungen und auf eine spannende gemeindepsychologische Diskussion. Viel Spaß beim Lesen!

Edith Köhler & Mike Seckinger
Herausgeber für das Redaktionsteam Forum Gemeindepsychologie

Literatur

Améry, J. (2012). Der Blick der Anderen. In T. Rentsch & M. Vollmann (Hrsg.), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen (S. 141-158). Stuttgart: Philipp Reclam jun.

Böhnisch, L. & Schröer, W. (2011). Die gesellschaftliche Rückkehr des Alters. In L. Böhnisch & W. Schröer (Hrsg.), Blindflüge. Versuch über die Zukunft der Sozialen Arbeit (S. 108-112). Reihe Zukünfte, Band 1. Weinheim, München: Juventa.

Brüder Grimm (1812). Der Alte Großvater und der Enkel. In Brüder Grimm (Hrsg.), Kinder- und Hausmärchen (KHM 78, S. 355-356). 1. Ausgabe, Band 1. Berlin: Realschulbuchhandlung.



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