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Editorial

[Forum Gemeindepsychologie, Jg. 14 (2009), Ausgabe 1]


Vom schönen Leben. Hintertreppen für Sinnstiftung und Anerkennung

Begriffe wie Partizipation und Empowerment haben heute in unterschiedlichen fachlichen, politischen und auch wirtschaftlichen Diskursen Konjunktur. Im Kontext der Gemeindepsychologie sind diese Konzepte in der Auseinandersetzung um die Stärkung von Selbstbestimmung und emanzipatorischen Entwicklungen entstanden. Als Leitbegriffe sollten sie unter anderem dazu beitragen, individuelle Sinnstiftung und soziale Anerkennung auch für Menschen in schwierigen gesellschaftlichen Lagen zu ermöglichen. Soweit die Theorie, die Praxis sieht oft anders aus: Begriffe wie Empowerment und Partizipation werden umgedeutet und häufig in den Dienst von Ökonomisierung und Standardisierung der psychosozialen Arbeit gestellt. Die „Rück-Eroberung“ dieser zentralen Begriffe der Gemeindepsychologie ist das Anliegen dieser Ausgabe von Forum Gemeindepsychologie. Im Mittelpunkt stehen Beiträge, die im Rahmen der Jahrestagung der GGFP am 13./14.6.2008 in Berlin entstanden sind. Im Titel der Jahrestagung „Vom schönen Leben. Hintertreppen für Sinnstiftung und Anerkennung“ konnte man – angesichts der beschriebenen Situation, in der sich psychosoziale Praxis befindet – durchaus ein Augenzwinkern entdecken. Mit dem Begriff der Hintertreppe sollte auf manchmal verborgene Umwege und Alternativen zur „offiziellen“ Praxis hingewiesen werden:


„Auf der Hintertreppe finden (meist übersehene) Entwicklungen statt, dort kommt es oft zu kreativen Lösungen und Improvisationen. Es gibt ein Leben zwischen den Therapiesitzungen, im Lebensalltag, nicht unbedingt in einer Betreuung. Die Hintertreppe ist ein Möglichkeits- und Handlungsspielraum, durchaus auch im Dialog und gemeinsamen Handeln mit den Profis – nicht nur, um sich innerhalb der bestehenden, wahrgenommenen Grenzen ein „schönes Leben“ zu ermöglichen, sondern hier kann auch eine Aktivierung/Belebung und Reflektion gesellschaftlicher Veränderungsprozesse keimen.“ (Einladung zur Tagung)


Ausgehend von Projekten der psychosozialen Praxis und Erfahrungen von „Betroffenen“ und „Profis“ wurden auf der Tagung Wege zum schöneren Leben über Hintertreppen gesucht und beschritten. Die Teilnehmer/innen beschäftigten sich mit den Fragen, wie es angesichts der bestehenden Verhältnisse gelingen kann, den Ausstieg aus betreuter Fürsorglichkeit zu organisieren, Sinn und Bedeutung zu entfalten, handlungsfähig zu werden und Anerkennung zu finden. Die angebotenen Workshops vertieften die Auseinandersetzung um diese Fragen in den Schwerpunktthemen Psychiatrie, Migration, Obdachlosigkeit und Leben im Heim jeweils aus der Perspektive von Professionellen und Betroffenen. Jenseits der ausgetretenen Pfade der psychosozialen Versorgung begaben sich Nutzer/innen, Praktiker/innen und Theoretiker/innen auf die Suche nach Prozessen von Empowerment und Partizipation.

Als Tagungsteilnehmer/innen und Herausgeber/innen dieser Ausgabe freuen wir uns besonders, einen Tagungsvortrag und zwei Werkstatttexte in dieser Ausgabe veröffentlichen zu können. Insbesondere die Werkstatttexte vermitteln eindrucksvoll die Entwicklung von zwei Workshops und verdeutlichen anschaulich das Besondere dieser Tagung: die Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Nutzer/innen, Praktiker/innen und Theoretiker/innen. Inhalt und Form der Texte beleuchten und reflektieren die Spannung der offenen Begegnung und die Bedeutungsvielfalt des Begriffs der „Hintertreppen“. Sie heben nicht nur das in der Begegnung liegende Unterstützungspotenzial hervor, sondern auch die mühevollen Seiten der Hintertreppen und die Schwierigkeiten auf dem Weg des schöneren Lebens.

