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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 13 (2008), Ausgabe 2]



Gemeindepsychologische Forschung und Praxis in der Diskussion – Theoriebildungsprozesse und Forschungsimplikationen


"Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch.
Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen,
finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis
und in dem Begreifen dieser Praxis." (Thesen zu Feuerbach, 8)
1



Folgt man Erfahrungsberichten aus der psychosozialen Praxis und Reflexionen dieser Praxis, so ist Widerspruchserleben keine Ausnahme, sondern Alltag gemeindepsychologisch orientierter Arbeit. Wollen wir derzeitige strukturelle Bedingungen in gesundheits- und psychosozialer Versorgungspraxis, in Arbeits- und Alltagskultur nicht als alternativlos annehmen, so erscheint es grundlegend, diese Widersprüche mitzudenken, sie zu analysieren und mit ihnen zu arbeiten.

Ausgangspunkt für die aktuelle Ausgabe des Forums Gemeindepsychologie waren daher Überlegungen zum Verhältnis von gemeindepsychologischer Forschung und Theoriebildung sowie einer Annäherung von Konzeptarbeit und Handeln in der psychosozialen Praxis.

Wir fragten uns: Welche Impulse liefern konkrete Praxiserfahrungen für die Entwicklungen in der Wissenschaft? Gibt es Beispiele für eine gute Übersetzung theoretischer Überlegungen in praktische Zusammenhänge?

Gemeindepsychologie verweist als Fach und Haltung darauf, dass psychologische Praxis nicht als theoretisch "eingesperrt" verstanden werden muss. Deshalb suchten wir nach Beispielen für Praxisforschung und reflektierte (Weiter-)Bewegung wissenschaftlicher Praxis. Die Besonderheit einer solchen Praxisforschung, von Bourdieu als Praxeologie bezeichnet, liegt gerade darin, Begriffe, Theorien oder Methoden nicht definitorisch festzuklopfen, sondern sie für einander produktiv zu machen und in dauerhafter Bezugnahme zum jeweiligen Gegenstand weiterzuentwickeln. Daher ist nicht erst das Ergebnis von Interesse, sondern bereits die besonderen unternommenen Anstrengungen, das Ringen um wechselseitige Entwicklung.

Damit ist das Spannungsverhältnis und -feld beschrieben, welches sich im Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis einerseits und dem Widerspruchserleben bei der Bewegung im psychosozialen Feld andererseits auftut. Die Gemeindepsychologie ist gefordert, konsequent individuelle Problemlagen auf gesellschaftliche/ sozialpolitische Prozesse und Rahmenbedingungen rückzubinden, zu diskutieren und theoretisch zu reflektieren.

Mit dieser Perspektive erscheint es als eine fruchtbringende Herangehensweise nicht nur in, sondern mit den Widersprüchen zu arbeiten.

Die vier Artikel der vorliegenden Ausgabeverstehen wir als ein Angebot, die Diskussion über dieses Wechselverhältnis zu bereichern: Aus der Perspektive psychotherapeutischer Praxis, von Praxisforschung und einer theoretischen Annäherung an gemeindepsychologische Begriffe und Projekte zeigen die Autorinnen und Autoren Widersprüche auf und diskutieren der Reflexion dieser Widersprüche innewohnende Erkenntnismomente. Zentrale gemeindepsychologische Begriffe, wie z.B. Empowerment, und Konzepte wie Selbsthilfe stehen zur Debatte.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterKlaus Leferink arbeitet seit acht Jahren im Berliner Bezirk Tempelhof als niedergelassener psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie). Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Vortrag, der aus Anlass der Emeritierung von Prof. Dr. Manfred Zaumseil auf dem Symposium "Ein Mosaik professioneller Biographien – Das Anregungspotential des praxisbezogenen Universitätssettings Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Freien Universität Berlin" im März 2008 in Berlin gehalten wurde.2
Klaus Leferink möchte diesen Artikel als Versuch verstanden wissen, die eigene praktische Arbeit zu reflektieren und zugleich Möglichkeiten qualitativer Forschung aus der Position eines niedergelassenen Therapeuten auszuloten. Dabei wirft er die Frage auf, warum aus dem Wirkungsfeld der Psychotherapie, bei ihrem vergleichsweise privilegierten und umfassenden Zugang zur sozialen Wirklichkeit, erstaunlich wenige Ansätze zu einer sozialwissenschaftlich-psychologischen Theoriebildung entstehen. Mit einer qualitativen Forschungsstrategie sucht er basale Konstituenten des subjektiven Lebensgefühls seiner Klienten. Dabei entwickelt er die Kategorien "Bleiben", "Warten" und "Aufheben" und diskutiert deren Passung zu verschiedenen Aspekten der sozialen Umwelt. Das Lebensgefühl und Handeln der Klienten steht, wie der Autor herausarbeitet und diskutiert, im Widerspruch zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft als flexibel, mobil und dynamisch. Er schlägt daher als übergreifendes Thema qualitativer Forschung im Bereich der Psychotherapie die Identitätsentwicklung unter den Bedingungen einer ambivalenten Moderne vor.

Eine weitere Dimension im Theorie-Praxis Verhältnis eröffnet der Beitrag von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterHans Dietrich Engelhardt, Alf Trojan und Stefan Nickel: Mit ihrem Plädoyer für eine "grundlegende" Forschung zu Leistungen von Selbsthilfegruppen verweisen sie auf die Notwendigkeit von Erforschung und Begutachtung mit dem expliziten Ziel, Sinnhaftigkeit und Nutzen von Selbsthilfeangeboten belegen zu können.
In ihrer Zusammenstellung der Leistungen von Selbsthilfegruppen aus verschiedenen Studien zeigt sich, dass Selbsthilfegruppen als funktionale und strukturelle Innovation beschrieben werden können, welche die entstandene Lücke zwischen professionellen und karitativen Organisationen einerseits und den primär-sozialen Systemen andererseits schließen. Mit der Kombination von persönlicher Nähe, Fokussierung auf das jeweilige Problem und ganzheitlicher Lebensweltorientierung verbinden die Selbsthilfegruppen und andere Formen der Selbstorganisation Elemente primärer Sozialgebilde mit denen von professionellen Einrichtungen und entwickeln so neue Zugangsweisen zur Bewältigung schwerwiegender Belastungen.
Gleichzeitig beanstanden die Autoren, dass es derzeit keine konsistente Klassifikation oder Operationalisierung von Leistungen der Selbsthilfezusammenschlüsse gibt. Eben diese ist allerdings dringend notwendig, um eine Legitimierung auf ökonomischer und politischer Ebene zu erreichen, und damit eine Chance zur Förderung und Weiterentwicklung von Selbsthilfe zu eröffnen. Hier wird sichtbar – zurückkommend auf das Theorie-Praxis-Verhältnis – wie wichtig und unterstützend (Praxis)Forschung mit ihrer großen Reichweite auf gesellschaftspolitischer Ebene für die Praxis ist.

Die Frage nach der Legitimität von Selbsthilfe zeigt sich deutlich im somatisch-medizinischen Kontext, wie Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterLuisa Nitsch am Beispiel eines Projektes zeigt, das den Versuch unternimmt, Selbsthilfe für und mit Menschen, die an der seltenen Turmorerkrankung Desmoid leiden, und ihren Angehörigen aufzubauen. Die Betroffenen haben bisher allein die Erfahrung der Sozialisation in die Patientenrolle gemacht. Sie und ihre Angehörigen werden, wenn ihre Neugier und ihr Interesse geweckt werden konnte, von der Autorin darin unterstützt, im Aufbau der Selbsthilfe sos-desmoid neue Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung und dem medizinischen Versorgungssystem zu machen. Das Projekt war zunächst als universitäres Praxisforschungsprojekt angelegt und untersuchte, inwieweit im Sinne von "to give power" Empowerment förderliche Bedingungen geschaffen werden können, um Selbsthilfe als eine Möglichkeit aktiv zu werden überhaupt erst ins Bewusstsein der Betroffenen zu bringen. Seit der Entscheidung einer Gruppe von Betroffenen für die Gründung der Selbsthilfe sos-desmoid begleitet Luisa Nitsch den Aufbau und die Entwicklung. Von Professionellen initiierte Selbsthilfeprojekte bringen spezifische Herausforderungen und Problematiken mit sich. Die Autorin orientiert und reibt sich am Empowerment-Konzept und versucht so nicht aus den Augen zu verlieren, dass sie als Geburtshelferin angetreten ist, wie Bourdieu die Arbeit von Forschenden beschreibt.3 Sie fragt sich, warum eine längerfristige Begleitung gewünscht wird und inwieweit dann das Empowerment-Konzept noch immer die angemessene Orientierung bietet.

Im Interview mit Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterSaúl Fuks, Professor für klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Universidad Nacional de Rosario in Argentinien, findet sich ein Einblick in die gegenwärtigen Entwicklungen der Gemeindepsychologie in Argentinien und Lateinamerika sowie in eine Diskussion um die wechselseitige Befruchtung zwischen der akademischen Welt und der beruflichen Praxis. Das Thema der wechselseitigen Nutzbarmachung von Erkenntnissen und Erfahrungen findet sich also allerorten.
Seine Ausführungen zeigen, dass die Gemeindepsychologie mit ihrem Reflexionsrahmen eine wachsende Attraktivität für Praktikerinnen und Praktiker darstellt. Gleichzeitig verortet Saúl Fuks gemeindepsychologische Arbeit klar als politische Arbeit. Mit dieser Bekundung wird noch einmal deutlich, wie notwendig es ist, Widersprüche mitzudenken, zu analysieren und daraus Anregungspotentiale zu formulieren.

Die Redaktion ist der Meinung, dass zu wenig Artikel veröffentlicht werden, in denen Widersprüche in der psychosozialen Arbeit detailliert angesprochen und damit als Diskussionsgrundlage angeboten werden. Wir verstehen insbesondere den Beitrag von Luisa Nitsch als Einladung, ausgehend von konkreten Praxiserfahrungen, nach angemessenen Reflexionsrahmen zu suchen. Mit diesem Beispiel möchten wir zu einer Diskussion um die Tauglichkeit des Empowerment-Konzepts anregen. Wir laden Sie bzw. Euch, liebe Leserinnen und Leser, ein, in den folgenden Ausgaben des Forum Gemeindepsychologie im gemeinsamen Erfahrungsaustausch die gemeindepsychologische Diskussion des Verhältnisses von Theorie, Forschungsansätzen und Praxiserfahrungen fortzusetzen. Wir erwarten mit Spannung Ihre/Eure Beiträge!

Asita Behzadi & Anja Hermann


Anmerkungen

1 Die Thesen über Feuerbach wurden von Karl Marx 1845 niedergeschrieben. Hier aus: Marx-Engels-Werke (1996), Band 3 (S. 533 ff), Berlin: Dietz Verlag.
2 Die Redaktion nutzt die Gelegenheit, Manfred Zaumseil nachträglich noch einmal herzlich zum 65.Geburtstag zu gratulieren!
3 Vgl. Pierre Bourdieu et al. (dt. Ausgabe 1997). Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH.

 



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