Der erste Artikel dieser Ausgabe von Forum Gemeindepsychologie war einer der Eröffnungsvorträge der Tagung. Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterOlaf Neumann diskutiert unter dem Titel „Professionalität auf der Hintertreppe oder von der Aufgabe der Expertenrolle“ anhand der Sozialpsychiatrie die verschiedenen Rollen des Professionellen im psychosozialen Feld. Er plädiert für eine Aufgabe der Expertenrolle im Sinne des medizinisch-psychologischen Modells. Stattdessen beschreibt er Möglichkeiten, aber auch Widersprüche einer dialogischen Beziehung zwischen Professionellen und Betroffenen.

In ihrem Beitrag „Gelebte Hintertreppe“ – oder was aus Forschung werden kann“ schildern Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterBeate Nothnagel, Rubina Vock und Ursula Füller unter Mitwirkung der Workshopteilnehmerinnen Petra Berlan und Ramona Sternitzke die Diskussionen des Tagungs-Workshops „Leben im Heim“. Sie rekonstruieren darüber hinaus die von dem 2004 stattgefundenen Forschungsprojekt „Bestandsaufnahme der Unterbringung chronisch psychisch kranker Menschen aus Berlin in Heimen – Steuerung und Betreuungsqualität“ ausgehende Entwicklung als eine gelebte Hintertreppe der Forschung, die über das Fortbestehen gemeinsamer Bezüge und Auseinandersetzungen zu gegenseitiger Anerkennung und Sinnstiftung führte.

Der Artikel „Wege aus psychotischen Krisen jenseits der psychiatrischen Versorgung – Gedanken zum Verhältnis von Vorder- und Hintertreppen“ wurde von Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterSebastian Bowe, Kristina Fischer, Anja Hermann, Heinke Möller, Olaf Neumann, Rolf Ruszetzki sowie Antje Müller verfasst: Die Teilnehmer/innen dieses Tagungsworkshops haben sich nach der Tagung zu einer Schreibwerkstatt mit dem Ziel zusammengeschlossen, die im Workshop vorherrschende Gesprächskultur in einen dialogischen Text zu übersetzen. Der Text bündelt Diskussionen und Reflektionen zur Auseinandersetzung und Bewältigung von psychotischen Krisen aus den verschiedenen Perspektiven und fragt danach, welche Antworten auf die Bedürfnisse von Mensch in Krisensituationen auf den Vordertreppen (in Gestalt des Psychologiestudiums oder der psychosozialen Versorgung) gegeben werden können.

Zwei weitere, von der Tagung unabhängige Beiträge beschäftigen sich mit dem Themenbereich „Migration“. Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterGaby Straßburger und Meryem Ucan stellen sozialraumorientierte Treffpunkt-Angebote in Stadtteilen mit ausgeprägter ethnischer Vielfalt als wichtige Anlaufstellen für Heiratsmigrantinnen vor. Mit Hilfe der Netzwerktheorie lässt sich die Bedeutung dieser psychosozialen Angebote als einzige außerfamiliäre Kontakte eindrücklich nachvollziehen. Im Sinne der Integration und der Autonomie der Frauen sind diese Angebote unverzichtbar.

Öffnet einen internen Link im aktuellen FensterAnke Bay, Magdalene Beck, Irmgard Teske und Bertram Szagun stellen Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum „Kohärenzgefühl von Asylsuchenden in Deutschland“ vor: Die Untersuchung fragt zum einen, inwieweit und in welchem Ausmaß Flüchtlinge und AsylbewerberInnen, die aufgrund ihrer Lebenssituation mit enormen Belastungen konfrontiert sind, ein Kohärenzgefühl entwickeln können, und stellt Vergleiche zu anderen Untersuchungsgruppen an. Zudem wird reflektiert, inwieweit das Salutogenese-Konzept Antonovskys transkulturelle Gültigkeit beanspruchen kann.

Wir wüschen allen Lesern und Leserinnen viel Vergnügen bei der Lektüre der Texte.

Christine Daiminger und Ralf Quindel



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